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Full text of "Kirchenmusikalisches Jahrbuch 23.1910"

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Am 17. Januar 1910 jtarb nach kurzer Krankheit 



Kgl. Geheimer Kommerzienrat und Vertagsbuchhändler, 

Typograph; des Heil. Äpoßolifd)en Stuhles. 

Schwer ift der Verlust, den die Musica sacra 
durch das Hinßheiden dtefes hervorragenden Mannes 
erlitten hat. Mit weitausfdjauendem Blick ßand er an 
der Wiege der kirchenmupkalifchen Reform und ver¬ 
wirklichte mit opferfreudigem Herzen die hohen Ideale 
eines. Proske und Witt durch Verlagsübernahme ihrer 
literarifdjen Unternehmungen. Außer der „Musica di- 
vina“, den „Fliegenden Blättern für katbol. Kirchen- 
mupk“ und der „Musica sacra“ verdankt ihm auch 
das aus dem „Cäcilienkalender“ hervorgegangene 
„RfrcbenmufiiHjilf&e jabrbueb“ feine Entßehung 
und Unterftütjung; der glückliche Fortbeßand desfelben 
iß eine Frucht feines energifchen Willens. Was er als 
Chef der Weltfirma Puftet, befonders auf liturgifchem 
Gebiete, in den langen fahren feines raßlofen Schaffens 
und Wirkens geleiftet, hat wiederholt die Anerken¬ 
nung von Kirche und Staat gefunden; die fdjönfte Gabe 
aber für den Edelmann im watjrßen Sinne des Wortes 
ßnd die Blumen der Dankbarkeit, mit denen die Armen 
und Hilfsbedürftigen das Grab ihres Wohltäters 
fd)mücken. Mit der Gefehkbte der katbolißhen Kirchen- 
muflk wird fein Name dauernd verknüpft bleiben. 

R. T. P, 


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Vorwort 



D ie wiffenßhaftlichen Auffätje des I. Teils berückßd)tigen diesmal 
Bayern, Frankreich und Böhmen. 3 war bat der italienifche Prießer 
und fpätere Bifdjof Steffani verfchiedenen Ländern die Spuren feiner 
diplomatißhen und künßlerißhen Tätigkeit aufgedrüdct, aber dennoch darf 
die Zeit feines Münchener Aufenthalts (Idjer mit zu der intereffanteften 
feines reichbewegten Lebens gerechnet werden, wie die vom Verfaffer 
forgfältig erforfdjten bayerifchen und römifchen Quellen aufweifen. Nicht 
minder wichtig ift für Deutfdjland die Bekanntßhaft mit dem fchon faft 
vergeffenen Mei|ter des franzöpßhen klafpßhen Orgelfpiels, JeanTitelouze; 
und was von Böhmens liturgißh - mupkalißhen Schäden der verdiente 
t fjymnenforßher Dreves in feinen Cantus bohoem. in den Kreis der 
Betrachtung gezogen, wird nach größtenteils unbekannten Handfchriften 
erweitert und vertieft. 

Die Erfchließung und Verwertung der koßbaren Proskefchen Mupk- 
Bibliothek in Regensburg durch die Munipzenz Sr. Exzellenz des H. H. 
Bißhofs Dr. Antonius von Henle, und des H. H. Domkapitels iß in der 
mußkwiffenßhaftlichen Welt überall mit Freude und Dank begrüßt worden. 
Leider ließ pch die beabßd)tigte Publikation des Katalogs der fog. „Antiqui- 
tates Ratisbonenses“ für diefen Jahrgang nicht mehr bewältigen und mußte 
daher nebß einer Beßhreibung der Bibliothek für den 24. Jahrgang zurück- 
geßellt werden; ebenfo wegen Raumüberßhreitung eine ßilkritißhe Studie 
über „Messe und Madrigal bei Palestrina“. 

Im II. Teilpnden pd) auch diesmal eine Reihe von „Kleinen Beiträgen“ 
niedergelegt, die den praktißhen Kirchenmupkern befonders des Allgemeinen 
Cäcilienvereins dienen follen. Der III. Ceil endlich unterrichtet in Referaten 
und Kritiken, die manchen neuen Baußein zu den befprod>enen Werken 
liefern. 

Mit warmem Dank darf die Redaktion auch heuer wieder der edel¬ 
mütigen Unterßütjung der Görres-Gefellßhaft gedenken. 

Regensburg, am Feße Gregors des Großen 

Der Herausgeber 


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flgostino Steffani 

Biographische Skizze von Dr. Alfred Einstein—München 


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I. Münchener Zeit. 1654—1688. 

Quellen 

D ie archivalischen Quellen für die Biographie Agostino Steffanis sind, ent¬ 
sprechend seinem wechselvollen Leben und der weiten Verzweigung 
seiner Beziehungen, lückenhaft und weit zerstreut. In München verwahrt 
das Kgl. Hausarchiv, das Kgl. Allgemeine Reichsarchiv, und in dem Personal¬ 
akt Steffanis das Kgl. Kreisarchiv einige wertvolle Aktenstücke. Daneben ent¬ 
halten die ebenfalls im Kreisarchiv aufbewahrten Hofzahlamtsrechnungen 
einige karge Eintragungen, die durch Zahlbücher und andere Belege im Kgl. 
Kreisarchiv in Landshut ergänzt werden. Eine weit ergiebigere Fundgrube 
ist das Kgl. Geheime Staatsarchiv, dessen schwarze Abteilung manchen Bei¬ 
trag zu Steffanis Münchener Zeit liefert, während die blaue Abteilung vornehm¬ 
lich einen sehr umfangreichen, jedoch nicht vollständig erhaltenen Briefwechsel 
Steffanis mit Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz bewahrt, der für diesen 
Teil der Lebensgeschichte Steffanis jedoch geringe Ausbeute liefert. 

Unter den römischen Fundorten nimmt die erste Stelle das Archiv der 
Congregazione de Propaganda fide ein, das nicht nur die regelmäßigen Berichte 
Steffanis an die Propaganda, sondern auch einen großen Teil seiner Nachla߬ 
papiere birgt Wie diese bändereiche Korrespondenz sich von den in den 
hannoveranischen Archiven — Staats- und katholisches Pfarrarchiv — ver¬ 
wahrten Akten getrennt hat und nach Rom gewandert ist, habe ich an an¬ 
derer Stelle berichtet') Neben dieser Quelle kommt das vatikanische Archiv 
und die vatikanische Bibliothek kaum in Betracht 

Diese Münchener und römischen Akten sind es, die für die vorliegende 
Skizze benützt worden sind. Weder die hannoveranischen Akten, die nach 
einigen von Woker gebotenen Proben*) manches, auch die künstlerische 
Wirksamkeit Steffanis erhellende Material darbieten müsse*), noch die in einer 
großen Zahl von deutschen und ausländischen Archiven und Bibliotheken 
zerstreuten Korrespondenzen Steffanis habe ich gesehen. Danach bedarf es 
nicht der Betonung, wie sehr diese biographische Skizze der Ergänzung und 
Verbesserung bedürftig ist Dennoch hielt ich es für nützlich, wenigstens 
einen Teil meiner Arbeit einmal zum Abschluß zu bringen, die über Steffanis 
frühere Lebenszeit bekannten Tatsachen mit einigen neuen zu einem Ganzen 
zu vereinigen, und, zumeist durch Wiedergabe der Dokumente, das Gerüst 
für eine umfassendere Lebensbeschreibung des Künstlers zu liefern, die fast 


') Zeitschrift der Internationalen Musik-Gesellschaft X, 6. 

*) In einer kurzen Lebensbeschreibung Steffanis in der Zeitschrift „Der Katho¬ 
lik“, 1887. 

Klrchcanoalk. Jahrbuch. 23. Jahrg. 1 


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Agostino Steffani 


die ganze Zeit- und Kunstgeschichte jener Jahre in ihren Rahmen hineinziehen 
könnte und müßte. Auf Steffanis künstlerische Tätigkeit fällt dabei nur hin 
und wieder ein Seitenblick: seine Stellung als Künstler ist zu weitläufig ge¬ 
gründet, als daß sie in dieser knappen Skizze erörtert werden könnte. Ins¬ 
besondere habe ich sein Schaffen als Duettkomponist, das ich gerne einmal 
zusammenfassend behandeln möchte, kaum berührt. 

Es drängt mich, auch an dieser Stelle für die meiner Arbeit gewordene 
Unterstützung meinen herzlichen Dank abzustatten, mag auch die folgende 
lange Liste in groteskem Mißverhältnis zu den bescheidenen Ergebnissen der 
Skizze stehen: den Vorständen und Beamten des Kgl. Haus- und Staatsarchivs, 
des Allgemeinen Reichs- und des Kreisarchivs, ferner der Kgl. Hof- und Staats¬ 
bibliothek zu München; des Kgl. Kreisarchivs zu Landshut; Herrn Geheimrat 
Prof. Paul Kehr, Prof. Karl Schellhaß, wie überhaupt den hilfsbereiten Mit¬ 
gliedern des Istituto Storico Prussiano zu Rom, insbesondere Herrn Dr. Phi¬ 
lipp Hiltebrandt; dem Präfekten der vatikanischen Bibliothek, R. P. Franz 
Ehrle; den verehrungswürdigen Vorständen und Beamten des Archivs der 
Congregazione de Propaganda fide; vor allem aber Monsignore Andreas 
Frühwirth, päpstlichen Nuntius, dessen persönlicher Fürsprache ich die libe¬ 
rale Benützung dieser Akten eigentlich verdankte; endlich Monsignore Luigi 
D™ Camavitto, apostolischer Protonotar und Arciprete von Castelfranco. — 

Unter den Biographien Steffanis hat, nächst dem Artikel in Walthers 
Lexikon,*) den Vorrang des Alters eine anonyme Lebensbeschreibung, die man 
vielen um die Mitte des 18. Jahrhunderts in London entstandenen handschrift¬ 
lichen Duettsammlungen vorgebunden finden kann. Derartige Kopien wurden 
damals in solchen Massen angefertigt, daß sich offenbar verlohnte, diese 
„Memoirs of the Life of the Author of the following Compositions“ im passen¬ 
den Format — querfolio, acht Seiten — zu drucken. Sie müssen von Sir 
John Hawkins herrühren, und vor 1752 verfaßt sein;*) Hawkins hat sie in seine 
„General History of the Science and Practice of Music“ (IV, 287 f., 1776) fast 
wortgetreu herübergenommen, und nur durch eine Reihe von Zusätzen ver¬ 
mehrt, die den wertvollsten Teil seiner Bemühungen um Steffani bilden. Denn 
die Zuverlässigkeit der „Memoirs“ ist sehr gering. Auch nicht ein einziges 
Datum hält Stich, und alle Erzählungen, mögen sie auch einen wahren Kern 
bergen, haben eine gefährliche Wendung ins Anekdotische bekommen. Haw- 

*) Seine Kürze erlaubt die Wiedergabe: „Steffani (A.J ein Abt von Lepsing, 
und des Päpstlichen Stuhls Protonotarius, hat ein Sendschreiben in Italiänischer 
Sprache, unter dem Titel: Quanta certezza habbia da suoi Principij la Musica, ediret, 
welche der seel. Werckmeister ins Teutsche übersetzet, und mit einigen Anmerckungen 
an. 1700 zu Quedlinburg und Aschersleben in -8vo herausgegeben hat. ln des Roger 
Music-Gata/ogo stehen p. 40 auch Sonate da Camera, ä due Violini, Alto Viola e 
Continuo von seiner Arbeit allegiret. Daß er an. 1695 Capellmeister zu Hannover ge¬ 
wesen, verschiedene Italiänische Opern in die Musik gebracht habe, so auf dem Ham- 
burgischen Theatro verteutscht aufgeführt worden, als: an. 1695 der hochmüthige Ale¬ 
xander; an. 1696 der Roland; Heinrich der Löwe; und Alcides; an. i6g~j der Alcibiades; 
an. 1698 die Atalanta; und an. 1699 il Trionfo del Fato; hernach Abt, und endlich 
Bischoff geworden, lieset man in Matthesonii Musical. Patr. in der 22ten Betracht, 
p. 182 sqq. Ist nach dem Tode des Churfürstens zu Hannover, Emesti Augusti, als 
Geheimder Rath nach Düsseldorf vociret, und vom Pabste zum Bischoff zu Spiga 
gemacht worden.“ 

*) Gedruckt wurden sie zuerst in „The Gentleman’s Magazine“ 1761, S. 489. 


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Agostino Steffani 


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kins behauptet, er danke den größten Teil seiner Angaben Mr. Händel, dem 
grundgelehrten Dr. Pepusch, und ihrem »preiswürdigen Interesse an dem An¬ 
denken eines so großen Genies, wie Steffani war.“ Ist diese Behauptung, 
soweit sie Händel betrifft, wahr, so kann ich nicht glauben, daß auf seinen 
Anteil an diesen Memoirs mehr fällt als etwa die, den Stempel der Wahrheit 
tragende Beschreibung der äußeren Persönlichkeit Steffanis, und vielleicht 
die Erzählung von Steffanis Mißbehagen über Sängerwillkür gegenüber seinen 
Werken. Daß Händel im Jahre 1708 als Kapellmeister nach Hannover ge¬ 
kommen sei, und sein Amt aus den Händen Steffanis empfangen habe, — 
Steffanis, der seit 1703 in kurpfälzischen Diensten stand, und erst Ende 1709 als 
Bischof und apostolischer Vikar nach Hannover zurückkehrte 1 — das hat 
Hawkins sicherlich nicht aus Handels Mund erfahren; mag er auch später, 
in seiner Musikgeschichte (V, 267) die Erzählung mit Handels eigenen Worten, 
ja Gesten wiedergeben. Selbst in dieser, schwerlich treuen Fassung berechtigte 
sie Hawkins nicht zu seinen Folgerungen. 1 ) In der Tat ist das persönliche 
Verhältnis von Händel zu Steffani ein bei weitem loseres gewesen, als es 
noch Chrysander dargestellt hat. Ob sich ihre Wege in Italien gekreuzt haben 
(Steffani war vom November 1708 bis Ende April 1709 in Rom; am 5. Mai 
in Florenz, vom Abend des 12. Mai an einige Tage in Venedig, in welche 
Zeit also die angebliche Einladung Handels nach Hannover fallen müßte), 
wird sich erst entscheiden lassen, wenn wir zuverlässige Nachrichten über 
den Aufenthalt Handels in Italien besitzen. Wie kurz bemessen die Möglich¬ 
keit eines persönlichen Verkehrs in Hannover in den Jahren 1710/1711 war, 
lehrt die äußerlichste Berechnung: so bleiben zum Beispiel für den Zeitraum 
vom 20. Juni bis 15. November 1711, während dessen Händel in Hannover 
weilte, für ein persönliches Zusammensein der beiden großen Musiker keine 
vier Wochen, auf seiten Steffanis ausgefüllt durch Krankheit jeder Art, und 
eine Fülle drängender Geschäfte. Die angeblich gemeinsame Reise nach Italien 
im Jahre 1728, über die so hübsche Anekdoten erzählt werden, scheitert an 
der grausamen Tatsache, daß Steffani am 12. Februar 1728 zu Frankfurt am 
Main starb. Nach Rom, wo er in seinen letzten Lebensjahren noch gesungen 
haben soll, ist Steffani nach 1709 niemals mehr gekommen. Aus den Doku¬ 
menten über die Beziehungen Steffanis zu London schließlich geht aufs deut¬ 
lichste hervor, daß Steffani an Händel keinen sympathischen Anteil nahm. Wenn 
Steffani der Royal Academy einen Sänger empfiehlt — so (Padua, 10. August 
1724) den Altisten Angelo Poli; im Jahr darauf die Sorosina, deren Schicksal 
ihm sehr am Herzen liegt — so wendet er sich nie an Händel, wogegen in 
diesen nach London gerichteten Briefen ein Gruß „al nostro amabilissimo 
Signor Bononcini“ selten fehlt. — Auch Pepusch hatte in seinem Leben kaum 


‘) „When I first arrived at Hanover I was a young man, under twenty [1]; 1 
was acquainted with the merits of Steffani, and he had heard of me. 1 understood 
somewhat of music, and,“ putting forth both his broad hands, and extending his fin¬ 
gere, „Could play pretty well on the organ; he received me with great kindneß, and 
took an early opportunity to introduce me to the princeß Sophia and the elector’s 
son, giving them to underetand that I was what he was pleased to call a virtuoso 
in music; he obliged me with instructions for my conduct and behaviour during my 
residence at Hanover; and being called from the city to attend to mattere of a public 
concern, he left me in possession of that favour and patronage which himself had 
enjoyed for a series of years.“ 

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Agostino Steffani 


Gelegenheit, mit Steffani in persönliche Berührung zu kommen; auch seine 
Wissenschaft stammt wie die Hawkins’ selbst aus zweiter Hand. 

Dennoch hat diese Biographie die Grundlage für die Mehrzahl der spä¬ 
teren Lebensbeschreibungen Steffanis geliefert. Bumey hat sie stark gekürzt 
in seine Musikgeschichte (III. 534) aufgenommen. In deutscher Übersetzung 
erschien sie 1763 in der Nürnberger Wochenschrift „Der Zufriedene“ [mir 
nicht zu Gesicht gekommen]; 1764 im „Hamburgischen Journal“ S. 79 f., 
aus dem sie Forkel in seinen Musikalischen Almanach für Deutschland auf 
das Jahr 1784 (S. 170 f.) aufgenommen hat. Gerber hat dann für den Artikel 
Steffani in seinem alten Lexikon wieder aus Forkel geschöpft, aber einen 
Bericht über Steffanis Oper „Servio Tullio“ hinzugefügt; und Gerbers Artikel 
wurde von F. J. Lipowsky (Bayerisches Musik-Lexikon, 1811, S. 337 f.) aus¬ 
geschrieben. So geht es weiter durchs 19. Jahrhundert Auch Fetis schöpft 
im Biographischen aus keiner andern Quelle; nur daß er es war, wenn'ich 
nicht irre, der die bibliographische Fabel von einem Druck Steffanischer 
Duette (München 1683!) in die Welt gesetzt hat Noch Chrysander hat für 
seine Lebensbeschreibung Händels mit der Darstellung Hawkins’ all ihre 
Fehler in Kauf nehmen müssen. 

Von weit größerer Zuverlässigkeit ist die Lebensbeschreibung, die Stef¬ 
fanis Landsmann, Graf Giordano Riccati im 33. Bändchen der Nuova Rac- 
colta d’Opuscoli Scientifici e Filologici (Venezia 1779) veröffentlichte; dank 
der Bequemlichkeit, mit der Riccati sich über die Familienverhältnisse Stef¬ 
fanis unterrichten konnte, und dank der Kenntnis, die er von jener reichsten 
Quelle für das Leben ^teffanis hatte, der obenerwähnten Briefsammlung im 
Propaganda-Archiv. Riccati hat sie freilich nicht persönlich benützt, sondern 
sich mit Angaben und Auszügen begnügt, die ihm durch Cristofano Ama- 
duzzi, von 1770—1792 Soprintendente della Stamperia di Propaganda, ge¬ 
liefert wurden. Auch seine Arbeit ist nicht frei von Irrtümern; doch ist zu 
bedauern, daß sie keinem der späteren Biographen Steffanis bekannt gewesen, 
Caffi vielleicht ausgenommen. Nur in einer lokalen Enzyklopädie ( Nuovo 
Dizionario storico, tom. IX., Bassano 1796) ist sie verwertet; während der 
Artikel in der Nouvelle Biographie Generale, tom. 44, p. 459 f., 1865 sie nur 
zitiert, ohne sie zu kennen. 

Seit Chrysander hat die biographische Forschung über Steffani einen 
neuen Aufschwung genommen. Ich nenne hier mit Dank die Werke von 
Fr. M. Rudhart, 1 ) Franz Wilh. Woker,*) Jul. Jos. Maier—Haberl,*) W. C. Cu- 
sins,*) Adolf Sandberger. ,*) A. Neißer,*) G. Fischer, 1 ) Alfr. Untersteiner ,*) u. a. 

') Geschichte der Oper am Hofe zu München. Freising. 1865. 

®) a. Aus den Papieren des kurpfälzischen Ministers Ag. Steffani. Köln 1885. 

b. Agostino Steffani ... apostolischer Vikar von Norddeutschland. Köln 1886. 

c. Geschichte der katholischen Kirche und Gemeinde in Hannover und Celle. 

Paderborn. 1889. 

d. Der Tondichter Ag. Steffani, in „Der Katholik“, Mainz 1887; S. 312 ff. 

’) Archivalische Excerpte über die herzogl. bayer. Hofkapelle. Kirchenm. Jahrb. 
1891, 1894, 1896. 

4 ) Artikel in Grove’s Dictionary. s ) Denkmäler der Tonkunst in Bayern, Werke 
Dall’Abacos, und Joh. Kasp. Kerlls. [Die als Quellen dort erwähnten litterarischen Do¬ 
kumente habe ich leider nicht ausfindig machen können.] “) Servio Tullio . . von Ag. 
Steffani. Leipz. 1902. 7 ) Musik in Hannover, 2. Aufl. 1903. ") Ag. Steffani. Rivista mus. 
ital., Anno XIV, 509. f. ______ 


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Agostino Steffani 


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Als nach dem Tode Agostino Steffanis — man verzeihe, daß ich 
seine Lebensbeschreibung mit seinem Lebensende beginne — sein Vetter 
Antonio ScapineUi, Arciprete von Castelfranco, seine Erbansprüche auf 
die Hinterlassenschaft Steffanis bei der Congregazione de Propaganda 
fide begründen mußte, legte er einen Stammbaum vor, der bis auf den 
Großvater Agostinos zurückgeht Nach einer alten Nachricht, nämlich 
einer Notiz in einem kompilatorischen Werke des Malers Natale Melchiori 
von Castelfranco, „stammt die Familie Stefani, in verdorbener Mundart 
Stievani genannt, aus Padua, woher sie vor Zeiten, etwa um 1570, nach 
Castelfranco kam.“ ’) Andere Vorfahren der Familie sind in Venedig zu 
suchen. Eine Giulia Fermana, oder Perina da Ponte hinterließ im Jahre 
1545 als Stammgut der Familie einige Häuser in Conträ di S. Marcuola, 
in der Nähe des Ghetto, die später in die Hände der Familie Labia fielen, 
und in deren Wiederbesitz zu gelangen, Steffani sich im Verein mit 
seinen Verwandten im Jahre 1724 bemühte. 

Der erwähnte Großvater Agostinos hieß Gasparo Steffani [dies 
die richtige Betonung], und war vermählt mit Paolina Terzago, von 
der er zwei Söhne hatte: Giacomo, und Camillo, und eine Tochter 
Angela, die am 26. November 1640 Messer Bartolommeo Scapinelli 
heiratete, und die Mutter des erwähnten Erzpriesters und Erben 
Agostinos wurde. Der zweite Sohn, Camillo, ist der Vater unseres 
Agostino. Er verheiratete sich in erster Ehe mit einer Helena . . ., 
deren Familiennamen ich nicht kenne; aus dieser Ehe entsprang 
am 29. Juni 1645 eine Tochter Helena Perina, deren Geburt wahr¬ 
scheinlich der Mutter das Leben kostete. Kurz nach dem Tode 
seiner Frau ging Camillo eine zweite Ehe ein, mit Paolina Terzago, wohl 
einer Base. Aus dieser Ehe gingen hervor: Ventura Giacomo,*) geboren 
am 2. Januar 1648; Pietro Giovanni, am 11. August 1649; Francesco 
Innocente, am 28. Dezember 1650; Agostino Francesco, am 3. Dezember 


*) Zwei Handschriften im Besitz von Monsignor Camavitto in Castelfranco. Der 
Titel der einen lautet: „Famiglie che compongono il piü puigato Cons = della 
Communitä di Castel Franco . . . Raccolte, et descritte nell’ anno 1719 da Nadal Mel¬ 
chiori Pittore di detto locco ... Dedicate al ... Sig: Co: Carlo Riccati ... MDCCXX.“ 
— Der der andern: „Catalogo Historico Cronologico . . . Origine di Castelfranco . . . 
Laboriosa diligenza di me Nadal Melchiori Pittore." Melchiori fügt der oben über¬ 
setzten Notiz hinzu: „Di nostri giomi questa Famiglia hä prodotto Agostino Stefani 
hora vivente; et dimorante in Padova .... Al presente la predetta Famiglia £ quasi 
estinta.“ Dennoch nennt Lorenzo Puppati in einem Schriftchen „Degli Uomini Illustri 
di Castelfranco . . (Castelf. 1860) unsern Steffani seinen „proeio*. Wie dies Ver- 
wandtschaftsverhflltnis begründet ist, weiß ich nicht 

*) Taufbücher von Castelfranco; 3. Jan. 1648. — „Ventura Giacomo figlio di 
M. Camillo de Stievani e di Madama Paulina sua consorte £ stato battezato da me 
Francesco Mantovano Capelano compadre l’Ills Signor Alessandro Languidis Medico 
di questa magnifica Communitä Commadre Madama Paolina Moglie di M. Zuanne 
Mechieleti. naque a di 2 detto.“ 


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Agostino Steffani 


1652; Agostino /) am 25. Juli 1654; Ippolita, am 19. Juli 1656; Francesco 
Domenico, am 2. September 1657. Von diesen sieben Geschwistern 
Agostinos blieben nur der älteste Bruder und die Schwestern am Leben. 
Agostino selbst bezeugt, daß die vier andern Brüder, augenscheinlich in 
zartem Alter, starben, in einem Briefe an Conte Fede vom 11. Juli 1706: 
„ . . . Jo hö havuto un Fratello, che Dio benedetto, di molti, m’haveva 
lasciato unico al Mondo.“ Dieser Bruder Ventura Terzago — er wurde 
von seinem Oheim Marc’ Antonio Terzago adoptiert und nahm dessen 
Namen an — ist der Textdichter einer Anzahl von Agostinos Münchener. 
Opern. Sein Schicksal ist wie das der ganzen Familie so eng mit der 
Laufbahn Steffanis am Münchener Hofe verknüpft, daß es sich nur im 
Zusammenhang mit dieser darstellen läßt. 

Im Widerspruch zu der Behauptung von Hawkins, daß Agostinos 
Eltern „were not distinguished for their rank in life“, nennt Riccati seine 
Herkunft „di onesta conditione“; und auch in der Proposizione Conci- 
storiale bei seiner Ernennung zum Bischof heißt es: „ex Catholicis hone- 
stisque parentibus.“ Melchiori führt in den erwähnten Handschriften 
die Familie nicht unter den ersten von Castelfranco an; doch erscheint 
aus den Gevatterschaften mit den Gherardini und andern alten und vor¬ 
nehmen Familien klar, daß ihr Rang wenn nicht die erste Stelle, so 
doch die zweite behauptete; und daß sie ihn durch die Verbindung mit 
den Terzago und Scapinelli, alten Familien, noch befestigte. Wenn wahr 
ist, was die Erben Agostinos behaupteten: sie hätten „nella sua partenza 
per Baviera . . . sostenuto il peso de suoi Genitori nel somministrarli 
il suo vivere“, so wäre es mit den Glücksgütern Camillos übel bestellt 
gewesen. Auch Woker meint:*) „Begütert war die Familie jedenfalls 
nicht; jedoch besaß Steffani einige Familienrenten. Im Jahre 1716 bat 
er den Reichsvizekanzler v. Schönbom, daß er durch den kaiserlichen 


*) „a di 26. Luglio 1654. Agostino figlio del Signor Camilo de Stievani, et della 
Signora Paolina sua consorte ö stato battezato da me sopradetto [Pre Iseppo Breso- 
lato Capellano] compadre Al tonte Messer Ghirardo Gherardini et alli essorcismi il 
Signor Domenego Rubini, naque li 25 detto." [die Abkürzungen aufgelöst.] — Ric¬ 
cati verwechselt den Tag der Taufe mit dem Geburtstag. Das richtige Geburtsdatum 
hat zuerst A. Untersteiner veröffentlicht, in einer Besprechung von Neissers „Servio 
Tüll io“, Gazzetta musicale di Milano LVII (1902), S. 644. Ohne davon zu wissen, 
habe ich später die Geburtsurkunde aus den Kirchenbüchern von Castelfranco noch 
einmal abgeschrieben. Diese Kirchenbücher sind bis zum Anfang des Seicento wohl 
erhalten, sowohl für die Geburten und Todesfälle, wie Eheschließungen. Eine sorgfältige 
Durchsicht würde viel reichere und exaktere Ergebnisse liefern, als ich in der Eile 
eines Nachmittags in dem Registro Nati erraffen konnte. — Übrigens findet sich unter 
den Familien von Castelfranco auch eine Familie Piva. Drei Söhne eines Agnolo 
Piva: Liberale, Agnolo und Giovanni werden von 1656—1683 verzeichnet; und 
ich zweifle nicht, daß auch Gregorio Piva, Steffanis späterer Kopist, sein engerer 
Landsmann war. 

*) „Katholik“ 1887, S. 313. 


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Agostino Steffani 


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Gesandten in Venedig seinen Agenten in Padua unterstützen möge, um 
diese Renten aus den Händen von Freunden de mammotia iniquitatis zu 
retten, welche ihn fortwährend bestöhlen.“ Wir werden später von diesen 
Familienrenten, die wirklich aus der Erbschaft des reichen Schwagers von 
Camillo, Marc’ Antonio Terzagos stammten, hören; die Freigebigkeit Marc' 
Antonios setzte Camillo in den Stand, Agostino, als er in den geistlichen 
Stand trat, ein Haus im Ghetto zu Venedig als Stammgut zu verschreiben. 

Agostino Steffani kam als dreizehnjähriger Knabe nach München. 
Über die Art seines Eintreffens am kurbayrischen Hofe stellt Riccati 
eine Vermutung auf, die im Widerspruch steht zu den Angaben aller 
übrigen Quellen. 

Hawkins versetzt den Knaben als Sänger in den Chor einer benach¬ 
barten Kathedralkirche; „er hatte nicht länger als zwei Jahre im Chor 
gedient, als ein deutscher Edelmann, der in Venedig den Kamevalsver- 
gnügungen beigewohnt hatte, bei einer öffentlichen Gelegenheit ihn singen 
hörte, und soviel Vergnügen fand an seiner Stimme, seinem Anstand 
und den Merkmalen sich entfaltender Genialität, daß er durch Verwen¬ 
dung bei dem Kapellmeister seine Entlassung aus dem Chor erwirkte 
und ihn nach Bayern, seinem Wohnsitz, mitführte.“ Ich weiß nicht, 
was später Veranlassung gab, aus Hawkins' „Kathedralkirche in der Nach¬ 
barschaft“ von Castelfranco San Marco in Venedig zu machen. Jeden¬ 
falls hat Cqffi x ) vergebens nach einem Dokument gesucht, das diese 
Angabe bestätigte. 

Nach Riccati dagegen ist Agostino nach Vollendung seiner ersten 
Lernübungen in der Gemeindeschule seiner Vaterstadt jung nach Bayern 
gekommen, vermutlich gerufen von einem Oheim mütterlicherseits, der 
im Dienst des bayerischen Kurfürsten gestanden haben soll.*) 

Daß keine dieser Darstellungen richtig ist; daß Agostino vor seiner 
Berufung nach München schwerlich Sängerknabe in einem Kirchenchor, 
sicher aber nicht in Venedig gewesen ist, und keinen Verwandten am 
bayerischen Hofe besaß, 8 ) lehrt eine kleine Autobiographie Steffanis, die 

') Fr. Caffi, Storia della musica sacra nella giä Cappella ducale di San Marco 
in Venezia. I. 146. 

*) „Fatti in patria i suoi primi studj sotto que’ Precettori, che il Comune man- 
teneva a beneficio della gioventü, passö giovinetto in Baviera. Jo conghietturo, che 
fosse ivi chiamato da un suo Zio matemo impiegato al servizio di quell’ Elettore, 
e dä vigore alla mia conghiettura, che un suo tnaggior fratello per nome Ventura, 
nato li 3. Gennaio 1648, che fu molf anni alla Corte di Monaco, si chiatnö sempre 
Terzago probabilmente per disposizione testamentaria del Zio.“ 

*) Die Hofzahlamtsrechnungen müßten einen solchen nennen: sie enthalten aber 
vor 1668 weder den Namen Steffani noch Terzago. Am 23. Juni 1665 gibt Ferdinand 
Maria dem Maler Paolo Antonio Steffani, der sich in Venedig in seiner Kunst weiter¬ 
bilden wollte, ein Empfehlungsschreiben an seinen Agenten Bartoli mit auf den Weg 
[St A., K. schw. 266/2]: dieser Paul Anton hat jedoch mit unserer Familie Steffani 
sicherlich nichts zu schaffen. 


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Agostino Steffani 


er am 11. Juli 1706 an Conte Fede, den Residenten des pfälzischen Kur¬ 
fürsten in Rom, schickte, um seine Tauglichkeit zur Bischofswürde zu 
erweisen. Steffanis eigene Erzählung, der wir wohl die größte Glaub¬ 
würdigkeit werden gönnen müssen, lautet also: „An den bayerischen 
Hof wurde ich in zartem Alter von dem verstorbenen Kurfürsten Ferdi¬ 
nand Maria geführt, dem ich in Padua — wo ich mit einer Menge an¬ 
drer Buben auf der Schulbank saß — vorgeführt wurde. Er fand — 
ich weiß nicht kraft welcher Fügung — solch ein Gefallen an mir, daß 
er mich mit sich nach München brachte, und mich dem Grafen von 
Tattenbach, damals seinem Obristen Stallmeister anvertraute.“ 1 ) Nach 
Padua also kam der Knabe von Castelfranco aus. Wahrscheinlich über¬ 
nahm der Oheim Marc’ Antonio, der ja Collaterale in Padua war, die 
Sorge auch um seine Ausbildung, wie um die des älteren Bruders. Als 
am 9. März 1723 Steffani aus Venedig, wo die Luft ihm nicht zusagte, 
nach Padua übersiedelte, nannte er in einem Brief an einen Freund, 
Marquis Nomis, (11. März 1723) Padua „die Stadt, die ich mit gutem 
Recht meine Heimatstadt nennen kann; denn hier bin ich erzogen wor¬ 
den, und hier ruhen die Gebeine fast all derer, die mir angehört haben.“ 
In jener letzten Lebenszeit, wo er wieder in der Heimat weilt, vom 
Sommer 1722 bis zum Herbst 1725, knüpft er mit dem Erwachen der 
Erinnerung an seine Kinderjahre alte Beziehungen wieder an: so mit 
dem Grafen Girolamo Frigimelica , damals in Modena, einem Jugendfreund, 
„in dem 58 volle Jahre der Abwesenheit eines Mitschülers, der peregre 
prqfectus est in regionem longinquam, nicht im mindesten die Gestalten 
aus der zartesten Jugendzeit haben verwirren noch verblassen lassen“ 
(Brief vom 9. April 1723). Ein anderer Mitschüler Agostinos war sein 
Landsmann Scipione Barbarelli, ein weiterer der spätere Kanonikus an 
der Kathedrale von Padua Abbate Lazsara, „giovinetto di 79 anni, 
e mio confidentissimo Amico dal tempo delle nostre prime scuole,“ 
wie Steffani am 11. April 1727 von ihm schreibt. Auch Hortensio 
Mauro, Steffanis späterer Textdichter, mag zu eben jener Zeit den Bo 
besucht haben. 

Steffani selbst hat mit großer Konsequenz behauptet, er sei schon 
1665 oder 1666, als elf- oder zwölfjähriger Knabe nach München gekom¬ 
men. Aus der großen Zahl der Belege seien nur einige angeführt. Am 
30. Januar 1707 schreibt er an Fede: „una Caravana di 42 Anni di 
Corte . . .“; am 29. Juli 1708: „(la mia costanza . . .) appresa in 44 

*)„... Trt Corti hö servito; Quella di Baviera 22 anni; Quella di Hannovera 
15; e questa [den Kurpfälzischen] dal 1703 in quä. Alla prima fui condotto giovinetto 
dai defonto Elettore Ferdinando Maria, al quäle presentato in Padova ove Studio frä 
molti altri ragazzi, s’lnvogliö d’una certa tal quäl di me non sö per quäl destino, e 
condottomi seco ä Monaco mi diede in cura al Conte di Tattembach allora suo Ca- 
vallerizzo Maggiore.“ 


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Agostino Steffani 


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anni di Corte, e 25. di scabrosissimo Ministero . . am 26. August 
1712: „. . . welcher Gesundheit kann ein Mensch sich erfreuen, der auf 
sein 59. Jahr zusteuert, und davon 47 Jahre Hofdienst auf den Schultern 
hat?“ 1714 spricht er von seinem 49jährigen Hofleben, am 3. Juli 1716, 
er lebe „giä da piü di 50 anni in Germania“; 1723 sagt er, er habe 
58 Jahre in Deutschland verbracht. 

Doch liegt kein Zeugnis dafür vor, daß der Kurfürst im Jahre 1665 
im Venezianischen war, dagegen sehr viele, die einer solchen Tatsache 
widersprechen. Der Bruder des Kurfürsten, Herzog Max Philipp, machte 
im Jahre 1665/66 eine italienische Reise, und berührte im März 1666 
auch Padua; im April 1665 kam der kurfürstliche Geheimsekretär Carlo 
Begnudelli ins Veneto; von einer Reise Ferdinand Marias selbst aber 
wissen wir nichts. Als der Kurfürst für das Frühjahr 1666 einen Auf¬ 
enthalt in Padua plante, traf er, trotzdem sein Inkognito ausdrücklich 
gewahrt bleiben sollte, die “umständlichsten Vorbereitungen von der Miete 
eines Palastes in Padua und Venedig an, bis zur Auswahl des Tischweins. 
Die Sommerhitze und die nahende Entbindung der Kurfürstin verhinder¬ 
ten denn auch die Reise: sie wurde aufs folgende Jahr verschoben. Am 
18. April 1667 verließ das Kurfürstenpaar mit seinem Töchterchen Mari¬ 
anne München; am 29. kam man in Trient, am 2. Mai in Verona, am 
11. in Padua an, und traf nach kurzem Aufenthalt auf Schloß Cattajo 
am 17. in Venedig ein, um Freitag den 3. Juni nach Padua und Cattajo 
zurückzukehren, ln die folgenden Wochen fällt also die entscheidende 
Wendung in Steffanis Leben; 1 ) es ist nicht anders möglich, als daß ihn 
später, trotz des ostinaten Verharrens auf dem Jahre 1665, sein Gedächtnis 
getäuscht hat. Am 9. Juli brach die kurfürstliche Familie wieder von Pa¬ 
dua auf, zog, diesmal über Castelfranco und Bassano, am 11. in Trient, 
am 16. in Brixen, am 20. in Innsbruck, am 24. in Tegernsee ein, und 
landete Montag den 25. Juni nachts wieder in München. Graf Tatten- 
bach hatte in diesen Tagen eine Reise nach Turin zu unternehmen, um 
dem Herzog Carlo Emanuele den schwesterlichen Dank der Kurfürstin 
für seinen Besuch in Padua abzustatten;*) somit war es wirklich Ferdi¬ 
nand Maria selbst, der Agostino mit sich führte. Da der Knabe in dem 
ersten Dekret, das sich mit ihm befaßt, Musicant genannt wird, so haben 

*) Im Reichsarchiv (Fürstens. LXIII. 646) ein „Protocoll der Tagraisen nach 
Padua und wider zurückh.“ Der zweite Aufenthalt in Padua wurde danach unge¬ 
fähr folgendermaßen ausgefallt: am 4. Juni drei Messen beim Santo, abends drei 
Vespern bei Santa Justina; die folgende „Wochen herumb hat man da und dort die 
hl. Meß gehört“ Am 13. Fest des Santo; am 14. nach Cattajo; am 16. nach Padua 
und zurück nach Cattajo; Andacht beim Santo. Am 20. Besuch des Herzogs von 
Savoyen; Samstag den 25. Comedj; den 26. einen Bauemtanz. Am 29. geht der Kur¬ 
fürst ins Camaldulenser-Kloster, zwei Stunden von Cattajo; am 2. Juli Zusammen¬ 
treffen mit dem Herzog von Savoyen in Padua. 

*) C. Merkel, Adelaide di Savoia. Torino. 1892, p. 114 f. 


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10 Agostino Steffani 

doch wohl seine musikalischen Gaben ihm das Herz des Kurfürsten 
gewonnen. 

Wir wissen nicht, was Ferdinand Maria veranlagte, gerade dem 
Grafen von Tattenbach den Knaben in Obhut zu geben. Der Hof be¬ 
hielt seinen Schützling jedenfalls im Auge: die erste Eintragung, die 
in den Zahlbüchern von 1668 sich über Steffani findet, ist ein Zeugnis 
dieses Wohlwollens: „Augustin Stephani Hof Musico zum neuen Jahr 
und anders laut Ordinam f. 36.—* „Und anders“ — ist darunter viel¬ 
leicht Stelfanis Mitwirkung in Gisberti-Kerlls am 6. November aufge¬ 
führtem Turniervorspiel „Le pretensioni del Sole“ verstanden, in dem die 
Rolle der Aurora von dem „gratissimo et gratiosissimo Soprano“ Ago¬ 
stino gesungen wurde'? 1 ) Ich wüßte wenigstens keinen Agostino der 
Hofkapelle, der für die Rolle gepaßt hätte. So hervorragende musikalische 
Fähigkeiten konnten bald in der Hofmusik nutzbar gemacht werden. 
Laut Dekret vom 18. Juli 1668*) wird Steffani vom 9. Juli an — es ist 
der Jahrestag der Abreise des Kurfürsten von Padua — als Hof- und 
Kammermusikus aufgenommen, und ihm täglich „anderthalbe maß wein 
sambt zway brot“ verwilligt. Ein weiterer Befehl vom 26. Juli gibt dem 
Hofzahlamt auf, dem Grafen von Rheinstein und Tattenbach „wegen des 
auf ein Jar bei ihme gehabten welschen Musicanten Augustin Stephano“ 
150 Gulden zu vergüten. Aus der Obhut des Grafen ging Steffani in 
die des Hofkapellmeisters Johann Kaspar Kerll über, der für Kost und 
Lehrgeld jährlich 432 Gulden erhält, wie aus folgendem Dekret vom 
20. Dezember 1668 zu ersehen: 8 ) 

Demnach die Churfürstliche Durchlaucht in Bayrn . . . dero Rhat vnd 
Hof Capellmaister Johann Caspar Kerl für dero Camer: vnd Hof Musico Au- 
gustino Steffani, dene Er die Orgl schlagen zu lehmen: vnd zugleich in die 
Cost angenommen (neben ihme Steffani beraiths vorhin angeschafften Wein 
vnd brodt) vor Cost: vnd Lehrngelt Quartaliter Ainhundert Acht Gulden gne- 
digst verwilliget. Alß beuelchen Sye dero HofCammer Directori vnd Rhäten 
hiemit, die behörige verfiegung zuthuen, daß ihme Capellmaister solche qua- 
temberliche 108. f: fürterhin so lange er gedachten Steffani gemeltermassen 
instruirt n vnd bei sich in der Cost haben würdet, von dero Hofzahl- 
Ambt außgefolgt, vnd darmit vom Neünten July diß Jahres der Anfang ge¬ 
macht werde . . . 

Die Kosten, die Steffani in diesen Jahren verursachte, waren nicht 
gering, wenn man bedenkt, daß das Gehalt der Musici di prima classe 
am bayrischen Hof selten 1000 Gulden erreichte. Im Kreisarchiv findet 
sich eine unmutige „Specification, Waß der Hof : vnnd Cammer Musicus 
Augustin Stephani iehrlich costet“ — an Kost- und Lehrgeld, für Brot 

l ) Die Stelle beginnt Seite 9 des Textbuchs: „Si freni il corso, il Calpestio s’arresti.“ 

*) R.-A. Füretens. LX1I* 645». 

*) R.-A. Fflrstens. LX1I» 645»; Konzept im K. A. 


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Agostino Steffani 


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und Wein, für Kleidung und Wäsche im Jahre 1669 903 fl. 12 kr.; und 
im Jahre 1670 an die 997 Gulden. Den Anstoß zu diesen Berechnungen 
gab eine ungenierte Liste, in der Agostino seine Toiletten-Bedürfnisse 
aufzählt. 1 ) Solche Unkosten waren dem Kurfürsten zu groß: ein Dekret 
vom 15. Januar 1671*) bestimmt, dem Steffani vom 1. Oktober 1670 an 
300 Gulden jährlich zu verreichen, „darumb ihme die NotturfFt an Klay- 
dung vnd Leingewandt selbsten zu verschaffen.*®) 

Dekrete vom 1. Oktober 4 ) und vom 20. Oktober 5 ) 1671 belehren 
uns, daß um diese Zeit die Pflegschaft bei Kerll, wie das Lehrverhältnis 
ihr Ende nahmen. 

Demnach die Churfr. Dhr. in Bayrn . . . entschlossen, wegen dero Hof: 
vnd Camzr-Musici Augustin Steffani, welcher sich biß anhero bei dero Rhat 
vnd Hof Capellmaister, Johann Caspar Kerl in der Cost- vnd erlehmung des 
Orglschlagens befunden, dißfahls eine Änderung vorzunemmen; Als ist dero 
gnedigster beuelch hiemit, daß gedachtem Capellmaister hinfüran alles, was 
ihme für ermelten Steffani biß dato ausgevolgt worden, mit außgang des 
aniezt abgescheinten Monats Septembris, aufgehebt, vnd hingegen dero Camer- 
diener Augustin Sayler für ihne Steffani Quatemberlich Neun vnd dreißig 
gülden Costgelt verraicht: vnd darmit der anfang von heintigem dato ge¬ 
macht werde . . . 

(Der Befehl an den Hofzahlmeister Hans Christoph Cammerloher vom 
20. Oktober fast gleichlautend). 

Aus den Dekreten geht also der Anlaß der Trennung Steffanis von 
Kerll nicht hervor. Kerll war kein sorgsamer Haushalter, und ein selbst¬ 
bewußter Charakter; und Agostino sicherlich ein verwöhnter, anspruchs¬ 
voller und vielleicht respektloser Bursche: wer weiß, welche Disharmo¬ 
nien sich in jenen drei Jahren im Hause Kerlls ergeben haben! Einen 
Fingerzeig gibt allein eine Supplik Steffanis vom Jahre 1674, „dem ge¬ 
westen chrfl. Rath und Hofkapellmeister Casparn Kherl“ beim Hofzahl¬ 
amt verfallene Zinsungen aus seinem Lehen von 6000 Gulden zu sperren. 
Erst am 30. Dezember 1678 wurde der Arrest aufgehoben, auf Anzeige 
des Steffani beim kurfürstlichen Hofrat, daß er von Kerll Satisfaktion 
bekommen habe. 6 ) Kerll hatte also Schulden an seinen Schüler. Die 
Jahre 1674 bis 1678 waren für Kerll eine schwere Zeit, in der der Ver¬ 
lust dieser Zinsen ihm doppelt empfindlich sein mußte, und Steffanis 

>) Vgl. Kirchenmusikal. Jahrb. 1891, S. 11 ff. 

*) R.-A. Fflrstens. LX1I» 645»; Konzepte im K. A. 

*) Das Besoldungsbuch de anno 1610 im Kgl. Kreisarchiv Landshut, das die 
Lücke der Hofzahlamtsrechnungen für dieses Jahr ausfüllt, besagt auf S. 86»: Augu¬ 
stin Stephani Curfr: Hof vnd Camer Musicus ist laut Ordinanz vom 1. 8bris A° 1610 
angeschafft worden, mit Jerlichen f. 300. —. 

*) R.-A., a. a. O. 

») Kreis-A. 

*) Kirchenmusikal. Jahrb. 1891, S. 11. — Sandberger, Denkm. der Tonkunst in 
Bayern U. 2. S. XXV. 


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Agostino Steffani 


Vorgehen in einem um so übleren Licht erscheint. Hatte Steffani doch 
schon in der Vorrede zu seinem gedruckten Erstlingswerke den Namen 
seines ersten Lehrers vollständig verschwiegen, ja absichtlich den An¬ 
schein erweckt, als ob er Ercole Bernabei sein ganzes Können ausschlie߬ 
lich verdankeI ln Wahrheit schuldet Steffani dem Lehrer, dem jeder 
Schüler sonst das dankbarste Gedenken bewahrt, sehr viel. Mögen auch 
manche, Kerll und Steffani gemeinsamen Züge in ihrer gemeinsamen 
Schule ihre Begründung haben, so finden sich doch in Steffanis Werken 
Erinnerungen und Wendungen, die ihm z. B. aus den geistlichen Kan¬ 
taten Kerlls, die ja während seiner Lehrzeit erschienen, in Ohr und Sinn 
geblieben sein müssen. Sicherlich aber hat Steffani sich die Beherrschung 
der Tasteninstrumente, die ihm am bayrischen Hofe den Titel gab (Musi- 
cus-Organista, Kammerorganist) und ihm auf einer späteren Kunstreise 
Ehre und Lob eintrug, nicht in Bernabeis, sondern in Kerlls Lehre er¬ 
worben. Erst später, nach der Rückkehr Kerlls nach München, scheinen 
die beiden Musiker sich wieder einander genähert zu haben. Im Som¬ 
mer 1686 lag Kerll daran, eines seiner Werke, sechsstimmige Litaneien, 
durch die Lobsprüche römischer Musiker zu empfehlen. Er scheint 
Steffani um die Gefälligkeit ersucht zu haben, diese Lobsprüche zu be¬ 
glaubigen. 1 ) Auch in diesem Falle muß Kerlls naive Versöhnlichkeit 
unsere Sympathie erwecken. 

Augustin Sayler, „Kammerdiener und Schatzverwalter“, war ein alter 
und erprobter Diener, der bei Hof das größte Vertrauen besonders in 
Geldsachen genoß. Auch bei ihm blieb Steffani nur ein Jahr lang in 
Kost. Anfang Oktober 1672 reiste er zur Vollendung seiner musikalischen 
Ausbildung*) nach Rom, mit 200 fl. „abgeferttigt.“ Die Auszahlung von 
Sold und Kostgeld unterblieb während seiner Abwesenheit; an Stelle 
seiner Besoldung erhielt er im Jahre 1673 dreimal 154,5 fl., einmal „ver- 
mög Conto “ 248 fl. Übermacht, im Jahre 1674 noch 154,5 und 154,6 fl.; 
ferner 20,50 fl. „vmb willen Er zu Rom vnderschidliche Musicalische Sa¬ 
chen [Kirchenmusik?] abgeschriben.“ Ein Bericht an die Hofkammer¬ 
kanzlei bezeugt, daß seine Abreise einige Konfusion verursachte: 8 ) 

19. Juli 1673. Es ist vonn dem Churfürstl. Hofzallambt im Monat Martj 
Verwichen berichtet worden, daß-dem Hof- vnnd Cammer Musico Augustin 
Stephani sein ierlich cosstgelt der 156 f. sambt 300 f. besoldtung, biß auf denn 
Ersten November anno 1672 bezalt wordten, Demnach aber auch anderwerttig 
bericht einkhommen, daß er Stephani vor ainem Jar zu anfang des october 
nach Rom Verraißt, vnnd also ihme an cosstgelt vnnd besoldtung vmb ain 


‘) Sammelb. der JMG. VH, 635. H. Botstiber, Ein Beitrag zu J. K. Kerlls 
Biographie. 

*) „— daselbs dero [des Kurfürsten] gnedigsten disposition vnd beuelch gemeß 
sich in seiner Kunsst mehrere zu perfectioniem.“ 

*) K.-A. Landshut, Fase. 334. Auch im K.-A. München. 


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Agostino Steffani 


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Monat zuuil were Verraicht wordten, Alß hat das ChurfQrst. Hofzallambt 
ferer zu berichten, wer solch cosstgelt vnd besoldtung für den Monat october 
an des Stephani stat empfangen, oder ob ihme selbiger Vorhinein zegeben, 
befolchen wordten, allerma&en auch auf gedachten Stephani bis auf weittere 
resolution weder an cosstgelt noch besoldtung nichts mer hinauszegeben, 
oder in Ausgab zu verrechnen . . . 

Rom war in jener Zeit, wie früher Venedig, und später Neapel, der 
Ort, wo ein junger Musiker hoffen durfte, für höchstes Kunststreben die 
geeigneten Lehrer und Vorbilder zu finden. Man pflegte neben der vir¬ 
tuos gesteigerten vielchörigen Komposition noch immer den strengen 
a-cappella-Stil; auf dem Gebiete der Kantate und des Oratoriums war 
Rom schöpferisch und vorbildlich, und die römische Sängerschulung galt 
als höchste Empfehlung. Nur in der Oper war es von Venedig über¬ 
flügelt worden, wenn schon auch hier die rigorosen Zeiten des „Papa 
Minga“ noch nicht gekommen waren. War schon der künstlerische Ver¬ 
kehr des bayrischen Hofes mit Rom sehr lebhaft — die Mitglieder der 
Kapelle wurden vorzüglich aus Rom ersetzt, und Ferdinand Maria unter¬ 
hielt als Agenten seinen ehemaligen Hofkaplan, Harfenisten, Komponisten, 
und Poeten, nunmehr Cavaliere Gio. Battista Maccioni —; und hatte die 
Lehrzeit bei Kerll Steffani einzig auf Rom für seine weitere Ausbildung hin¬ 
gewiesen, so war es wohl insbesondere der Name Carissimis, der ihn in die 
ewige Stadt lockte: Carissimi war der berühmteste Meister in der Kompo¬ 
sition für Kirche, Oratorium und Kammer, und St. Apollinare der auszeich- 
nendste und empfehlendste Ort für den Ehrgeiz eines Sängers. Auch die 
Erinnerung an Cesti war um jene Zeit noch lebendig; Agostino hatte 
ihn in seiner Kindheit in Venedig auf der Höhe seines Ruhms in un¬ 
mittelbarer Nähe, und hat ihm später seine Reverenz gemacht, indem er 
einen Kantatentext Cestis, den er wohl in Rom zu Gesicht bekam, als 
Duett komponierte. Ebenso hat er einer Kantate des Luigi Rossi, eines 
der Mitschöpfer der römischen Kantate, den Text zu einem seiner ersten 
Kammerduette entnommen. Das musikalische Leben, das sich damals in 
den vielen Kirchen Roms, in den Oratorien, in den Prachtsälen der Vor¬ 
nehmen entfaltete, war ein außerordentlich reiches; dazu kommt der Ein¬ 
druck, den die „unvergeßliche Stadt“ auf jeden empfänglichen Sinn aus¬ 
üben muß, und der,. wenn man aus dem Titel seines „Sacer Janus 
quadrifrons“ schließen darf, auch bei Agostino ein tiefer und nachhal¬ 
tiger war. 

Steffani reiste vielleicht in Gesellschaft des berühmten Kanzelredners 
und Theatinerpaters Agostino Bozzomo, oder eines abgehenden Hof¬ 
musikers Matteo Salvieti: dem Pater wenigstens dankt der Kurfürst (s. d.): 
„ich freue mich, daß Euer Ehrwürden glücklich in Rom angelangt ist... 
gleichermaßen angenehm ist mir die Nachricht von den Fortschritten 


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Agostino Steffani 


und dem Wohlverhalten [? unleserlich] von Agostino Steffani . . .“*) Die 
Reise ging über die Heimat, wie ein Dankbrief des Vaters Camillo Stef¬ 
fani an den Kurfürsten, für die seinem Sohne erwiesene Güte bezeugt:*) 

„Capita Agostino mio Figlio accompagnato con munificenze riguarde- 
voli da V. A. S. E. proprie perö della di lei innata, et immortale generositä, 
M’aggionge pur anco altro segno de piu sublimi con la memoria, di cui V. 
A. S. E. s’£ degnata gratiarmi per maggiormente accrescere il cumulo di 
quell’ obligationi, che non possono da me padre di Figlio si fortunato esser 
annullate, senon con la vita, e col sangue di me, e di tutta la mia Casa.... 
Confesso intanto per tante gratie consacrando di nuovo eternamente il mio 
Figlio agF alti cenni dell* A. V. S. E. . . . Castelfranco li 27. Ottobre 1672.“ 

In Rom wurde Agostino Schüler von Ercole Bemabei, der seit dem 
20. Juni 1672 an San Pietro, früher an S. Giovanni und an S. Luigi 
de’Francesi Kapellmeister war.*) Wahrscheinlich war der Adept in Sant’ 
Apollinare nicht angekommen, und ist von Maccioni bei Bemabei unterge¬ 
bracht worden; von früheren Beziehungen des bayrischen Hofes zu Bernabei 
ist nichts bekannt. In Bernabeis Schule hat sich Steffani sicherlich in 
allen Stilen versuchen müssen: erhalten haben sich mit genauerer Da¬ 
tierung freilich nur Kirchenstücke, die nicht verleugnen, daß Ercole Berna¬ 
bei selber aus der Schule des Orazio Benevoli herkam. Es ist ein hand¬ 
schriftlich überliefertes, zweichöriges Laudate pueri für 9 Stimmen, da¬ 
tiert November 1673, ein zweichöriges 8 stimmiges Laudate Dominum 
vom Dezember 1673 (ob identisch mit dem gedruckten Stück?); und ein 
Tribuamus Deo für dieselbe Stimmenzahl aus dem gleichen Jahr, ohne 
Angabe des Monats. Aus dem Jahre 1674 ein Sperate in Deo für zwei 
Soprane, Alt, Tenor und Baß; 4 ) endlich das erste gedruckte Werk Stef- 
fanis, die „Psalmodia vespertina volans octo plenis vocibus concinenda“ 
(Rom, Mutij 1674), dem Kurfürstenpaar mit dem Datum Rom, 1. Januar 
1674 gewidmet. Die Baßstimme des zweiten Chors enthalt eine Bemer¬ 
kung an den Leser: Nicht aus Ruhmbegier, oder Nachgiebigkeit gegen 
das Drangen der Freunde, oder aus anderen Ursachen habe er sein 
Werk dem Druck übergeben, sondern aus Dankbarkeit gegen Ferdinand 
Maria und seine Gemahlin: eine Dankbarkeit, die sich nur im Eifer der 
(nur einjährigen!) Arbeit 8 ) erweisen konnte. „Der Ruhm eines solchen 
Erfolges ist einzig des Wissens des Meisters, und der Stärke des Herkules, 
dessen Stil nicht teilweise, sondern völlig nachzuahmen ich mir zum 


■) St. A. K. schw. 261. 11. 

*) ib. 514. 2. 

*) Cametti, in Riv. mus. it. 1908, S. 732. 

4 ) Ein undatierter Psalm, Beatus vir, für zwei Soprane und Baß mit zwei Vio¬ 
linen und B. c., den Cusins, dem ich hier folge, anführt, gehört in eine spätere Zeit. 

5 ) Obendrein durch Krankheit unterbrochener Arbeit. Am 15. September 1673 
verwilligt der Kurfürst ihm „funfeig Cronnen extra hillf ... Zu abzalung der in 
seiner ausgestandtenen Krankheit gemachten schulden.“ (Kreis-A.) 


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Agostino Steffani 


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Ruhme rechne! Suche also diese eilige Psalmodiezu haschen, die in der 
Eile der eilenden Zeit mit eilender Feder entstand, und bei der ich es 
nicht auf Wohlklang und Kunst, sondern auf Kürze und Annehmlichkeit 
anlegte.* Das Werk enthält vierzehn Stücke: dreizehn Psalmen (Psalm 
110, 111, 112, 113, 114+115, 116 [Vers 10 f.], 126, 139, 117, 132, 122, 
127, 147 [Vers 12 f.] und den Lobgesang Marias. Der llOte Psalm, 
Dixit Dominus, hat ihn noch in seiner reifsten Zeit zu einer großartigen 
Komposition für fünfstimmigen Chor und Orchester angeregt. 

In diesem seinem Erstlingswerk ist das Hauptausdrucksmittel in 
der Tat eine rapide Chordeklamation, in der die durch Achtstimmigkeit, 
langsame Bewegung und gewählte Harmonisierung hervorgehobenen 
Stellen um so tiefer wirken: im allgemeinen aber hat der eine Chor einen 
Psalmvers noch nicht beendet, als schon der andere in der Mitte des 
nächsten steht. Werke dieser Art sind häufig im 17. Jahrhundert; man 
weiß überdies, daß die langen Münchener Andachten die Kurfürstin Ade¬ 
laide zur Verzweiflung brachten. 1 ) Die „Psalmodia “ ist das Zeugnis einer 
genialen Begabung. Ich möchte, neben dem Magnificat, dessen Schluß 
schon Padre Martini einen ehrenvollen Platz in seinem „Saggio fonda- 
mentale pratico di Contrappunto“ gönnte, auf den Psalm In exitu hin- 
weisen, der durch Kraft der Anschauung und Wucht der Behandlung 
hervorragt. Eine Stelle besonders verrät eine unglaubliche Reife der 
formenden Hand. Es ist jene, wo mit den Worten „Domus Israel spe- 
ravit in Domino“ das rhythmische Sprechen des Chors in eine strenger 
gefügte melodische Sprache übergeht: ein überraschender Reichtum der 
Phantasie wird plötzlich offenbar; der Parallelismus der poetischen Form 
ist musikalisch aufs feinste gemeistert. — Von Kerll schon hatte Steffani eine 
reine und kräftige Überlieferung römischer Kunst empfangen; in Kerlls 
geistlichen Kantaten z. B. herrscht ganz jene weiche ariose Melodik, in 
die sich unter den Händen der römischen Meister das Rezitativ aufge¬ 
löst hatte: ein biegsames Material, das sich leicht zu geschlossenen Ariosi 
verdichten konnte, aber auch gerne zarte Motive für die imitatorische 
Behandlung hergab. Die römische Kunst war zu jener Zeit schon wieder 
einige Schritte weiter; in diesen Lehrjahren hat Steffani sie an der Quelle 
sich völlig angeeignet. Zeugnis dafür ist nicht so sehr seine Kirchen¬ 
musik: wir besitzen kein Werk strengen Stils von Steffani, und es scheint 
fast eine Nachwirkung aus seinen Knabenjahren, wo die traditionslosere 
venezianische Musik in seine Ohren klang, daß seine Kirchen- und geist¬ 
liche Kammermusik durchaus der „modernen“ Gattung angehört — als 
die Werke, mit denen sein Ruhm sich hauptsächlich verknüpft hat, seine 
Kammerduette. Carissimi ist es, den er sich dabei im Pathetischen und 
Elegischen, wie im witzig Graziösen zum Muster genommen hat; und 

') Merkel, a. a. O. 134. 


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Agostino Steffani 


fast möchte ich glauben, daß er schon in Rom die Duettkomposition zu 
einer „Spezialität“ ausgebildet hat, die seinen Namen verbreitete. 

Ercole Bemabei wurde in dieser Zeit der Nachfolger Kerlls als 
Münchener Hofkapellmeister. Bei seiner Berufung hat Steffani eine Rolle 
gespielt, bei der wir ein wenig verweilen müssen. 

Maccioni dachte zuerst an Giuseppe Corsi, detto Celani, der nächst 
Carissimi als der bedeutendste Kapellmeister Roms galt. Wir wissen 
nicht, welche Umstände ihn abhielten, dem Ruf nach München zu folgen; 
doch fanden seine Gründe die volle Billigung des Kurfürsten: „Le deli- 
berationi del Celani sono si ben fondate, che dobbiamo non solo restarne 
sodisfatti, ma etiandio commendarle come facciamo.“ 1 ) Maccioni empfahl 
nun (19. August 1673) mit großer Wärme Giuseppe Spoglia, „essendo 
giovane ben nato quieto timorato di Dio, e docile ä tal segno che es¬ 
sendo egli habile ad esser maestro di cappella conforme k stato della 
Chiesa del Giesü ..." — doch war er dem Kurfürsten weniger genehm: 
„. . sein jugendliches Alter läßt uns befürchten, er könne das Amt des 
Kapellmeisters nicht mit Autorität führen in einer Kapelle, in der es 
Launen gibt, die einer festen Aufsicht und Leitung gar sehr bedürfen; 
weshalb es sich empfehlen wird, daß Jhr in vorsichtige Verhandlungen 
eintretet mit einem Subjekt von reiferem Alter ..." Die Berufung Spo- 
glias zerschlug sich Anfang 1674 daran, daß er nach dem Tode Caris- 
simis zu seinem Nachfolger an S. Apollinare gewählt wurde, wie er ihn 
bei Lebzeiten schon einige Male vertreten hatte.*) Nunmehr kam allein 
Ercole Bernabei in Frage. Maccioni mußte in den Unterhandlungen mit 
ihm höchste Vorsicht und Schweigsamkeit walten lassen „ . . . damit 
nicht unser Ansehen Schaden leide im Falle einer ablehnenden Haltung 
Bernabeis, und damit man kein Geschwätz davon mache; aus diesem 
Grunde muß diese Angelegenheit sogar ohne Wissen des Agostino ab¬ 
gemacht werden, denn es könnte leicht sein, daß er in seinem jugend¬ 
lichen Selbstgefühl sich ein solches Amt in den Kopf gesetzt hätte, und 
deshalb durch irgendeinen Kunstgriff seinen Lehrmeister [von der An¬ 
nahme der Münchener Stellung] abbrächte.“ 3 ) Wenn die Psalmodia 
vespertina ein Zeugnis ist für die künstlerische Reife von Steffani, so 
ist diese Bemerkung sicherlich ein ebenso überzeugendes für die nur 

’) An Maccioni, s. d., etwa Juli 1673. St A., K. schw. 515. 26. 

*) Sein Opus I, dem Kurfürsten Max Emanuel gewidmet, erschien erst 1681: 
Vesperpsalmen, wie die Steffanis in rapidem Tempo geschrieben. (Vgl. Bologn. Ca* 
tal. 0, 313.) Spoglia hat später offenbar die Versprechungen einer talentvollen Jugend 
nicht gehalten. 

*) Ferd. Maria an Maccioni, ohne Datum, Herbst 1673. (St A., K. schw. 515. 26.) 
„ ... per tal cagione doverasi portar questa nego [tiatione] etiandio senza saputa 
d'Agostino, perche non sarebbe gran cosa, che la di lui gioventü gli havesse posto 
in pensiere simil caricha; e che perciö con qualche arte ne divertisse il suo Maestro.“ 


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Agostino Steffani 


n 


allzugroße Frühreife seines Charakters. Der zwanzigjährige Jüngling war 
eine Persönlichkeit, mit der zu rechnen war; und sein intriganter Cha¬ 
rakter war offenbar in dem Zerwürfnis mit Kerll am Münchener Hofe 
in scharfe Beleuchtung getreten. Es zeigte sich auch wirklich, daß die 
Vorsicht des Kurfürsten am Platze war; denn als die langwierigen, durch 
Bemabeis wunderliche Bedächtigkeit noch verzögerten, Verhandlungen 
sich endlich ihrem Abschluß näherten (10. März 1674‘), verursachte Stef¬ 
fani ein weiteres Hemmnis, indem er seinem Lehrer versicherte, das ihm 
vom Kurfürsten zugesicherte Gehalt stehe dem von Kerll bezogenen bei 
weitem nach: 1180 gegen 1500 Gulden. Maccioni fiel es nicht schwer, 
diesen Argwohn bei Bernabei zu zerstreuen; auch der Kurfürst be¬ 
kräftigte der Wahrheit gemäß (23. März 1674), Agostino habe „confuso 
il sallario con altri utili, che gode il Mastro di Capelia.“ 

Am 15. April 1674 endlich resignierte Bernabei auf sein Amt an 
der Peterskirche; „er bereitet sich schon auf die Reise vor“ schreibt 
Maccioni am 14., „und sagt mir, daß er etwa am 8. Mai sich auf 
den Weg machen wird, voll Verlangen, E. Hoheit zufriedenzustellen, die, 
glaube ich, nichts dagegen haben wird, daß ihn auch Agostino Steffani 
begleite, der gar gerne seinem Lehrer folgen und ihm beim Betreten 
Deutschlands als Dolmetsch dienen möchte.“ Der Kurfürst war es denn 
auch zufrieden: „procurerete di levar ogni dimora alla partenza d’esso 
Bernabei, Contentandoci che seco se ne venga Agostino Steffani . . .“ 
Maccioni lieh Agostino zur Reise 50 Scudi, die er Mühe hatte, wiederzu- 
erhalten.*) Die Reise ging wieder über Venedig, wohin Steffani noch 
357 Gulden „Übermacht“ wurden; am 7. Juli — nach Steffanis Angabe 
am 8. — trafen die Musiker in München ein. Vom Tag seiner Ankunft 
an wurden Steffani laut Dekret vom 1. März 1675 „Jehrlich Sechshundert 
gülden Sold vnd für Wein vnd Bier Ainhundert sibenzig gülden 20 kr. 
also zusamben Sibenhundert Sibenzig gülden 20 kr. sambt täglich an 
Brot zwo Semel vnd ein par laibl gnedigst verwilliget.“ 8 ) Bei diesem 
Gehalt blieb Steffani bis zum 1. Januar 1681 stehen. 


*) St. A., K. schw. 489/4. 

*) Rom, 2. März 1675, Maccioni an den Kurfürsten: „Apprendo qualche timore 
che VAE. non habbia pienamente approvato che io habbia somministrato ad Ago¬ 
stino Stefani li scudi 50. per il suo viaggio, che perciö supplichevole ne chiedo a 
VAE humilissimo perdono se havessi errato; supplicandola ad attribuire questa mia 
prontezza al zelo grande che tengo di ben servire VAE. E certo che ii Bernabei 
con la sua famiglia non poteva far questo viaggio in paese dove nfe intende il par- 
lare, ne puö essere inteso senza interprete, 6 altra persona che intendesse la lingua 
tedesca, e se ne dichiarö meco apertamente; ciofe che senza Agostino, 6 pure 
altra persona che intendesse la lingua egli non poteva viaggiare ..." (St A. K. 
schw. 489. 4.) 

*) R.-A. FOrstens. LXU» 645e. 

Kir ch e nmu sik. Jthrboch. 23. Jthrg. 2 


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Agostino Steffani 


Vor den erwähnten 1. März 1675 fällt eine im Münchener Kreis- 
Archiv aufbewahrte, undatierte Supplik Steffanis 1 ) — „da der Kurfürst 
ohnehin geneigt sei, sein Gehalt zu verbessern, so bitte er die Erhöhung 
vom 8. Juli an, dem Tag seines zweiten und letztmaligen Eintreffens in 
München, rechnen zu lassen. Von dieser Gunst habe er persönlich keinen 
Vorteil. Denn da er, um sich unlöslich an den kurfürstlichen Hof zu 
binden, seine Angehörigen kommen lassen solle — er habe sie bereits 
dazu aufgefordert — erwüchsen ihm viele Ausgaben. Er wolle sein 
Mögliches tun, dieser Gnade nicht unwürdig zu sein, indem er sein 
ganzes, ziemlich brachliegendes Talent in den Dienst des Kurfürsten 
stelle.“ Im Herbst dieses Jahres scheint er wirklich zur Ordnung der 
Angelegenheit in die Heimat gereist zu sein; denn am 20. September 
empfängt an seiner Statt Augustin Sayler „die ienige Ainhundert gülden, 
welche Se. Churfr. Drt. ihme Steffani zu ainem rais Pfennig gnedigst 
verwilligt;“ des weiteren enthalten die Zahlbücher für 1675 unter „Ab¬ 
fertigungen und Gnadengeschenken“ den Eintrag: „Joseph Barberio Mu - 
sico vnd H. Stephano aufi Gn: crafft Ordinanz vnd schein f. 400.—“ 
Im folgenden Jahre kam Camillo Steffani nach München, um die Über¬ 
siedelung vorzubereiten; der Kurfürst verwilligte ihm 90 Gulden „zu 
ainer Raiß Zöhrung.“ Doch verzögerte sich die Ankunft der Familie 
bis zum Frühjahr 1677. 

Nur die eine der Schwestern, wohl die ältere, kam nicht mit nach 
München. Sie wurde im Monastero delle Zitelle in Padua untergebracht, 
aus dem sie später in das Haus der Familie Franchini übersiedelte: dort 
starb sie Ende Januar 1716.*) Die jüngere Schwester, Ippolita, verhei¬ 
ratete sich nicht in München, wie Woker angibt, 8 ) sondern trat in das 
Kloster der Schwestern Mariä Heimsuchung, mit dessen ersten vier In- 
sassinen ja Agostino selber dereinst von Padua nach München über die 


') Kirchentn. Jahrb. 1891, S. 72. 

*) Steffani hatte nach ihrem Tode gegen ihr, unter dem Einfluß der Familie 
Franchini geschriebenes Testament zu protestieren. Er schreibt, Neuhaus den 29. Fe¬ 
bruar 1716 an ihren Beichtvater, P. D. Raffaello Savonarola in Padua, nachdem er 
ihm gedankt hat für „. . . la Christiana Caritä, con la quäle ella hä aßistita la mia 
povera defunta sorella negl’ vltimi periodi della sua vita“: „Ella t morta in vna Casa, 
ove V. R. havrebbe facilmente potuto restar informata, che in tutto il tempo che hä 
vißuto, nulla hä havuto, che quello che io gli hö dato, particolarmente doppo la morte 
di mio Fratello di f. m. Havrebbe V. R. potuto sapere, che io la posi vicino ä 40: an- 
ni fä in cotesto Monastero delle Zittelle con 500: Ducati di Dote, e 12: Ducati di 
Livello cavati dalla mia sola borsa; che doppo molti anni d’vna tale spesa a persua- 
sione della Signora Paola Emilia Franchini mi convenne perdere la Dote, et il Li¬ 
vello, e farla vscir dal Monastero per alimentarla nella Casa ove ä morta, e dove ella 
hä consumati sempre gl’ interessi di un Capitale di piü di 5000: Ducati, che fä l’unica 
hereditä, che io conservo del predetto mio Fratello . . . ä stravaganza il far Testa¬ 
mente di quel che non si hä . . 

*) Gesch. der kath. Kirche ... in Hannover, etc. S. 164. 


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Agostino Steffani 


Id 


Alpen gezogen war. 1 * * ) Ihr Klostemame war Teresa Magdalena. Im 
Jahre 1703 und 1704 erbittet Steffani för diese „wälschen Nonnen“ von 
Kurfürst Johann Wilhelm Vermittelung beim Kaiser, zum Schutz für ihre 
Güter in der Oberpfalz (Gnadenberg); am 10. März 1713 empfiehlt er 
seine Schwester dem Beichtvater dieses Kurfürsten, P. Ferdinand Orban, 
und läbt ihr durch ihn eine Geldsumme zustellen: „Est Monachii notum 
Ccenobium Sancti monialium Visitationis B. M. V., quae vulgo Italae di- 
cuntur, etsi non nisi una ex Ula Transalpina regione, haecque mea Soror, 
quam mihi tot ammissis carioribus conjunctis superstitem Superi reli- 
querunt, ln eo adhuc vivat.“ Im September 1716 erhielt sie Besuch von 
Steffanis Kirchenbau-Kollekteur, dem Hofkaplan Feckler, im Jahre 1719 
von dem Münsterschen Prälaten Baron von Plettenberg. Am 27. Sep¬ 
tember 1719 nennt sie Abbate Alessandro Clemente Scarlatti „la Reve- 
rendissima Madre degnissima Superiora, e sorella di V. S. Illma“ — in 
der Tat wurde sie Äbtissin des Klosters: das geh. Hausarchiv bewahrt 
zwei Einladungsschreiben von ihr an die Kurfürstin Therese Kunigunde 
zum Gottesdienst und Festmahl am Tage des Herzens Christi; das spä¬ 
tere 1720 datiert. Wann sie starb, konnte ich nicht ermitteln. 

Ventura Terzago wurde laut Dekret vom 6. Juni 1677*) zur Ver¬ 
wendung »in gewissen Compositionen u vom 1. April an auf ein Jahr, 
nach dessen „Verfließung . . des weiteren Verhalts willen wider“ ange¬ 
fragt werden sollte, mit 400 Gulden, zu denen ihm am 5. April des fol¬ 
genden Jahres noch 200 zugelegt wurden, in den Hofstaat aufgenommen. 
Ersetzte er anfänglich als »Komponist“ den Hofpoeten Domenico Gis¬ 
berti, der 1675 nach Venedig zurückgekehrt war, so erhielt er später, 
am 1. Juli 1679, nachdem er auf einer Reise in die Heimat noch seine 
Angelegenheiten endgültig geordnet, 8 ) die Stelle des Geheimsekretärs 
Carlo Begnudelli Basso, mit jährlich 800 fl. Gehalt und dem Ratstitel. 
Eine Supplik 4 * ) aus dem Jahre 1683 belehrt uns, daß ihm sein Doppel¬ 
amt damit gering bezahlt schien. Er bittet darin um das Futter für zwei 
Wagenpferde, „die ich zu meiner größten Belastung unterhalten muß, 
denn meine Mutter ist alt und gichtbrüchig und kann nicht gehen ...“ 
Er habe um so mehr Anrecht auf Erfüllung seines Ansuchens, „als ich 
außer dem Dienst des Begnudelli auch den des Gisberti mache, der mit 
Gehalt, einer Pfründe, Brot, Wein und Bier mehr als 1000 fl. hatte, 
während ich mit 800 fl. Gehalt zwei Ämter versehe, die die kurfürstliche 
Kammer früher mehr als 2200 fl. gekostet haben.“ Terzago hatte Unrecht 

l ) L. Muggenthaler. Der Schulorden der Salesianerinnen in Bayern von 1667 
bis 1831. Jahrb. f. Münchener Gesch. V (1894), 61 ff. 

*) R.-A. Fürstens. LXU» 645«. 

*) K.-A. Hofzahlamtsrechnungen. „VenturaZerzago Componisten, pr: zu ainem 
Raiscossten inhalt Ordonanz verwilligite f. 100—.“ 

4 ) ebenda, Personalakt. 

2 * 


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Agostino Steffani 


sich zu beklagen: sein Gehalt erhielt, wie der seines Bruders Agostino, 
durch Gnadengeschenke oder reichliche Reiseentschädigungen einen an¬ 
sehnlichen Zuwachs. Denn seine Tätigkeit als Sekretär wurde durch 
häufige Reisen unterbrochen: außer der erwähnten vom Jahre 1679, zu 
der ihm 100 Gulden verwilligt wurden, wissen wir von einer weiteren 
im Frühjahr 1682, die ihn nach Rom führte, von wo ihn der Kurfürst 
mit Ungeduld heim verlangte;') von einer weiteren nach Venedig im fol¬ 
genden Jahr,*) und im Jahre 1684, wo ihm „wegen einer mit dem herrn 
Scarlati an den kayserlichen Hoff verrichten Commission “ 246. 21 fl. 
ersetzt werden; endlich von einer mehrmonatlichen im Sommer 1687. 
Daneben hat er eine große Rührigkeit als Dichter entfaltet, und acht 
Jahre lang den beiden Bemabei und seinem Bruder eine Anzahl von 
Operntexten geliefert: 


1 . 


2 . 

3. 

4. 

5. 

6 . 

7. 

8 . 


9. 

10 . 


10. Febr. 1678 Alvilda in Abo . . . Melo-drama (G. A. Bernabei); 
— vorher muß er ein lyrisches Poem dem Kurfürsten gewidmet 
haben, denn er sagt in der Vorrede „. . Eccomi sü le Scene di 
questa Reggia cangiar la Cetra in Coturno, e stancare per la seconda 
volta la Clemenza di V. A. S. E. . .* 

Jan. 1679 Erna in Italia. Drama per Musica (G. A. Bernabei) 
28. Jan. 1680 II litigio del Cielo, e della Terra Torneamento . . 

(Ercole Bernabei)*) 

11. Juli 1680 L'Ermione, Drama per Musica .. (G. A. Bernabei) 


1681 

1685 

Carneval 1685 
30. Dez. 1685 

1686 


Giulio Cesare . . Torneamento 

Marco Aurelio 

Solone 

Audacia e Rispetto . . Torneo 
Servio Tullio 

Erote ed Ante rote, Torneo 


( . * ) 

(Steffani) 

( w ) 

( * ) 

( * ) 

(Erc. Bernabei). 


Giuseppe Antonio Bemabei wurde im Jahre 1677 als Vizekapell¬ 
meister von Rom, wo er das Amt des Kapellmeisters an S. Luigi de’ 
Francesi innehatte, nach München berufen. Maccioni beglückwünschte 
den Kurfürsten zu seiner Wahl: „er zählt hier unter die ersten Virtuosen, 
sowohl im Klavierspiel, wie auch in der Komposition für Kirche, Kam¬ 
mer und die Bühne, und vereinigt seine Künstlerschaft mit der Furcht 

•) St. A., K. schw. 314. 9. 

*) ib., 266. 7. Terzago an Sig* Marx Maier, al Campo, Venedig 21. Juni 1683: 
„Non so se sia noto a V. S. 111“* che mentre ch’ella fa la sua campagna d’ Vngheria 
io fo la mia in Venezia dove sono per qualche ordine di Sua A. E. ma anche per 
qualche importantissimo mio interesse . . 

*) Rudhart und ReinhardstOttner, Jahrb. f. Münchener Gesch. I, 135 f. führen 
nach Lipowsky für den 12. März 1680 eine Oper Venturas, La Dort an. (G. A. Ber¬ 
nabei.) 


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Agostino Steffani 


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Gottes; denn er ist ein wackerer Priester.“ Bernabei selbst übersendet 
am 17. April voll Freude über seine Ernennung ein frisch komponiertes 
Motett für vier Baßstimmen, und bittet, in München eine Handvoll mehr¬ 
stimmiger Motetten drucken lassen und dem Kurfürsten widmen zu 
dürfen. 1 ) Am 24. Juni kam er in München an. 

Es ist wie eine Fügung, daß Agostino sein Verhalten gegen Kerll 
durch seine Unverträglichkeit mit dem Sohne von Kerlls Amtsnachfolger 
sühnen sollte.*) Steffani mochte schon die Berufung, sicher aber den 
höheren Gehalt und die höhere Stellung Giuseppe Antonios als eine Zu¬ 
rücksetzung seiner Person und Geringschätzung seines Talents auffassen: 
der Kurfürst suchte diese Mißstimmung, die sich ja schon in der Sup¬ 
plik von 1675 ankündigt, durch außerordentliche Zuwendungen zu be¬ 
schwichtigen: so verwilligte er mit Dekret vom 4. Juli 1678 dem „Hof- 
vnd Camer Organisten Augustino Steffani auf sein vnderthenigstes an- 
halten vnd auß gnaden zu gewißem ende Vierhundert gülden.“*) Das 
„gewisse Ende“ war eine offenbar weitausgedehnte Kunstreise, die den 
jungen Künstler über Paris nach Turin führte. In Paris hat sich Steffani 
sicherlich Lullys „Bellerophon“ angehört Wir haben leider nur vom 
Ende der Reise in den Berichten des kurfürstlichen Residenten in Turin, 
Johann Barth. Schalck, archivalische Kunde: 4 ) 

(Turin 20. Mai 1679) „Agostino Stephani Eur Churfrt. Dhl. Hoff Musicus 
ist verwichner tagen in Turin ankommen. Ich hab ihn der Madama Reale 
prcesentirt vund bey Ihr seine virtu hervorgestrichen, verlangt ihn derohalben 
mit negstem Zuhören. Er hat die Ehr gehabt vor dem König in frankreich 
zu spülen; göstert hat Er auch vor dem Cardinal [d’ Estr£e] gespilt dessen 
habileti vnnd addresse von der gantzen Compagnie admirirt worden. Sobald 
ihn nur Madama Reale wirdt gehört haben, wirdt er sich alsobalden auf die 
reis begeben vmb sich mit ehistem wider in München einzufinden.“ 

(27. Mai) „ Agostino Stephani E. Churfrt Dhl. Hoff Musicus hat sich 
göstert vor Madama Reale in der Camera di Parada hören lassen, vnd ist 
sein zierliches vund delicates Spillen vom gantzen Hoff approbirt worden, 
wie dan Madama Reale 2 in 3 mahl zu ihme gesagt Vous joues fort bien, 
vous joues pcufaitement bien, wirdt also auffs ehiste seine reis antretten vnd 
sich wider vnderthenigst zuhaus einstellen.“ 


■) St. A. K. schw. 290. 8. 

*) Mit andern Musikern der Kapelle war das Verhältnis besser. So unterhielt 
er mit dem Kammermusiker Giulio Rossoni nach dessen Abgang von München noch 
einen Briefwechsel. Rossoni schreibt Mailand 15. Dez. 1677, an ein Mitglied der kur¬ 
fürstlichen Familie: „Mi consola non poco il Signor Agostino Stefani qualche volta 
con sue lettere, mentre con quelle mi fä credere che PA. V. S. conservi ancora qualche 
bontä verso di me, dicendomi che PA. V. si degni di quando in quando farli be¬ 
nignamente chiamare de Mie nove ..." [K. schw. 537. 29.] 

•) R.-A. Fürstens. LXI1* 645». Im Kirchenmusikal. Jahrb. 1891, S. 72 trägt das 
Dekret ein falsches Datum. 

4 ) St. A., K. schw. 290. 8. 


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Agostino Steffani 


Am gleichen Tage; da Steffani am Turiner Hof spielte, erfolgte der 
Tod des Kurfürsten Ferdinand Maria, und wird Steffani zur schleuni- 
schen Heimkehr nach München veranlaßt haben. 

Mit dem Regierungsantritt Max Emanuels neigte sich das Zünglein 
der kurfürstlichen Gunst noch mehr als unter Ferdinand Maria und Ade¬ 
laide auf die Seite Agostinos: und nun mag es G. A. Bemabei gewesen 
sein, der die Bevorzugung eines im Amt unter ihm stehenden Musikers 
mit scheelen Augen angesehen hat Um ihm jeden Anlaß zu Beschwer¬ 
den zu nehmen, stellt der Kurfürst Steffani ihm zwar gleich, sichert aber 
ihm, als dem 5 Jahre älteren, den Vorrang. Ein Dekret vom 15. Januar 
1681 belehrt uns über das Verhältnis: 1 ) 

„Demnach die Churfr. Dhr. in Bayrn . . . den Ersamben Priester, dero 
Hof Organisten, Augustin Steffani die gnad gethon vnd ihne zu dero Camer- 
Music Directom gnedigst declariert, auch verwilliget, das er hinfüran dero 
Vice Capellmaister Josephen Antonio Bamabej, sowol mit der besoldung, 
als in all ander weeg, gleich gehalten werden: iedoch aber disem der Vor¬ 
gang femers Verbleiben solle; Alß beuelchen Sye . . . daß ihme Steffani für- 
dershin für alles vnd alles, iehrlich Aintausend achtzig-gulden, gleich wie es 
ermelter Vice Capelmaister dermahlen geniesset, zu Quartain eingethailter 
verraicht: vnd darmit der anfang von eingang diß Jahrs gemacht werde ...“ 

Steffani blieb jedenfalls der bevorzugte Liebling des Hofes, dem von 
jetzt an die meisten und ehrenvollsten Aufträge zu Opernkompositionen 
zufielen, und dessen Stellung als Kammermusik-Direktor ihm den näheren 
Platz an der Sonne der kurfürstlichen Gunst sicherte. Das hat G. A. 
Bemabei wohl gefühlt. Er hört nicht auf, über Zurücksetzungen klein¬ 
liche Beschwerden zu führen,*) und ist bei der Vergleichung der seinem 
Nebenbuhler gewährten Gnaden mit seiner Besoldung stets voll Bitterkeit 
geblieben. Noch im Jahre 1693, fünf Jahre nach Steffanis Abgang, tut 
er die charakteristische Äußerung: weder er noch sein armer Vater 
sei je eines Gnadengeschenkes gewürdigt worden; er verdiene eine Ver¬ 
abschiedung mit eben den Gnaden und Vorteilen, die Don Agostino 
Steffani erhalten habe, „perche mi par di meritarle ä par di lui si per 
le fatiche fatte con la mia assidua servitü, come per il merito di mio 
Padre.“ 8 ) Noch bis in die Jahre 1715 und 1716 hat die Rivalität der beiden 
Musiker fortgedauert, und damals einen Zwiespalt in eine ganze Kapelle — 
die Düsseldorfer — getragen. 

l ) R.-A. Fürstens. LXVII1» 677«. Im St A., K. schw. 238. 2 ein Konzept in 
charakteristischer Fassung: „. . . das Er hinfüran dero Fzae-Capellmaistem in dem 
respect vnd anderm allerdings gleich gehalten werden: iedoch aber disem der Vor¬ 
gang femers verbleiben solle; Alß ist deroselben gnedigster befelch hiemit, daß Er 
Steffani fürdershin [von meniglich, bevorab dero Camer Music] darfür erkhennet vnd 
gehalten [vnd ihme in billichen dingen obedirt] werde . . .“ 

*) Vgl. Kirchenmusikal. Jahrb. 1891, S. 75. 

•) K.-A., Personalakt 


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Agostino Steffani 


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Welch einflußreiche Stellung der Kammermusik-Direktor einnahm, 
lehrt die Episode eines mißglückten Künstler-Engagements. Der treff¬ 
liche Gambist Augustin Kühnei, damals in Dienst des Herzogs von 
Sachsen Zeitz, kam im Laufe des Jahres 1680 an den Münchener Hof, 
wo er dem Kurfürsten ausnehmend gefiel, und wo ihm die Aufnahme 
in die Kapelle selber höchst erwünscht erschienen sein muß: er wurde 
auch, trotz seines lutherischen Glaubens, „inhalt ordonanz vom 28. Sep¬ 
tember ... für ainen Hof Musicum vf ain Jahr angeschafft“ mit 1000 fl. 
Gehalt. Kurz nach seiner Anstellung scheint er nach Zeitz zurückgekehrt 
zu sein, um seine Übersiedelung nach München mit Weib und Kind 
vorzubereiten — da stellte man in München am 27. Februar 1681 die Zah¬ 
lung seines Gehalts ein, trotzdem ihm Steffani gute Hoffnung gemacht 
hatte, „man werde ihn wegen der religion nicht forßiren.“ Auf eine 
weitere Anfrage Kühneis antwortete Steffani nicht, wohl aus Unlust 
deutsch zu schreiben, wie der gutmütige Kühnei vermutet. Als im De¬ 
zember 1681 Kühneis Herr, Herzog Moritz, starb, bot sich ihm eine neue 
Gelegenheit, mit München anzuknüpfen: er schrieb am 6. September 1682 
an Geheimsekretär Prielmair und legte einen Brief an Steffani bei, mit 
der dringenden Bitte um Antwort. Die hat Steffani zwar versprochen, 
aber wieder sein Wort nicht gehalten; und Kühneis dauernde Anstellung 
zerschlug sich schließlich an der Intoleranz des bayrischen Hofes. 1 ) Beim 
Vergleich mit der offnen und männlich festen Haltung Kühneis erscheint 
Steffanis Rolle bei diesem Handel nicht eben würdig. Sie wird jedoch 
erklärlich, wenn man sich erinnert, daß in jener Zeit der Ausgang des 
Heiratsplans von Max Emanuel mit der Prinzessin Eleonore Erdmuthe 
von Sachsen-Eisenach jede duldsame Regung am Münchener Hofe unter¬ 
drücken mußte. Wurde die lutherische Prinzessin die Gemahlin Max 
Emanuels, so war die von Kühnei geforderte Glaubensfreiheit möglich, 
und Steffani konnte sie mit Recht verbürgen: und er hat später vielleicht 
nur deshalb die Schreiben Kühneis unbeantwortet gelassen, weil er eine 
aussichtslose Sache nicht fördern mochte. 

Die Vertraulichkeit, deren Max Emanuel den Künstler würdigte, 
führte Steffani in jenen Jahren auf die Bahn des Diplomaten. Man sah 
im 16. und 17. Jahrhundert den Künstler als besonders geeignet zum 
Vermittler in Staatsgeschäften an*) — ich denke an Rubens, oder an die 
Sendung des Atto Melani an den bayerischen Hof —für Steffani aber 
ist dieser Schritt bedeutungsvoller geworden als für irgend einen andern 
Diplomaten-Künstler: denn er hat den Schwerpunkt seines Lebens in 


‘) Die Briefe Kahneis abgedruckt von Sandberger, D T B D, 2, S. LXXXI f. 

*) Die Akten des Propaganda-Archivs sollten einmal zum Nutzen der Künstler¬ 
geschichte durchforscht werden. Nach einigen Proben sind sie eine Fundgrube für 
die Geschichte italienischer Musiker an den ketzerischen deutschen Höfen. 


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24 


Agostino Steffani 


seine geistliche und diplomatische Laufbahn verlegt, ohne schließlich die 
hohen Ziele seines Ehrgeizes auch nur annähernd zu erreichen. 

Mit dieser seiner neuen Tätigkeit im Zusammenhang stehen augen¬ 
scheinlich die mehrfachen Geldschenkungen, deren besonderen Anlaß wir 
nur leider nicht mehr zu erkennen vermögen; eben weil der Kurfürst 
ihn zu Sendungen persönlichster Art verwendete, über die die Akten fast 
völliges Schweigen bewahren. So erhielt Steffani am 3. Nov. 1680 die 
Summe von 1200 Gulden 1 ) „auß gewißen Ursachen vnd gnaden“; am 
16. August 1681 1000 Gulden „zu gewißem Ende“. Für Reisen nach 
Frankfurt und Köln im Jahre 1683 werden ihm 489 Gulden vergütet, 
ohne daß wir den Zweck dieser Exkursionen weiter erfahren.*) 

Nur von einer seiner Sendungen haben wir bestimmte Kunde, und 
zwar von der für sein Schicksal folgenreichsten, da sie ihn in Verbin¬ 
dung mit dem Hofe brachte, der seine wahre geistige Heimat in Deutsch¬ 
land werden sollte, und wo er den fruchtbarsten Boden für seine Gaben: 
die musikalische und diplomatische; später für seinen apostolischen Eifer 
fand: — mit dem Hofe des Herzogs Ernst August von Hannover. Am Ende 
des Jahres 1682, wie schon vorher mehrere Male, weilte der hannoverani- 
sche Agent Abbate Lodovico Ballati in München. Er sollte unter dem 
Deckmantel einer allgemeinen Religionsunion — ein solcher Vorwand 
konnte allerdings die langwierigsten Verhandlungen unverdächtig machen! 
— die von dem Weifenhofe lebhaft gewünschte, selbst vom Papst mit 
Vorliebe erwogene Verbindung von Max Emanuel mit der Prinzessin 
Sophie Charlotte betreiben. Der Unterhändler auf bayrischer Seite war 
Steffani. Wir geben sein eigenes Zeugnis wieder aus der obenerwähnten 
Autobiographie von 1706: 

„Ganz Oberdeutschland weiß, daß ich am bayrischen Hof die Ehre der 
allerinnigsten Vertraulichkeit mit dem noch lebenden so unseligen Fürsten 
genossen habe. Um Ihnen einen Begriff vom Maße dieses Vertrauens zu 
geben: — in der heiklen Angelegenheit seiner ersten Vermählung hat dieser 
Herrscher sich einzig des Grafen Friedrich von Preising, Canonicus von Salz¬ 
burg bedient, um die Prinzessin von Eisenach, die später als Kurfürstin von 
Sachsen starb, zu sehen; und meiner, um die Absichten der Prinzessin von 
Hannover, die später als Königin von Preußen starb, zu erkunden. Mein 
Stern hatte damals am bayrischen Hof so gewaltigen Einfluß, daß ich ganz 
allein acht volle Monate dem ganzen Staatsrat des kaiserlichen Hofes die 
Stirn bot, und dem ganzen des Kurfürsten, der vereint mit jenem die Erzher¬ 
zogin Maria Antonia ihm zur Gemahlin wünschte. Er heiratete sie denn 
auch, weil die Prinzessin von Hannover, des Wartens auf den Münchner 


*) Im Landshuter K.-A., fase. 347, seine eigenhändige Quittung darüber mit 
seinem Siegel. 

•) Die Hofzahlamtsrechnungen 1687 verzeichnen noch: „Stephann Augustin 
Priestern, Vermög Ordinanz f. 30—.“ 


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Bescheid müde, dem jetzigen König von Preußen, damals verwitweten Kur¬ 
prinzen von Brandenburg gegeben wurde." 

Wirklich hat sich der Vorgang nach dieser Darstellung abgespielt, 
mit Beschränkung des übertriebenen: „ich ganz allein“: im Gegenteil 
hatte die hannoveranische Partei „in der heiratssache einen gar zue gro¬ 
ßen, vnd starckhen anhalt ..." — so war dem erwähnten Grafen von 
Preising im Falle ihres Gelingens eine jährliche Pension von 10000 Gul¬ 
den vom hannoveranischen Hof zugesagt. Steffani hatte damals einen 
scharfen Beobachter in dem Pfalz-Neuburger Obristkanzler Joh. Ferd. 
Frh. v. Yrsch, aus dessen Berichten wir erfahren, daß Steffani um die 
Wende des Jahres 1682 in Hannover war, mit einer goldenen Kette „ad 
anderthalb pfundt" beladen nach München zurückkehrte, und das Lob 
der geistvollen Prinzessin begeistert verkündete. Dabei scheute er sich 
nicht, ihre Nebenbuhlerinnen, die neuburgischen Prinzessinen Maria So¬ 
phia Elisabeth und Maria Anna, die er auf einer Reise um 1680 ohne 
Erfolg zu Gesicht zu bekommen versucht hatte, gründlich herunterzu¬ 
machen. Er trägt denn auch von seiten Yrschs die Schmeichelnamen 
eines „losen Gesellen" und leichtfertigen Lügners davon. 1 ) 

In dem Maße, als der Wiener Gesandte in München, Graf Kaunitz, 
an Boden gewann, verlor das hannoveranische Projekt an Aussicht auf 
Verwirklichung. Steffani versuchte, wie aus einem von der Herzogin Sophie 
an jenen Ballati gerichteten Brief (15/25. Oktober 1683) hervorgeht, ver¬ 
geblich, die Angelegenheit wieder in Fluß zu bringen, nachdem Max 
Emanuel weitere Verhandlungen mit dem Hinweis auf die Türkengefahr 
bis auf seine Rückkehr aus dem Feldzug verschoben hatte.*) Auch Prei¬ 
sing bemühte sich umsonst, das Hoffnungsfeuerchen wieder anzufachen. 
„Was die bewußte Frage anlangt,“ schreibt Sophie am 16/26. Nov. an 
Ballati,*) „so will der Zehntausendthaler-Mann nicht locker lassen. Er 
hat den Priester [Steffani] angestellt, uns zur Geduld zu verweisen; aber 
man ist bei der Antwort geblieben, die Sie bereits gegeben haben. 4 ) Der 
Wiener Hof trug den Sieg davon, und Steffani selbst hat die Vermählung 
Max Emanuels mit der Erzherzogin durch seine Festoper „Servio Tullio“ 


*) Vgl. Sammelt), der JMG IX, 390 f. 

*) „Le pauvre Steffani sollicite le Seigneur Hortance [Mauro] de faire agrter 
cette rtponse. 11 peste que vous n’fttes plus ä Hanover et je crois que vous serez 
de retour d’Espagne, avant qu’une autre rösolution soit prise." — Publ. aus preuß. 
Staatsarchiven; Bd. 79, herausgeg. von Dcebner. S. 116. 

») ebenda, S. 119. 

4 ) Sophie gab übrigens nicht alle Hoffnungen auf, Max Emanuel wenn nicht 
mit ihrer Tochter, so doch mit ihrer Nichte Charlotte Felicitas zu vermählen. Man 
* vgl. ihren Brief an Ballati (a. a. O., S. 123) vom 8/18. Februar; auch den nächsten 
Brief vom 12/22. Mai 1684. Auch diese Hoffnung war vielleicht ein Gegenstand der 
Korrespondenz von Steffani mit Hannover. 


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Agostino Steffani 


verherrlicht. Mit ebenso schlechtem Erfolge wie im Jahre 1683 hat er 
zehn Jahre später nochmals den Versuch gemacht, Max Emanuel der 
Heirat mit einer hannoveranischen Prinzessin, diesmal einer der Töchter 
der Pfalzgräfin Benedikta, geneigt zu machen: war ihm 1683 der Wiener 
Hof entgegen, so 1693 der Madrider. Den einmal gebahnten Weg nach 
Hannover aber hat der kluge Abbate nicht mehr verfallen lassen; wir 
werden später, bei seinem Abschied von München, im Zusammenhang 
darauf zurückkommen. 

Zum Priester war Steffani im Lauf des Jahres 1680 geweiht wor¬ 
den. Damit erschloß sich ein neues Feld für die kurfürstlichen Gunst¬ 
bezeigungen. 

Am 4. Dezember 1682 bestätigt Max Emanuel seinem Residenten 
in Rom, Abbate Pompeo Scarlatti, den Empfang der päpstlichen Bolle, 
betreffend die Pfarrpfründe „Leipsing:“*) 

„Hö ricevute le bolle da lei inviate intorno al benefizio di Leipsing, e 
trovato buono quanto m’ ha piü abondantemente rapresentato sopra questo 
affare. Intanto non manchi ella di ringraziar nuovamente in mio nome 
Monsignor Liberati, ed attestargli la stima distinta e la memoria che con- 
serverö al suo singolar merito, ed alla prontezza obligante, con cui egli ha 
avuto mira di compiacermi.“ 

Monsignor Liberati war Sottodatario der Kurie; und es bedurfte 
in der Tat besonderer Vqrkehrungen bei der Übertragung der kleinen 
Pfründe an Steffani. 

„Der Pfarrort Lepsingen in der Grafschaft Öttingen-Wallerstein war 
ganz protestantisch, die Pfarrpfründe jedoch in katholischem Besitze ge¬ 
blieben. Sie wurde Propstei genannt und als Sinekure abwechselnd vom 
Augsburger Domkapitel und dem Grafen von öttingen vergeben. Meist 
hatte ein Augsburger Domherr sie inne“*) Steffani erhielt die Pfründe 
auf die Fürsprache Max Emanuels hin im Mai 1683 übertragen und zwar 
weder durch das Kapitel, noch durch den Fürsten von öttingen — doch 
mußte er sich diesem am 15. des Monats durch Revers verpflichten, 
„daß er diese Pfarr künftighin niemand anders, dan unß“, und nur in 
den sechs ungeraden Monaten alten Kalenders, „alß in welchen unserm 
fürstlichen Hause die Collatur zustehet, resigniren wolle.“ Steffani hat in 
einem Briefe an Conte Fede vom 22. Juni 1704 die Vorkehrungen der 
Dataria bei dieser Übertragung selbst geschildert:*) 

„Durch Verzicht des Grafen von Castel, später Bischof von Eichstätt, 
war die kleine Abtei Lepsing bei der Kurie erledigt: der Besitzer beanspruchte 
die Präpositur Augsburg, die er auch erhielt. Seine Heiligkeit Papst Inno- 

*) St-A., K. schw. 314. 9. 

*) Woker, a. a. O. 1885, 2. Vgl. Steichele, Das Bisthum Augsburg, S. 1244. 

») St.-A., K. blau 85. 16. 


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Agostino Steffani 21 

zenz XI. gab sie mir, indem er für dieses eine Mal das Juspatronato des 
Augsburger Domkapitels, und des Fürsten von öttingen aufhob. Das päpst¬ 
liche Diplom wurde mir geschickt; aber da man an der Willfährigkeit des 
lutherischen Fürsten dem Heiligen Stuhl gegenüber zweifelte, so schickte mir 
einige Wochen nach Empfang des erwähnten Diploms die päpstliche Kanzlei 
ein anderes, und zwar mit einer Datierung, die mit dem Datum des Verzichts 
meines Vorgängers durchaus nicht übereinstimmte. Dieser Akt kann . . . 
nur von bemerkenswerter Vermessenheit als Unredlichkeit getadelt werden, 
denn er hatte keinen anderen Zweck, als den unbequemen Einspruch des 
Fürsten zu vermeiden.“ 

Aber auch von katholischer Seite ging die Übertragung des Benefi- 
ziums nicht ohne Widerspruch vor sich. Das Augsburger Domkapitel erhob 
lauten Protest bei Max Emanuel, daß es die „von ohnfürdenklichen Jahm 
hero ohn underbrochnen Innen gehabten Pfarr Lepsingen durch deren 
Ihrem Hoff Caplan vndt Directori Musices Herren Augustmo Steffani in 
Curia Romana beschechene Collation“ verlieren solle, 1 ) und bat, daß 
„zue abwendung obangezogener prceiudiciorum ernannter herr Augustin 
Steffani Sich berührter Pfarr Lepsingen begeben, vndt etwan mit einer 
anderweitigen Gnad oder beneficio aintweders in Ewer Churfürst. Drt. 
Eignen Churfürstenthumb vndt landen, oder aber von Ihrer Päpst. Heyli- 
keitt vermittelst Ihrer hohen Interceßion providiert werden möge.“ Und 
der Bischof von Augsburg, Johann Christoph, hielt die Sache für wichtig 
genug, den Deputierten des Kapitels eine Empfehlung an den Kurfürsten 
mitzugeben.*) Auch später schützten alle Vorkehrungen — sie wurden 
sogar in den Geheimratssitzungen besprochen 8 ) — Steffani nicht im un¬ 
gestörten Besitz der Pfründe. Im Jahre 1692 nahm der Baron von Au 
Steffanis Abgang aus dem Dienst Max Emanuels zum Vorwand, sie ihm 
streitig zu machen. Er sicherte sich in München den Beistand des Ge¬ 
heimrats Frh. v. Wampl, des bayrischen Vizekanzlers, sondierte in öttin¬ 
gen, ob man wider ihn nichts einzuwenden habe, und erhielt günstigen 
Bescheid, im Falle der Fürst bei Max Emanuel durch die Ausschließung 
Steffanis keinen Anstoß errege. Am 17. September ging auch schon an 
Steffani ein Schreiben des Fürsten Albrecht Ernst von öttingen ab, mit 
der Aufforderung seinem Revers gemäß zu resignieren, da „gedachte Pfarr 
Löpsingen, vermög der alten jederweiligen Observanz und gewohnheit, 
niemahls von einig anderer Person, oder Subjecto genoßen worden, als 
welche ohnfern von hier einen fixam sedem gehabt;“ — man habe schon 
lang auf seine Resignation gewartet, nachdem er die kurbayrischen 
Dienste verlassen. — Steffani sträubte sich gegen den Verzicht mit Hän- 

*) St-A., K. schw. 83. 14. Augsburg, s. d. (15. Dez. 1682.) 

*) ibid., Dillingen, 24. März 1683. 

*) K.-A. München, Fragmente von Geheimrats-Protokollen; H. R. Fase. 254. 
12. April 1683. „ ... mit dem Steffani zu reden, damit Er den offertum [die Pfarr 
Lepsing betreffend] annehme.* Vgl. auch die Protokolle von 1694. 


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Agostino Steffani 


den und Füßen: er schrieb einen fulminanten Brief an einen geistlichen 
Gönner in München mit der Bitte, Max Emanuel zu erneuter dringender 
Verwendung für ihn beim Fürsten von öttingen zu veranlassen, des 
Kurfürsten Empfehlungen für Baron von Au einzuschränken, und dahin 
zu wirken, daß er lebenslang im Genuß des Beneiiziums bleibe, usw. 1 ) 
Am 4. November 1693 ließ Max Emanuel in diesem Sinn an den Fürsten 
schreiben; und wie es scheint mit Erfolg. Denn bis zum September 
1706, seitdem er den Bischofstitel hinter seinen Namen setzen kann, 
unterzeichnet Steffani nicht anders als Abbate di Lepsing. Ärger hat ihm 
seine Abtei auch später noch verursacht. Am 1. September 1709 hat er 
sich beim Fürsten von öttingen zu beklagen; 1713 schmälert ihm dieser 
seine Einkünfte. 1 ) Am 21. März 1709 nennt er sie „rovinata dalla Guerra, 
e dairintemperie“ — doch trug sie ihm in dem Quinquennium von 
1718—1722 immer noch 7355 Reichstaler ein, wonach sich berechnen 
läßt, daß ihr Ertrag in früheren Jahren nicht gering war. 

Nicht daß Steffani seinen Abtstitel mit einem höheren noch unter 
Max Emanuel nicht gerne vertauscht hätte. Er scheint eine Präbende 
im Mailänder Gebiet begehrenswert gefunden zu haben: darauf erklärte 
Scarlatti in Rom zwar seine Willfährigkeit:*) 

„di promuovere il desiderio di Don Agostino Steffani, trottandosi d'un 
Suggetto di merito, da me ottimamente conosciuto. Non lascierö per tanto 
d’informarne il Pontefice, e questi Signori, che, con il credito de proprij offi- 
zij, potranno Contribuire al buon esito del negozio, che io, per me, suppongo 
sia per spuntarsi, mediante l’autorevole intercessione di V. A. E. subito, che 
se n’offerisca qualche adequata apertura nel Dominio di Venezia, giä che i 
benefizij del Milanese, non possono conferirsi, per concordato, che ä soli 
nativi di quello stato, ä segno che la provisione se ne difficulta ä medesimi 
Cardinali, che sono d’altra Patria. Fissandomi dunque di proposito su’l paese 
Veneto, ne parlerö della prossima Settimana, con tutta l’efficacia possibile, 
ä Monsignor Liberati per disporre le necessarie prevenzioni, in modo, che 
venghino ad abbreviarsi le lunghezze solite di questa corte . . .“ 

Der Kurfürst antwortet darauf am 25. Januar 1686: 

„. . . le repplico che mi sarä carissimo ch’egli [Steffani] n’ottenga uno 
[benefizio] quanto prima, ma di buon accomodamento nel Dominio Ve¬ 
neto . . .“ 

und Prinz Joseph Klemens sekundiert, am 22. Februar: 

„Da ich wie mein erlauchter Bruder den Wunsch hege, sobald als mög¬ 
lich Don Agostino Steffani wohl versorgt zu sehen, so empfehle ich ihn mit 
der Beilage 4 ) an Kardinal Ottoboni, in der Gewißheit, Seine Eminenz könne 


*) St-A., K. schw. 74. 5. 

*) Woker, „Katholik“ S. 316. 
*) St-A. K. schw. 314. 15. 

4 ) nicht erhalten. 


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Agostlno Steffani 


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ihm höchlich nützen . . . und handeln Sie so, daß der arme Don Agostino 
an Ostern die Heilmittel für seine Leiden aufsuchen kann, die ihn gegen¬ 
wärtig ans Bett fesseln.“ 

Scarlatti kann auch am 15. März zurückschreiben: 

„Sono awisato che vachi nella Diocesi di Padova l’Arcipretato di Tri- 
fano per morte del Gibellini, a cui fu conferito ad istanza del Signor Cardi¬ 
nal Ottoboni. E perche questa provista sarebbe propria per Don Agostino 
Steffani, bramo perciö ch’ella impieghi tutti i piu pronti, e piu necessarij uffi- 
cij ad effetto di conseguirla dal Signor Cardinal Barberigo a cui credo spetti 
di conferirla. E perche potrebbe darsi che aH’arrivo delle istanze fosse il 
detto benefizio giä dispensato vorrei perö che cosi il detto Vescovo, come 
quello di Treviso, Vicenza, Verona, ed altri fossero preoccupati, ed impe- 
gnati per la prima buona vacanza a fin che non dipendendo da Sua Santitä 
possa ottenerla dal Vescovo quanto prima . .“ 

Trotz aller Empfehlungen 1 ) wurde Steffani nicht Erzpriester; „hier 
schläft der Papst, und mit ihm schlafen alle Geschäfte der Kurie,“ schreibt 
Scarlatti in jenen Jahren des öfteren. Als Innozenz starb, war Agostino 
schon im Dienst eines reformierten Fürsten. 

Im Jahre 1685 läßt Steffani, „auf Bitten von Freunden“, wieder ein 
musikalisches Werk im Druck erscheinen. Am 13. März 1684 befiehlt 
der Kurfürst dem Geheimsekretär Kaspar Huber, „dero Hof Buech Tru- 
ckhem H. Johann Jäckhlin zu bedeutten, daß er dem Churfürstl. Camer 
Music Directom Herrn Augustino Steffani Priestern, seine componierte 
Muteten truckhen solle.“ Trotz diesem Befehl verzögerte sich das Er¬ 
scheinen des „Sacer Janus Quadrifrons tribus vocibus vel duabus quali- 
bet praetermissa modulandus“ noch ziemlich lange: Steffani kann die 
Widmung des Werkes an den Kurfürsten erst am 15. November 1685 
unterzeichnen. Sie ist charakteristisch genug. Aus den klassischen Auto¬ 
ren und denen der Heiligen Schrift wird, wie üblich, die Würde der Musik 
belegt, um durch die Hoheit der Gattung die Geringfügigkeit des Werks 
und die Unzulänglichkeit des Schöpfers zu decken — eine Wendung, 
die gegen die Geschmacklosigkeiten der Widmung der „Psalmodia“ sehr 
absticht. Auch daß er es wage, den großen Türkensieger mit einem 
kleinen musikalischen Werk zu bedenken, wird durch Zitate zur Bekräf¬ 
tigung der Behauptung: „non male Musica convenit armis“ entschuldigt. 
Die Motetten, offenbar in einem längeren Zeitraum entstanden, haben 
zum Teil „aktuelle“ Beziehungen; man findet in einer die Bitte um Ab¬ 
wehrung der Pest; eine andre (II) ist ein Aufruf zum Kampfe, die lOte 
eine Bitte an die heilige Jungfrau um Frieden. Solche Battaglie und 
Preghiere, auch viele instrumentale, hat der Türkenkrieg damals in großer 
Anzahl gezeitigt. Ob außer der großen Regelmäßigkeit der Anlage: 
3 mal 4 Motetten, und 48 Stücke, das Werk noch ' andere Analogien 

■) Vgl. K. schw. 266/7. 


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Agostino Steffani 


mit dem antiken Bogen am Forum boarium in Rom hat, das zu erraten 
reichen meine archäologischen Kenntnisse nicht aus. Steffani wollte 
in seinen Motetten Kunststücke in jedem Sinne liefern. Das Obligo, in 
den dreistimmigen Sätzen — zweistimmige kommen natürlich nicht vor — 
jede der drei Stimmen entbehrlich zu machen, zwang ihn zur feinsten 
und geistreichsten Arbeit, zur schärfsten Ziselierung der Motive, zum 
Verzicht auf alles, was nach Füllstimme aussieht. In der Tat ist in 
diesem Werke nur melodisches Gold von lauterstem Gehalt; die Eigen¬ 
tümlichkeit und Zartheit des Ausdrucks, die Einfachheit der Mittel bei 
größtem harmonischen Reichtum, der Schwung der Melodik bei strenger 
Führung der Stimmen ist unnachahmlich. Ich möchte hier auf das drei¬ 
stimmige Sätzchen „Salve virgo“, und auf das folgende Solo des II. So¬ 
prans in der ersten der in den „Denkmälern der Tonkunst in Bayern* 
veröffentlichten Motetten hinweisen. Steffani gilt als Eklektiker, weil er 
in der Oper venezianische Elemente mit französischen mischte — kein 
Urteil ist falscher bei einer so starken, wenn auch feingearteten Persön¬ 
lichkeit. Er hatte recht, die Originalität seiner Leistung in der Vorrede 
zu betonen, mag sich auch im allgemeinen durch viele Werke des 16. 
und 17. Jahrhunderts mit einer oder mehreren Stimmen ad libitum be¬ 
legen lassen, daß sein technisches Verfahren nicht neu war. 

Vor die Dedikation des Sacer Janus, in den Sommer 1685 fallt 
eine weitere Reise Steffanis nach Italien. In einem undatierten Schreiben 
— es muß in den Juni fallen — sagt er: da alle Heilmittel nicht an¬ 
schlagen wollten, die er seit acht vollen Monden gegen seine Unpäßlich¬ 
keit gebrauche, besonders gegen eine lästige Erkältung und unaufhör¬ 
lichen Schwindel, so bitte er um Urlaub, solange der Kurfürst im Felde 
weile und seiner Dienste nicht bedürfe, um in der milden Luft und bei 
den Ärzten Italiens Heilung zu suchen. Zur Bestreitung der Reisekosten 
bitte er um Auszahlung des Geschenks, das ihm die kurfürstliche Gnade 
für die Komposition der beiden letzten Opern — es müssen „Solone“ 
und der Torneo „Audacia e rispetto* sein — zugedacht habe. Er könne 
bei der Ankunft „jener zwei Sängerinnen“ zurückkehren. Man sieht, der 
„Servio Tullio* warf seinen Schatten schon voraus. Mit Dekret vom 
27. Juni verehrte der Kurfürst auch dem Supplikanten „wegen seiner 
gemachten Zwayen Operen vnd Zur beyhülfe seiner nach Italia Zu Ver¬ 
richtung einer Bad-Kur vorhabenden Raiß“ 750 Gulden. 1 ) 

Eine Erinnerung an diese Reise liegt vielleicht der seltsamen Behauptung 
Riccatis zugrunde, „daß Steffani in diesem Jahr als Tenorsänger an der 
Capella del Santo in Padua angestellt wurde. Diese Tatsache ist ganz sicher, 
obschon der Akt der Anstellung sich nicht hat finden lassen, trotz sorgfältiger 
Durchsicht der Zahlbacher unter Beihilfe des sehr gelehrten Herrn Grafen 

') Kirchenm. Jahrb. 1891, S. 73, 74. Hofzahlamtsrechnungen. 


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Domenico Polcastro. Man hat vielleicht die Eintragung unterlassen, weil die 
Fürsten von Braunschweig und Hannover bei ihrer Durchreise durch Pa¬ 
dua ... ihn in ihren Dienst nahmen, und er die Kapelle nach wenigen 
Monaten verliefe.“ 

Mit Ernst Augusts Besuch in Padua hat es seine Richtigkeit. Ich 
weife freilich nicht, ob er sich solange in den Sommer ausgedehnt 
hat, dafe Steffani den Herzog noch in Italien zu Gesicht bekam — im 
folgenden Jahre 1686 z. B. traf der Fürst am 19. April in Rom ein und 
kehrte erst Ende Mai nach Venedig zurück. 1 ) Jedenfalls erinnert Steffani 
den Abbate Mauro an seinen Paduaner Aufenthalt vom Jahre 1685 noch 
in einem Briefe von 1723: (Padua 15. Juli): 

„. . . Padoue, oü Vous avez laissä un Souvenir qui doit Vous satis- 
faire. II y a des gens, qui se souviennent encore de Vous avoir veu; et s’en 
souviennent avec plaisir. Ils ne sont pourtant pas en grand nombre; puisque 
moy mesme Je n’y trouve que peu d’Amys de ce temps lä. Le Comte Fran¬ 
cois Cittadela; le Comte Jerosme Frigimelica; L’Abbä Lazzara qui se sou- 
vient Vous avoir veu l’an 1685 chez un Tiepolo, que Je ne connois pas; Les 
Contes Zacco; et par lä les Litanies finissent . . .“ 

— und beklagt später die Veränderung, die mit der Stadt vorge¬ 
gangen (Padua, 10. Febr. 1724): 

„ne Vous plaignez point de la solitude de Hannovre: si Vous aviez le 
sort de voir celle de ce Pays cy, que n’en diriez Vous pas? Pour vous en 
donner une Idäe, Je vous dirai que depuis prez d’un an que J’y suis, Je n’ay 
Jamais encore renconträ deux Gentishommes ensemble par les rües. Vous, 
qui l’avez veu dans le temps de nostre Jeunesse, serez frappä d’un si 
terrible changement“ 

Ausgeschlossen ist, dafe Steffani seine Erholungsreise statt nach 
Italien, nach Hannover angetreten habe, wie Rudhart,*) und nach ihm 
Chrysander s ) will: sowohl seine Supplik, wie die Dekrete sprechen 
dagegen. Sicher aber war er im Herbst wieder in München zur Vor¬ 
bereitung des „Servio Tullio“; und beim Einzug des Kurfürsten mit 
seiner Gemahlin in München, am 9. Oktober, wird er schwerlich gefehlt 
haben. Ob er im folgenden Jahre wieder nach Italien gegangen ist, wie 
das obenerwähnte Schreiben des Prinzen Joseph Klemens nahelegt? 

Für den Karneval 1687 und 1688 machte die häufige Abwesenheit 
Terzagos nötig, ihn als Textdichter zu ersetzen: Luigi Orlandi schrieb für 
Steffani den Text für seine beiden letzten Münchener Opern „Alarico 
il Baltha“ und „Niobe, regina di Thebe“, wohl seinen reifsten der Mün¬ 
chener Zeit, wie auch Orlandi an Gewissenhaftigkeit der Mache, und 

*) Gesandtschaftsberichte aus Rom, St. A. K. schw. 314, 15; K. blau 72. 1. 

*) S. 82 f. 

*) Jahrb. II, 333. 


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Agostino Steffani 


Sorgfalt der Charakteristik Terzago um einiges überragt 1 * * ) — soweit von 
beidem bei venezianischen Operndichtern dieser Zeit die Rede sein kann! 

Am Ende des Jahres 1687 starb Ercole Bernabei — er wurde am 
6. Dezember in den Grabstätten der Theatiner beigesetzt — und am 
16. Januar 1688 folgte ihm sein Sohn als Kapellmeister nach. 

Agostinos Entschluß, München zu verlassen, steht mit der Ernennung 
Giuseppe Antonio Bernabeis zum Kapellmeister sicherlich im Zusammen¬ 
hang, wenn er auch nicht allein darauf zurückzuführen ist, und es eines 
Anstoßes bedurfte, ihn zur Reife zu bringen. Steffani konnte nicht selbst 
auf die Kapellmeisterstelle gerechnet haben, da der Vorrang Bernabeis 
vor ihm seit 1681 festgelegt war. Solange Ercole lebte, mochte das 
Verhältnis erträglich sein; außerdem „bestand für die Kompetenz und 
Stellung des Kammermusikdirektors gegenüber dem Hof- und Vizekapell¬ 
meister eine genaue Dienstinstruktion, welche ihre Entstehung der Riva¬ 
lität zwischen den beiden Bernabei und Agostino Steffani verdankte.“*) 
Als Ercole starb, mußte die bisher latente Unterordnung Steffanis unter 
Giuseppe Antonio sich tatsächlich vollziehen — das mag ihm denn doch 
sauer angekommen sein. Außerdem hatte er Schulden, deren Höhe fast 
der Summe zweier seiner Jahresbesoldungen gleichkam, und zu deren 
Tilgung es einer außerordentlichen Finanzoperation bedurfte. 

Er knüpfte mit dem hannoveranischen Hofe Verhandlungen an, die 
im April oder Anfang Mai zum Abschluß gediehen sein müssen. Am 
9./ 19. Mai 1688 wenigstens schreibt Kurfürstin (damals noch Herzogin) 
Sophie an ihre Tochter Sophie Charlotte: „Herr Steffani gefällt sich nicht 
mehr in München: er wird kommen den Herrn Herzog bedienen. Das ist 
noch ein Geheimnis, denn er hat den Abschied von seinem Herrn noch 
nicht erbeten.“*) Was seine Blicke hauptsächlich auf Hannover lenkte, 
ist unschwer zu erraten. Der Neubau eines Opernhauses in Hannover 
eröffnete ihm die Aussicht auf eine ruhmvolle Tätigkeit als Opemkom- 
ponist; vielleicht haben auch Erwägungen oder Witterungen mitgespielt, die 
in der politischen Haltung des bayrischen und welfischen Hofes ihr Funda¬ 
ment hatten. Endlich mußte der Vergleich des kultivierten Weifenhofes mit 
der Crudität der Münchener Gesellschaft sehr zugunsten von Hannover 
ausfallen. Für diese Crudität haben wir ein Zeugnis 4 ) von Gottfried Wil¬ 
helm Leibniz, und Steffani spielt eine Rolle dabei. Der große Polyhi¬ 
stor und Philosoph befand sich um Ostern 1688 am Beginn seiner großen 
Forschungsreise zur Aufhellung des Ursprungs des Weifenhauses. In 


l ) Rudhart, S. 80. 

*) Sandberger, D T B I, S. XXII. 

*) E. Berner. Aus dem Briefwechsel König Friedrichs I. von Preußen und seiner 
Familie. Berlin 1901. 

4 ) Leibniz, opp. I, 5, S. 331 f. 


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Agostino Steffani 


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der kurfürstlichen Bibliothek zu München hoffte er in den Handschriften 
des Aventin wichtige Aufschlüsse darüber zu finden. 

»Als ich aber“ — wir lassen ihn selbst reden — „alda angelanget, hat 
man überauß grobe Schwührigkeit gemacht, die Bibliothec und darinn befindt- 
liche Manuscripta zu zeigen; daher als ich solches euserlich vermercket, und 
soviel vernommen, daß wenn ich mich bey den Ministris deswegen angeben 
würde, wenig zu erhalten seyn dürffte, ... so hab ich mich zwar bey dem 
Bibliothecario angemeldet, als aber solcher zu vernehmen geben, dab ohne 
ausdrücklichen befehl seines gnädigsten Churfürsten und Herrn niemand 
hinein gelassen würde, habe ich nicht gesäumet, ehe etwa vorgebauet werden 
möchte, durch den Herrn Agostino Stephani, einen geistlichen und churfürst¬ 
lichen Ca/*//meister, so ehemahlen zu Hanover gewesen und grobe veneration 
gegen unsere gnädigste Herrschaft bey allen gelegenheiten bezeiget, bei. . 
Sr. Churfürstl. Durchlaucht die gnädigste Vergünstigung zu begehren, die 
auch sofort erhalten . .“ 

Diese Vergünstigung wurde unter kleinlichen Vorwänden bald wider¬ 
rufen. Leibniz hat seinem gerechten Ärger darüber in einem Brief an 
Steffani Luft gemacht, aus dem man alle Umstände leicht ersehen kann; 1 ) 
er hat gleichzeitig Steifanis Betragen volle Gerechtigkeit widerfahren 
lassen, und nicht versäumt, es nach Hannover zu melden: so in einem 
Brief an die Herzogin Sophie:*) 

„Herr Agostino Steffani, der erfüllt ist von einer wahren Ergebenheit 
gegen Eure Hoheit, und nur mit begeisterter Verehrung von ihr und meinem 
erlauchten Herrn spricht, hat mich sehr unterstützt, und mir im Verein mit 
seinem Bruder [Ventura Terzago] und Herrn Baron Scarlatti,*) dessen Bekannt¬ 
schaft sie mir vermittelt haben, alle Gefälligkeiten erwiesen.“ 

Zu den bemerkenswerten Dingen in dem Bericht Leibniz' gehört 
das Wort „ehemahlen*, französisch „autrefois“. Es würde nicht passen, 
wäre Steffani wenige Monate vorher oder auch nur 1686 und 1685 in 
Hannover gewesen; während es sich mit dem weiter zurückliegenden 
Besuch von 1682/83 sehr gut vereinigen läßt: es zeigt auch, daß es bei 
diesem einen Besuch verblieben ist. Der Korrespondent Steffanis in 
Hannover war Hortensio Mauro. Mit ihm pflegte Steffani seit langem 
einen Briefwechsel über politische Dinge, wie uns ebenfalls Leibniz be¬ 
zeugt; 4 ) er wird auch die Mittelsperson bei den Verhandlungen von 1688 
gewesen sein. 

Den Anstoß zum Abzug der Familie Steffani — der beiden Brüder 
und ihrer Mutter; der Vater ist wahrscheinlich Ende 1682 gestorben, 

*) Vgl. Leibniz, opp. edd. Klopp I, 5, S. 379 ff., ferner den Reisebericht S. 331 f. 

*) Leibniz, opp. edd. Klopp 1, 7, S. 12. Undatiert, Ostern 1688. 

*) Gio. Battista Scarlatti. Ober die Scarlattis vgl. Heigel, Quellen und Abhand¬ 
lungen I, 69 und besonders 76. 

*) Werke, I, V, S. 373. 

KhrhanmmlV Jahrbuch. 23. Jahrj. 3 


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34 


Agostino StefFani 


die Schwester blieb im Kloster der Salesianerinnen — aus München gab 
eine Beleidigung, die Terzago durch den Grafen von Sanfrt erlitt Stef- 
fani schreibt darüber (an Frigimelica, Neuhaus 21. 111. 1716): 

„Jo ho havuta la sorte di servire. . 22 anni della mia prima Gioventü 
la Corte di Baviera. 11 torto che vi ricevfc la b. m. del mio defonto Fratello 
da chi riconosceva da me solo tutte le sue fortune, e tutte le sue grandezze, 
mi costrinse ad abbandonarla . .“ 

und am 11. Juli 1706 an Fede: 

„Partij da quella Corte di mala grazia per un aggravio fatto ad un 
mio unico fratello dal Conte di Sanfrt che doveva a me solo tutte le sue 
fortune.“ 

Anton Franz Maximilian Graf von Sanfrd war Gentilhuomo della 
Camera und seit 1684 Tenente della Guardia de Trabanti, e Tenente 
Colonello d’Infanteria Max Emanuels; 1692 wurde er Obristhofmarschall; 
er starb in der Schlacht bei Höchstädt. In welcher Art er Terzago ver¬ 
letzte, weife ich nicht. Wir wollen Terzagos Schicksal gleich zu Ende 
verfolgen, und zwar nach Agostinos eigener Darstellung. 1 ) Er schreibt: 

„ . . mein Bruder hiefe Ventura Terzago, ein Name, den er durch die 
Adoption eines Bruders meiner Mutter trug, der 60 Jahre in Oberflufe gelebt 
hat, ohne sich je vermählen zu wollen, obwohl er der letzte Sprofe seiner 
Linie war. Was er besaß, weife ich nicht: nur weife ich, dafe seine Freunde 
ihn ohne Erfolg dazu bewegen wollten, zur Zeit des Krieges von Candia die 
Venezianische Nobilitat zu kaufen. Dazu bedarf es bekanntlich 100000 vene¬ 
zianische Dukaten: also muß er mehr besessen haben. Welches Kapital 
er seinem Adoptivsohn, und Universalerben hinterlassen hat, ist mir auch 
nicht bekannt. Wie unklug! werden Sie sagen. Verzeihung. Da ich meinen 
Bruder gleich meinem Oheim fest entschlossen sah, kein Weib zu nehmen, 
so waren die Rechnungen, wie ich voraussetzte, richtig, im Fall ich vor ihm 
starb: und ging er vor mir dahin, so war ich sein einziger Erbe. So weife 
ich denn nicht, wie groß sein Vermögen war; doch weife ich mit der ganzen 
Stadt Padua, wie mein Bruder sein Leben führte ... er hatte seine Pferde 
im Stall, seine Dienerschaft im Hause, seinen Hausrat, sein Silberzeug, seine 
Juwelen, seine Bibliothek: kurz alles was zu einem würdigen Leben und einem 
maßvollen Luxus gehört Es fügte sich, daß nach dem Tod meiner Mutter, 
[1692] die mein Bruder, wie es Kindespflicht, zärtlich liebte, ihn die Schwer¬ 
mut befiel. Er schloß sein Haus und zog sich in das eines befreundeten 
und benachbarten Edelmanns zurück, namens Marc’ Antonio Franchini. Dort 
war er keine 8, oder 9 Monde, als er an einem Wechselfieber starb ... [1693]. 
Man gab mir Nachricht von seinem Tod . . . was glauben Sie, wieviel mir 
aus der Erbschaft zuflofe? 4000 Ducaten Erlös aus dem Hausrat, der allzu 
sichtbar war; und sonst? nichts .. nicht einmal ein Fetzen eines Dokuments..“ 

Steffani hat später gerne von seiner inaspettata e brusca partenea 
aus München gesprochen, und dem ungnädigen Abschied, den er erhielt. 

*) in dem erwähnten Brief an Conte Fede, 11. Juli 1706. 


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Agostino Steffani 


36 


JDem ist nicht so; im Gegenteil war die Lösung seines Dienstverhält¬ 
nisses eine friedliche, ja ungewöhnlich gnädige. 1 ) Die Akten sprechen 
in Zahlen eine deutliche Sprache: 

Decret vom 14. Mai 1688.*) Demnach Ihre Churfr. Dhr. in Bayrn . . 
dero Cammer Music Directom Augustin Stephani, auf sein gehorsamestes 
Anlangen, die gnedigste conceßion gethan, daß er sich widerumb ins Welsch¬ 
land vnnd anderwertshin begeben möge. Alß haben Sie sich gnedigst resol- 
virt, ihme in ansehung seiner ein vnd zwainzig Jährig gueten Dienerschafft 
nit allein das ausstendig vnd diß lauffende Quartal alsogleich; sondern hin- 
nach auch vom Julio an auf drey Jahr seinen habenden sold, dene er 
geniessen kan, wo er will, zu einem recompens unweigersamblich au&folgen 
zu lassen . . . 

Decret vom 16. Mai.*) Allweilen aber er vnnterthenigist gebetten, die 
gnedigste anbefelhung Zuthuen, das von sothan gnedigst verwiegtem 3. Jahrs 
Sold seine hiesig habende Creditores dauon bezalt werden: vnd er vmb so 
sicherer von hier abraisen möge, deme Sie gnedigst statt gethon. A1& be¬ 
fehlen Se. Churfrt Dhl: dero Hof Cammer Rhat, vnd Hofeahlmaister hiemit 
gnedigst, das er gedachte Schuldner, deren Zetln ad specificationem berüerter 
Stephani schon ausantwortten wird, Qbememmen, selbige bezahlen vnd 
was noch an dem 3 iährigen Sold aberbleiben wird, ihme Stephani aber¬ 
machen solle. 

Die Hofzahlamtsrechnungen fügen dem hinzu: 

. . Weillen dann sein bsoldung des Jars 1060 f: gewesen, vnd solche auf 
3. Jahr 3240 f. austragt, warvon mann 1959 f. angewisene schuldten alhie 
entrichtet, vnd das Ybrige als 1281 f. mitls eines wexlbriefs nacber Venedig 
ybermacht, wie die beiligente bscheinung auswaiset, So wirdt angeregte 3. ieh- 
rige besoldtung, als ein bezalter recompens, neben 142 f. wexl vncossten, 
welche von den 1281 f. auf weiteres mündliches anbefelchen, vnd erleittern, 
wie das sich das Decret dahin verstehe, crafft sonderbam schein abgestattet 
worden, pr: Ausgab gebracht, zumahlen das 1. vnd 2te. Quartal hernach bei 
den besoldtungen eingetragen ist, so trifft zusammen f. 3382.—*) 

Auffallend ist, und ist auch Rudhart aufgefallen, daß in diesen 
Dokumenten nirgends erwähnt wird, daß Steffani sich nach Hannover 
wenden wollte: er bekommt ganz allgemein die Erlaubnis, sich mit seiner 


') Auch Tersagos Verabschiedung war eine gnädige. Max Emanuel schreibt 
am 31. Mai 1688 an seinen Agenten Trevano in Venedig: „Avendo noi benignamente 
condesceso alle umiüssime istanze fatteci dal Terzago nostro Consigliere e Segre* 
tario di Stato di poter ritomarsene in Italia, per accudire k suoi parti colari interessi, 
& nostra intenzione che voi abbiate la stessa cura delle sue lettere, ed altro, come 
per il passato . . [K. schw. 266. 7.] 

*) R.-A. 5. Abth. A, Serie 28 u. 29, 425. 

*) K.-A., Personalakt 

*) Die Hofzahlamtsrechnungen fQr 1688 verzeichnen noch: „Mathias Kayser Buech- 
binder vmb fQr den Augustin Stephani Directom bei der Hof Music, gemachte arbeith 
Laut zetl f. 140.“ 

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36 Agostino Steffani 

„Abfertigung" in die Heimat oder anderwärts zu verfügen. Der Grund 
ist, daß ein Rttcompens, eine Belohnung für langjährige Dienste, nur einem 
in den Ruhestand tretenden Diener gewährt 2ü werden pflegte, nicht 
einem in den Dienst eines andern Fürsten übergehenden. Ebenso unge¬ 
wöhnlich war es, von einem Reeompens Schulden zu bezahlen: das 
hört man dem indignierten Bericht des braven Hofzahlmeisters Georg 
Unertl ordentlich an. Das Ganze stellt sich also wohl dar als ein 
Schachzug der Hofkatnmer gegenüber, von dem Max Emanuel gar wohl 
gewußt haben wird. 

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Steffani ging denn im Mai nach Venedig, wo vielleicht sein neuer 
Herr noch weilte: wenigstens wurde ihm tm Karneval Zianis Oper 
„L’inganno regnante" gewidmet 1 } — im August 1688 aber ist er bezeug¬ 
termaßen schon in Hannover. M 




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') Galvani, 1 teatri musicali di Venezia 48, ferner 96. 

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I 

■ 

Beiträge 

■ 

■ 

zur Geschichte des französischen Orgelspiels 

■ 

■ 

Von Ernst v. Werra—Beuron 

■ 

H 

111 ■ ■ ■ - 

I 


F rankreich, und zwar dem Vater des französischen klassischen 
Orgelspiels, Jean Titelouze, sollen die diesjährigen Bei¬ 
träge 1 * * ) gewidmet sein; denn nicht nur in Deutschland, sondern selbst in 
Frankreich hat man diesem Teile der Musikgeschichte bis vor einigen 
Jahren leider wenig oder gar kein Interesse entgegengebracht, wie ver¬ 
schiedene Stellen dieser Arbeit zur Genüge beweisen. Statt vieler Proben 
mögen hier bloß einige Zeilen des bekannten Musikhistorikers Jules Carlez 
aus seiner 1885 erschienenen Schrift, betitelt: »Notices sur quelques mu- 
siciens Rouennais,**) folgen: ,11 n’avait 6t€ publik jusque-lä, 6 ) en France, 
qu'une faible quantitä de musique d’orgue. Aux oeuvres de Titelouze, 
de Nicolas Gigault et de Francois Couperin, 4 * ) qui composaient ä peu prts 
tout le bagage imprim£ des organistes frangais, vinrent s’ajouter les pteces 
d’orgue de J. Boyvin.“ Noch mehr Komponisten als J. Carlez kannte der 
sehr fleißige und hochverdiente A. G. Ritter in seinem ein Jahr früher 
erschienenen Werke »Zur Geschichte des Orgelspiels im 14. bis 18. Jahr¬ 
hundert 46 ) und war zudem auf das angewiesen, was der Zufall ihm in 
die Hände spielte. Die veralteten Bibliotheksvorschriften Frankreichs 
machten es Ritter, wie auch später dem Schreiber dieser Zeilen, zur 
Unmöglichkeit, in Deutschland Druckwerke aus Frankreich einzusehen: 
mochten sich Behörden noch so warm dafür verwenden — alles war 
eitel Bemühen und so ist es noch heute und wird es auf unabsehbare 
Zeit auch bleiben.*) 


l ) Vergl. „Kirchenmusikal. Jahrbuch“, 1893, S. 42—52: (Georg u. Gottlieb Muffat); 
1895, S. 88—92: (Johann Büchner — Hans von Konstanz); 1891, S. 28—36: (Ant. Fr. 
Maichelbek, Karlmann Kolb, Octavian Panzau, Plazidus Metsch, Marian Königsberger 
und Georg Pasterwiz). 

*) Cam, 1885, S. 12. 

*) Bis zum Jahre 1700. Schon Titelouze beklagt sich in der Vorrede zu den 
Hymnen Ober die Mißachtung der französischen Musik: »Et bien qu’ä grand tort plu- 
sieurs de leurs musiriens mesprisent la Musique de France, comme sgavent ceux qui 
ont voyagtf.“ 

4 ) Nicht zu verwechseln mit dessen berühmten Neffen gleichen Namens, dem 
das Prädikat »le Grand“ zur Unterscheidung gegeben wird. 

•) Leipzig, Max Hesse’s Verlag. 1884. 

*j Vor Jahren benötigte ich ein Werk aus der Konservatoriumsbibliothek in Paris; 
auf mein Gesuch erhielt ich eine höfliche Antwort — dahin lautend, daß alle Werke 
nur in der Anstalt selbst und auf einem Tische ohne Tintenfaß benützt werden könnten. 


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38 Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 

Der wenig erfreuliche Stand der Orgelliteratur hat sich in den letzten 
Jahren insofern verändert, als Alexandre Guilmant durch die verschiedenen 
Jahrgänge seiner „Archives des Maitres de l'Orgue des 16., 17. et 18. Sü¬ 
des 111 ) eine hübsche Anzahl seltener oder wenigstens schwer zugänglicher 
Werke für Orgel aus Frankreich in recht lobenswerter Wiedergabe ver¬ 
öffentlichte. Was die Verdienstlichkeit des Unternehmens von historischer 
Seite noch steigert, sind die sehr umsichtig geschriebenen, auf gründlichen 
archivalischen Studien fußenden biographischen Notizen von Andrd Pirro, 
dessen Namen ich hier nicht nennen kann, ohne für die gütige Mühe¬ 
waltung zu danken, die er mir in schätzenswerten Fingerzeigen und Mit¬ 
teilungen biographischen Materials gewidmet hat Für die musikali¬ 
sche Würdigung von Titelouze hatte ich dagegen keine nennenswerten 
Vorarbeiten. 

Jean Titelouze wurde 1563 in Saint-Omer geboren. Diese Stadt liegt 
ungefähr zwischen Lille und Boulogne sur Mer im nördlichsten Teile des 
jetzigen Frankreichs und kam erst durch den Frieden von Nimwegen 1678 
an Frankreich. Neben den humanistischen und theologischen müssen 
die musikalischen Studien schon seine Jugendzeit ausgefüllt haben, da 
wir ihn bereits 1585 d. h. im Alter von zweiundzwanzig Jahren als Or¬ 
ganist von St. Jean in Rouen treffen. Diesen Posten versah er bis 1589, 
wo er sich um die vakant gewordene Organistenstelle an der hochange¬ 
sehenen Kathedrale daselbst bewarb.*) Es meldeten sich neben Titelouze 
noch zwei Bewerber, unter welchen der Priester Toussaint Lefebvre ge¬ 
nannt wird: letzterer versah den Posten während der Krankheit des Or- 


*) Verlag des Herausgebers, Alex. Guilmant. Adresse: Meudon (Chetnin de la 
Station 10) Seine-et-Oise. Preis pro Jahrgang 10 Fr. Oie Publikationen haben heuer 
den 13. Jahrgang erreicht 

*) Rouen war in froheren Zeiten und noch zur Zeit Titelouzes eine der größten 
und reichsten Stfidte Frankreichs. Im 3. Jahrhundert wenigstens schon Bischofritz, 
tauchen, wie Langlois („Revue des maitres de chapelle et musiciens de la mgtropole de 
Rouen.“ Rouen, 1850.) mitteilt, sehr früh Nachrichten von geordnetem kirchlichen Ge¬ 
sänge auf. Reichliche Dokumente liegen Ober die sorgsame Musikpflege im 16. Jahr* 
hundert vor, ein Aufschwung, welcher nicht ohne besondere Fürsorge einiger, teilweise 
zur Kardinalswürde erhobenen Erzbischöfe von Rouen sich vollzog. Die Kapitelsre¬ 
gister jener Zeit verzeichnen, wie Langlois mitteilt, wiederholt Domherren, die auf 
die Suche, um nicht zu sagen auf die Jagd nach Musikern ausgehen: nach Paris, 
Chartres, Noyon, Troyes, Vienne, Lothringen und besonders Flandern, in jener Zeit 
das Land berühmter Musiker. Hand in Hand damit gingen auch lebhafte Bestrebun¬ 
gen in Heranbildung von Knabenstimmen; sogar mehrere Gesangsschulen bestanden 
damals in Rouen, welche sämtlich unter Oberaufsicht des Großkantors der Kathedrale 
standen. Untrüglichen Beweis für den Ruf der Knabenstimmen von Rouen sind gleich¬ 
falls die wiederholten Streifzüge im Aufträge auswärtiger Kapellen nach Knabenstim¬ 
men von Rouen (vergl. Langlois, S. 13 ff.); sogar Angestellte des Königs von Frank¬ 
reich entführten Sänger von Rouen. — Bezüglich des kirchlichen Ansehens von Rouen 
sei auf das „Kirchenlexikon von Wetzer und Welte“, X. Band, Spalte 1325—1331 ver¬ 
wiesen (Freiburg, Herdersche Verlagsh. 1897), das allein 27 Synoden im Gebiete des 
Erzbistums Rouen verzeichnet 


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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


30 


ganisten, Frangois Josseline, und machte sich dabei mit den Verhältnissen 
und Gebräuchen der Kathedrale vertraut 

Trotzdem wurde wegen seines Improvisationstalentes vom Domkapitel 
am 12. April 1588 Titelouze als Organist gewählt, um so ehrenvoller für 
den Künstler als er Ausländer war und erst fünfundzwanzig Jahre zählte; 
einige Jahre später wurde ihm auch der Heimrechtsbrief geschenkt. Den 
Gipfel seiner Ehren erstieg Titelouze im Jahre 1610, als er zum Kanoni¬ 
kus erwählt wurde; sein Amt als Organist behielt er aber bis zu seinem 
Ableben, am 25. Oktober 1633, bei. Er war somit mehr als fünfundvier¬ 
zig Jahre in Tätigkeit und eine Zierde des Domstiftes, nachdem er vor¬ 
erst drei Jahre an der Kirche Saint-Jean amtiert hatte. Dieser lange Auf¬ 
enthalt von fast einem halben Jahrhundert in Rouen wurde manchmal 
durch Reisen nach Paris, Poitiers, Amiens usw. unterbrochen, die er teils 
als Orgelexperte für Neu- und Umbauten, teils als ausübender Künstler, 
jedenfalls auch in Angelegenheiten der Drucklegung seiner Werke und 
behufs Meinungsaustausches in musikalischen Fragen bei Kunstfreunden 
usw. unternahm. Wir treffen ihn auch des öftem in Briefwechsel mit 
dem fruchtbaren Musikschriftsteller, dem Franziskaner P. Marin Mersenne, 
dem Titelouze manchen Einblick in sein Leben gewährt. Es wird sich 
Gelegenheit geben ab und zu auf diese Korrespondenz hinzuweisen. Auch 
mit dem fein- und universell-gebildeten Jacques Mauduit 1 ) (1557—1627) 
war Titelouze gut bekannt; obwohl Mauduit kein Berufemusiker war, ge¬ 
noß er doch großes Ansehen als Komponist und Lautenspieler. Von selbst 
gegeben erscheint seine Bekanntschaft mit Kanonikus Henri Frtmart*) in 
Paris, der 1611—1625 als Domkapellmeister zu Rouen neben Titelouze 
wirkte. In der eben erwähnten Korrespondenz mit Mersenne werden noch 
andere Namen genannt, deren genaues Verhältnis zu Titelouze, da die Per¬ 
sonen zu wenig gekennzeichnet sind, vorerst dahingestellt bleiben muß, 
z. B. ein gewisser Comier, der als Vermittler von Nachrichten zwischen 
Titelouze und Mersenne auftritt. Ferner erwähnen wir La Barre, unter 
welchem Namen, da nichts beigefügt ist, Charles Henri, Pierre und Joseph 
La Barre de Chabanceau in Frage kommen, wahrscheinlich aber der letztere 
gemeint ist 

In seinen Briefen an P. Mersenne beklagt sich Titelouze in späteren 
Jahren des öftern über mangelnde Gesundheit, die seine geistigen Fähig¬ 
keiten lähme; um das Jahr 1622 wird ihm vollständige Ruhe vom Arzte 
vorgeschrieben. Selbst bei einer Orgelexpertise in N£ville läßt sich der 
Meister in diesem Jahre, ersetzen. Eine größere Krankheit warf ihn 
später auf das Krankenlager, wie aus einem Briefe Corniers an Mersenne 
zu entnehmen ist Auch gegen 1628 scheint Titelouze wieder viel gelitten 

*) Vergl. „Tribüne de St Gervais 1 * VII, 97, 136 u. 17! von Michel Brenet 

*) Fdtis zählt sieben 4—6st Messen von Främart auf — leider ohne Fundortangabe. 


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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


zu haben; einem Landaufenthalt schreibt er die Wiederherstellung seiner 
früheren Gesundheit zu. 

Im Jahre 1631 berichten die Kapitelregister wieder von zwei großen 
musikalischen Aufführungen. Eine fand gelegentlich der vom Erzbischof 
von Rouen vorgenommenen Konsekration der neuen Kirche im Jesuiten- 
Kollegium am Feste des hl. Ludwig statt. Bei dieser Gelegenheit hat 
das Domkapitel zugunsten unseres nun schon greisen Meisters eine seiner¬ 
zeit sehr verstimmende Verordnung vom Jahre 1614 aufgehoben, durch 
welche es den Chorknaben der Domkirche verboten war, sich bei Festlich¬ 
keiten außerhalb des Domes zu beteiligen. Offenbar als Dank dafür ver¬ 
anstaltete Titelouze drei Monate später zur Feier des Cäcilienfestes eine 
zweite großartige Aufführung: 1 ) vier Bühnen (th&tres) wurden im Schiff 
der Domkirche errichtet, „um die Musik wohlklingender und Instrumente 
und Singstimmen deutlicher zu machen.“*) Diese Aufführungen, die Ti¬ 
telouze in früheren Jahren öfters und sehr wahrscheinlich auch als Kom¬ 
ponist in Anspruch nahmen, genossen großes Ansehen. Doch scheint 
der bejahrte Meister seine physischen Kräfte dabei überschätzt zu haben. 
Am 21. Januar 1633 ersucht nämlich Titelouze das Domkapitel um Er¬ 
höhung seines Gehaltes, damit er eine jüngere Kraft auf der Orgel heran¬ 
bilden könne — behufs Stellvertretung in seiner Abwesenheit. Das Dom¬ 
kapitel bewilligte ihm seine Forderung; aber schon am 25. Oktober segnete 
er das Zeitliche. Als Erben hatte er seinen Neffen, Blaise Bretel, Or¬ 
ganist an St. Vincenz eingesetzt — mit Vorbehalt einiger Legate. Doch 
diesem scheint es an der entsprechenden Wertschätzung der jedenfalls 
bedeutenden Musiksammlung gefehlt zu haben: schon fünf Monate später, 
am 28. März 1634, verkaufte er dieselbe. 

Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit von der Persönlichkeit des 


*) Die Organisten von Rouen bildeten eine Körperschaft, welche nach Langlois’ 
obengenannter Schrift schon 1539 im Schiff der Kathedrale das Fest der hl. Cäcilia 
mit einer Auffahrung feierten. Titelouze scheint sich bei diesen Produktionen in be¬ 
sonderer Weise beteiligt zu haben. Comier schreibt in einem Briefe an Mersenne: 
„Pour ce que vous me demandez de musique, je ne congnay personne de ces mes- 
sieurs qui composent a la Ste. C6cile, car Monsieur de Titelouze ne s’amuse plus ä 
cela.“ Es handelt sich hier um die Zeit, während der langjährigen Krankheit unseres 
Meisters. Wir dürfen aus diesen Zeilen auf Titelouzes sonst hervorragende Beteiligung 
als Komponist schließen. 

*)„... afin de rendre la musique plus harmonieuse et les voix et instruments 
plus intelligibles.“ Man vergleiche auch „Histoire de la Maltrise de Rouen, par A. Col- 
lette et A. Bourdon,“ S. 78 (Rouen 1892). Beiden unermüdlichen Gelehrten verdankt 
die Musikgeschichte sehr wertvolles Material über die Domkapelle von Rouen und 
speziell über Titelouze; es wäre in diesen Zeilen ohne die Forschungen der Herren 
manche Lücke geblieben. Für den Fall der Fortsetzung unserer Studien über fran¬ 
zösische Orgelmeister werden wir des öfteren noch auf Publikationen genannter Herrn 
zurückkommen. 


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Beitrage zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


41 


Meisters seinen zwei uns noch erhaltenen OrgelbQchem 1 ) zu, die wir ihrer 
Zeitfolge gemäß näher beschreiben wollen. Der Titel des ersten lautet: 

HYMNES DE L’EGLISE | povr tovcher svr l'orgve, | avec les fvgves 
et recherches*) | svr levr plain-chant. | par | J. TITELOVZE, | Chanoine et 
Organiste de l'Eglise de Roüen | A PARIS, | PAR PIERRE BALLARD,») 
Imprimeur de la Musique du Roy, demeurant | Rue S. Jean de Beauuais, 
k l’enseigne du mont Parnasse. | 1623. | Auec Priuildge du Roy. 

Format: Quer-Quart. Nur die Blätter sind numeriert. Der Typen¬ 
druck ist so gut, daß man ihn bei flüchtigem Ansehen leicht als Stich 
taxieren könnte; J. B. Weckerlin hat im Katalog zur Konservatoriums¬ 
bibliothek — Paris ihn fälschlich auch als solchen bezeichnet. Fundorte in 
Paris (nach Eitner): Konservatorium, Bibi. National und Bibi, de St Ge- 
növifeve. In Aarau (Kantonalbibliothek) befindet sich ein defektes Exem¬ 
plar, dem die letzten acht Blätter fehlen. 

Die lange Vorrede zu diesem Werke verdient besondere Beachtung, 
weil der Verfasser hierin zu verschiedenen musikalischen Fragen Stellung 
nimmt. Deren wesentlichen Teile wurden, soweit in unseren Rahmen 
passend, im Urtext an geeigneten Stellen dieser Arbeit angeführt. Diese 
Zitate sollten, weil frisch aus der Quelle, nicht nur für den Musiker, 
sondern auch für den Philologen und überhaupt für jeden der französi¬ 
schen Sprache Kundigen Interesse haben. Unschwer ist der Text zu 
erfassen, wenn der Inhalt nach dem Klang und nicht nach der stellen¬ 
weise recht eigenartigen Schreibweise beurteilt wird. 

In diesem Werke bearbeitet Titelouze zwölf Hymnen und zwar solche, 
welche in den verschiedenen Diözesen am gebräuchlichsten sind und 
unter deren Melodien auch andere Hymnentexte nach dem Gebrauche 
der verschiedenen Kirchen gelegt werden können. 4 ) Die Versetten sind 
ziemlich lang und füllen durchwegs zwei bis vier Quartseiten, während 

*) Die Vokalkompositionen sind absichtlich hier ausgeschaltet worden. 

*) Vor Jahren las ich irgendwo — ich suche diese Stelle umsonst — daß Tite¬ 
louze eine Abhandlung Ober den Choral geschrieben habe. Offenbar beruht dieses 
auf ein Mißverständnis des Titels dieses Werkes („recherches sur leur plain-chant“); 
sowohl Seb. Brossard als J. J. Rousseau brauchen dieses Wort ebenfalls in der Be¬ 
deutung von Ricercari. 

*) Die Familie Ballard hatte eine Art von Privileg im Notendruck und ist diese 
Firma durch mehr denn 200 Jahre zu verfolgen. Die Typendrucke dieser in der Mitte 
des 16. Jahrhunderts entstehenden Firma zeichnen sich durch Klarheit aus und ent¬ 
behren nicht der Schönheit. Leider pochten die Nachfolger, die das Privileg sich immer 
erneuern ließen, zu sehr auf diese Vorrechte, als daß innerhalb dieser langen Zeit¬ 
epoche ein wesentlicher Fortschritt zu verzeichnen wäre. Der Drucker Pierre Ballard 
war der Sohn von Robert Ballard, des ersten der Ballard. Näheres Ober diese Firma 
s. u. a. F6tis „Bibliographie univ.“, Eitner’s Quellen-Lexikon I, 316—318; ferner „Die 
Musikdrucke mit beweglichen Metalltypen im 16. Jahrh.“ von A. Thürlings in der 
„Vierteljahrsschrift“ VIII, S. 397. 

4 ) „J’ay donc commencä par ces Hymnes qui sont les plus generales pour l’vsage 
de diuers Dioceses, afin d’accomoder vn chacun, y en ayant dont les chants peuuent 


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42 


Beitrage zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


die in dem gleich zu besprechenden Magnifi cat-Band enthaltenen, sich 
mit geringen Ausnahmen auf eine Quartseite beschränken. Da Titelouze 
stets zwei bis drei Thema des betreffenden Hymnus — teilweise nicht 
streng nach dem cantus firmus — und öfters noch kleinere freie Motive 
nacheinander verarbeitet, so ist das leicht begreiflich. Eine Ausnahme 
machen die Versetten, bei welchen die Hymnenmelodien in einer der 
Stimmen ganz auftreten. Die Steigerung in jeder letzten Hymnusstrophe 
kommt auch bei allen Schlußversetten zum Ausdrucke: EngfQhrung der 
Motive, bewegtere Tonfiguren etc. verleihen dem Aufbau des Tonsatzes 
stellenweise einen schönen Orgelglanz und setzen auch für die damalige 
Zeit eine ganz respektable Spielfertigkeit voraus. Dabei konnte ein ge¬ 
bildeter Organist je nach dem Fortschritt der liturgischen Handlung den 
Tonsatz früher oder später abbrechen und ihn zu einem abgerundeten 
Schlüsse gestalten. Wie aber unten bei den Magnificats ausgeführt ist, 
scheint Titelouze die Kräfte der Mehrzahl der Organisten doch überschätzt 
zu haben, weshalb er bei letzterem Werke sich noch mehr herabließ, um 
den Verhältnissen sich anzupassen. 

Es mögen hier die Textanfänge in der von Titelouze gewählten Reihen¬ 
folge Platz finden. 

1. „Ad ccenam* („Jam Christus astra“ — Hymnus der Matutin des 
Pfingstfestes — und „Lucis creator“). Im I. Tone mit vier Versetten. 1 ) 

2. „Veni creator Spiritus“ mit vier Versetten. 

3. „Pange lingua“ im III. Tone mit drei Versetten. 

4. „Ut queant laxis“ („Iste confessor") in der Leseart: „re ut re fa 
fa mi re mi re etc.“ mit drei Versetten. Bezüglich „Iste confessor“ ver¬ 
gleiche man „Liber Antiphonarius ... juxta ritum monasticum ... O. S. B.“ 
(Solesmis 1891, S. 464); der Hymnus ist hier „in festis Duplicibus mino- 
ribus“ vorgesehen. 

5. „Ave maris stella“ mit Vier Versetten. 

6. „Conditor alme siderum“ („Creator alme siderum“) mit drei Ver¬ 
setten. 

7. „A solis ortus cardine“, Hymnus in den Laudes von Weihnachten 
mit drei Versetten. Der Hymnus steht sowohl in dem römischen als 

estre apliqu£s a diuers hymnes selon la coustume des Eglises. J’aduoue qu’il seroit 
a desirer qu’en deux ou trois de ces hymnes les Modes ou tons de l’Eglise y fussent 
mieux obseruös, comme nous ferons en des ouurages libres, mais le plainchant re?eu 
de long temps en l’Eglise estant mon sujet, me contraint d’y conformer les fugues et 
contre-point.“ Letztere Stelle der Vorrede bezieht sich offenbar auf die eigenartige 
Handhabung der Tonarten, wie unten beim 10. Hymnus erwähnt wird. 

*) Die Hymnentitel innerhalb den Klammern beziehen sich auf die jetzt dblichen 

Texte. 


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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 43 

auch im monastischen Antiphonale mit ganz geringen Abweichungen in 
der Melodie. 

8. „Exsultet coelum“ („Jesu corona virginum" oder „Pater superni 
luminis“). Die eigenartige Wendung im 12. Takte des ersten Versettes 
ist als Reminiszenz der ursprünglichen Hymnenfassung (im VIII. Tone) 
zu deuten; drei Versetten. 

9. „Annue Christi“ mit zwei Versetten und einem „Amen“ über- 
schriebenen Nachspiel, in welchem die Oberstimme durch 55 Takte den 
Ton e" anhält. Ein Gegenstück findet sich im 4. Versett über „Ave maris 
stella“ mit dem 41taktigen Orgelpunkt auf der Dominante. Der Hymnus 
befindet sich im heutigen Antiphonale nicht mehr. 

10. „Sanctorum meritis“ („Sacris solemniis“) mit drei Versetten. 
Der Hymnus, der, wie die Melodiebildung es evident klarlegt, dem I. Tone 
angehört, schließt hier als wenn er dem III. angehören würde auf E. 
Dieser auch in der Beantwortung der Themen zum Ausdruck kommen¬ 
den Vermischung der Modi wird weiter unten gedacht 

11. „Iste confessor“ mit drei Versetten. Auch andere Hymnen sind 
im monastischen Antiphonale dieser, dem IV. Kirchentone angehörenden 
Melodie untergelegt. Vergl. in demselben S. 609 u. a. 

12. „Urbs Jerusalem" mit drei Versetten; die Choralmelodie hat sich 
im Hymnus „0 quot undis lacrimarum“ erhalten, während der Text selbst 
nur im monastischen Antiphonale im „Commune Dedicationis Ecclesia* 
noch zu finden ist 

Das zweite Werk für Orgel betitelt sich: 

LE | MAGNIFICAT, | ov | CANTIQVE DE LA VIERGE | povr tovcher 
svr l'orgve, | svivant les hvit tons J de l’Eglise | par | J. TITELOVZE, | Cha- 
noine et Organiste de l’Eglise de Roüen | A PARIS, | Par PIERRE BAL- 
LARD, Imprimeur de la Musique du Roy, demeurant | Rue S. Jean de Beau- 
uais, ä l’enseigne du mont Parnasse. | 1623. | Auec Priuil&ge du Roy. 

Format: Querquart Die Blätter sind wie bei den Hymnen nume¬ 
riert; mit dem Titelblatt besteht das Werk aus 60 Blättern. Fundorte in 
Paris: Nationalbibliothek und Konservatorium. Der Katalog von J. B. We¬ 
ckerlin erwähnt dieses Werk nicht und ich zitiere hier bloß nach Eitners 
Quellenlexikon. In teilweise defektem Zustande außerdem in der „Stän¬ 
dischen Landesbibliothek“ zu Kassel; Karl Israels „Übersichtlicher Katalog 
der Musikalien* (Kassel, A. Freyschmidt, 1881) beschreibt das Werk in 
leicht mißzuverstehender Weise durch Wiedergabe der vier ersten Linien 
des Titels mit dem Zusatze: „Partition“; nicht einmal „pour toucher sur 
l’orgue* wurde beigefügt Titelblatt, Blatt 2, 3 und besonders das 4. 
sind stark beschädigt. 

Das Werk zerfällt in acht, den Kirchentönen entsprechende Ab¬ 
teilungen, von welcher jede aus sieben Versetten zusammengesetzt ist, 


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44 Beitrage zur Geschichte des französischen Orgelspiels 

statt sechs, weil auch der Psalm »Benedictas* (Canticum Zachariae) am 
Schlüsse der Laudes in’s Auge gefaßt ist 1 ) Beim bloßen Durchblattern 
dieses Werkes muß die Kürze der Versetten gegenüber jenen des Hymnen- 
werkes*) auffallen. Titelouze bemerkt auch in der Vorrede, daß sein 
Hymnenband zu schwer befunden wurde. Er habe dafür diese Stücke 
so leicht und den Tonsatz so eng als möglich gehalten.*) Wir sehen aus 
den Worten des Meisters selbst, wie die praktische Tendenz gerade in 
diesem Werke zur Durchführung kam. Die durch sie bedingte kürzere 
Form der einzelnen Stücke macht dieselben, mehr als es bei den Hymnen- 
versetten der Fall ist, auch für unsere kirchliche Praxis verwendbar. Ganz 
vorzüglich klingen einzelne derselben, die in einfacherem Tonsatz gehalten 
und nur durch kleinere Motive belebt werden. Aus dieser Zeitepoche 
dürften kaum gefälligere und auch das moderne Ohr befriedigende Ton¬ 
stücke gefunden werden. 4 ) Auf Schritt und Tritt können wir in diesem 
Werke den Meister beobachten, der dem Organisten möglichst entgegen¬ 
zukommen bestrebt ist. Die Kürzung der Versetten wird hier des öffcem 
durch deren unverkennbare Zweiteilung, ab und zu noch durch Wechsel 
der Themata und des Taktes von E und i£ kenntlich gemacht; genannte 
Stelle der Vorrede erwähnt diese Möglichkeit ausdrücklich. 

Über Herkunft und Anwendung der Magnificat-Zwischen- 
spiele verweise ich auf meinen schon zitierten Erbach-Hasslerband. 
Interessant dürfte eine kurze Umschau über die Literatur dieser Gattung 
sein. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu machen, stelle ich hier außer 
Titelouzes Arbeiten folgende zusammen: 

1. Attaignant, Pierre, »Magnificat sur les huit tons avec te deum 
laudamus et deux Preludes, le tout mys en tabulature des Orgues Espi- 
nettes et Manicordions ... 1530.“ Das Werk wird weiter unten noch 
kurz erwähnt werden. Attaignant ist bloß der Verleger, der die Samm¬ 
lung veranstaltete. 

2. Frescobaldi, Gir. hat in seinem zweiten Buche der Toccaten 
(Roma, 1627) den I., II. und VI. Ton bearbeitet. 

3. Scheidt, Samuel, „Tabulatura nova* (Hamburg, 1624) bearbeitet 

l ) „J’ay adjoutg vn Second Deposuit potentes et parce qu’au Cantique Benedi- 
ctus il y a sept vers pour l’Orgue: et le Magnificat n’en ayant que six, on y fera seruir 
celuy que l’on voudra“, sagt er in der Vorrede. 

’) „On peut voir aussi que j’ay presst les Fugues afin d’abreger les Couplets, 
ceux qui les trouuerront trop longs, pourront au lieu de la cadence mediante pratiquer 
la finale: il y a mestne plusieurs vers qui ont des marques pour c€t effet“ (Vorrede.) 

*) „Remarquez aussi qu’ayant sceu que les Hymnes ont est6 trouuez trop diffi* 
ciles pour ceux qui ont besoin d’estre enseignez (d’autant que c’est pour eux que j’ay 
fait ce volume,) je me suis abaissö tant que j’ay peu dans la facilitö, et me suis forcd 
de joindre plus pres les parties, afin qu’elles puissent estre touch6es auec moins de 
difficultd.“ 

4 ) Vergl. Nr. 22 und 29 meines zweiten Orgelbuches. 


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Beitrage zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


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in dem für die Orgelliteratur sehr interessanten dritten Teile sowohl sämt¬ 
liche acht gewöhnlichen Kirchentonarten, als auch den „Tonus peregrinus“ 
(den IX. Ton). Eine gründliche Besprechung dieses hervorragenden 
Werkes findet maii in der „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft* 
1891, S. 186 ff. 

4. Fasolo, G. B., „Annuale“ (Venetia, 1645). Die Versetten aller 
acht Töne sind recht kurz gehalten, wie auch die zwischen den Gesangs¬ 
teilen der Messe. Der vielfach ganz vokale Tonsatz hebt sich gegenüber 
vielen Schlussversetten und freieren Orgelstücken im letzten Teile genann¬ 
ten Werkes sehr charakteristisch ab; eigenartig ist in letzteren Sätzen das 
Bestreben, dem Tonsatz möglichst instrumentalen Charakter zu verleihen. 

5. Joh. Kasp. Kerl, „Modulatio organica super Magnificat octo 
Tonorum (Monach., 1686). Dieses Werk kennen zu lernen, war mir bis 
zur Stunde nicht möglich. 

6. Buxtehude, Dietrich. Von diesem Meister sind zu verzeichnen 
ein „Magnificat I. Toni“ (Spitta — Ausgabe II, S. 16—22), ein zweiund¬ 
dreißig Takte füllendes Tonstück mit derselben Überschrift (Ritter, „Zur 
Geschichte des Orgelspiels, II, S. 215) und drei „Magnificat IX. Toni“ 
überschriebene Nummern im Manuskript 

7. Ahle, J. Rud. Von ihm besitze ich aus Grobes, nun verschol¬ 
lener Tabulatur ein Magnificat im V., und eines im IX. Tone (T. peregr.). 

8. Kindermann, Joh. Eras. bearbeitet in seiner „Harmonia or¬ 
ganica* (Nürnberg, 1665) eines im VIII. Ton; der vierte Vers enthält ein 
interessantes Echostück. Von 

9. Pachelbel, Joh. haben die „Denkmäler der Tonkunst in Öster¬ 
reich* (7. Jahrg., II. Halbband) 94 Kompositionen zumeist Fugen über 
das Magnificat veröffentlicht. 

10. Speth, Joh. ’s Wek „Ars Magna Consoni et Dissoni“ (Augs¬ 
burg, 1693) enthält eine vollständige Serie aller acht Töne. Fr. Commer 
hat sie bei F. E. C. Leuckart in Leipzig („Kompositionen für die Orgel 
aus dem 16., 17. und 18. Jahrh.“, 6. Heft) veröffentlicht. 

11. Leb&gue, Nicolas widmet den Magnificats in seinem zweiten 
Orgelbuche (o. J.) ziemlich viel Raum. Für viele dürfte die doppelte Be¬ 
arbeitung des sechsten Modus neu sein: die erste mit dem Schlüsse auf 
F mit vorgezeichnetem b auf jedem System und anderseits mit dem je¬ 
weiligen Schluß auf G ohne Vorzeichnung („G Rd Sol tj“, wie LebCgue 
genannte Serie überschreibt) und zwar immer mit fis bei Ganzschlüssen. 

12. Guilain. Von ihm kenne ich: „PiCces d’Orgve | pour | Le Ma¬ 
gnificat | sur les huit Tons differens de l’Eglise | dedtees | A Monsieur 
MARCHAND......... 1706“. Enthält jeweils eine Folge von sieben, 

teilweise längere und kürzere Orgelstücke in den vier ersten Kirchen¬ 
tönen. Ein zweiter Teil mit den übrigen Tonarten ist mir unbekannt. 


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46 Beitrige zur Geschichte des französischen Orgelspiels 

Das „Quatuor“ im III. Tone will durch vier* verschiedene Klangfarben 
den Gang der einzelnen Stimmen zum Ausdruck bringen; der Tonsatz 
muß demnach auf drei Manualen und dem Pedale zur Ausführung 
kommen, was die Zuhilfnahme einer zweiten Person bedingt. Diese 
Spielweise wurde am Ende des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts 
vielfach angewendet Die sich immer mehr steigernde Vorliebe zu Klang¬ 
mischungen hat diese eigenartigen Versuche nicht aussterben lassen. 

13. Dandrieu’s „Premier Livre | de | Pfeces d’Orgue |.Paris 

1739“ enthält sechs Versettenserien. Bei fehlenden Überschriften kann 
ich nur den 1., 2. und 3. Ton zweifellos feststellen: wir sind hier an der 
Epoche angelangt, in welcher die Herrschaft der alten Modi gebrochen 
und dafür unser Dur und Moll einsetzen. 

14. An letzter Stelle sei noch einer reichen Serie handschriftlicher Ver- 
setten in deutscher Orgeltabulatur 1 ) auf der Hof- und Staatsbibliothek in 
München Erwähnung getan, die historisch interessant, aber durch sehr 
ausgiebigen Gebrauch der Kolorierung für die Praxis nur zum allerklein¬ 
sten Teile herangezogen werden können. Der Autor ist nicht immer an¬ 
gegeben; einige tragen die Bezeichnung C. E. (Christian Erbach) und man 
wäre versucht eine Anzahl der anonymen Nummern, einer ähnlichen 
Schreibweise halber, ebenfalls Erbach zuzuschreiben, wüßten wir nicht, 
daß die Ricercari, Canzonen und Versetten, die wir teilweise in Erbachs 
eigener Handschrift besitzen, inhaltlich doch weit höher stehen als die 
genannten Versetten im Mss. Nr. 1581. Ob in diesen nicht doch Erbachs 
Kompositionen vorliegen, die nur spater von fremder Hand koloriert wor¬ 
den sind, entzieht sich der Kontrolle. Bei Ordnung des Notenmaterials 
für den Erbachband hatte ich große Mühe, nur wenige, erträgliche 
Nummern dieser Gattung aus Mss. Nr. 1581 herauszufinden. 

Es würde uns zuweit führen, wollten wir noch der Bearbeitungen 
einzelner Kirchentöne bei deutschen Kirchenliedern gedenken. Um sie 
nicht ganz zu übergehen, erwähne ich hier nur zwei Beispiele des Tonus 
peregrinus (IX. Ton): Joh. Seb. Bachs Choralvorspiel, „Meine Seel' 
erhebt den Herren“ und das über denselben Text von Delphin Strungk 
(1601—1664) in Karl Straubes „ChoralVorspiele alter Meister“ (Ed. Peters 
Nr. 3048). 

Neben den zwei genannten Orgelbüchern von Titelouze registriert so¬ 
wohl F6tis als C. F. Becker (in seinen „Tonwerken des 16. und 17. Jahr- 

‘) Musikmanuskript N. 1581; vergl. „Die musikalischen Handschriften der k. Hof- 
und Staatsbibliothek in München, beschrieben von Jul. Jos. Maier. München 1879." 
Dieser mit großer Sorgfalt gearbeitete Katalog des um die Musikwissenschaft hoch¬ 
verdienten früheren Konservators der musikalischen Abteilung daselbst, behandelt die 
Handschriften bis zum Ende des 17. Jahrhunderts und ist meines Wissens nicht fort¬ 
gesetzt worden. Obengenannte Handschrift ist in diesem Verzeichnis unter Nr. 262 
beschrieben und gehören die Tonstücke dem 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahr¬ 
hunderts an. 


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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 

hunderts“, welche übrigens von den zwei Orgelbüchem keine Notiz nehmen) 
eine Missa quatuor vocum ad imitationem moduli: „In ecclesia*. Parisiis, 
Rob. Ballard 1626. In Folio. — Die Rechnungen der Domkapelle von 
Rouen erwähnen, außer dieser Messe, noch eine weitere zu sechs und 
eine zu vier Stimmen, die vermutlich Manuskript geblieben sind, da kein 
Bibliograph derselben Erwähnung tut Es war mir nicht möglich von diesen 
Vokalkompositionen einen Fundort zu ermitteln. 

Wenn wir die Kompositionsweise 1 ) unseres Meisters beleuchten, 
müssen wir vor allem die Flüssigkeit und den Wohlklang derselben her¬ 
vorheben. Ursache derselben ist nicht in letzterer Linie eine meist sehr 
gute Stimmführung. Gerade hinsichtlich des Wohlklanges finden sich 
in seinen Werken Nummern, welche von seinen Zeitgenossen nur schwer 
erreicht oder gar übertroffen werden. Ja es fehlt auch nicht an Stellen, 
die nicht nur wohlklingen, sondern, man möchte sagen, fast modernen 
Anstrich verraten. Ich setze eine Stelle aus dem letzten Versett des Ma- 



Das Bestreben, das wir bei Sweelink, Scheidt z. B. finden: die Mo¬ 
tive auszugestalten und so ein ganzes Tonstück darauf zu bauen, tritt 
bei Titelouze mehr in den Hintergrund, weil die praktische Seite die künst¬ 
lerische überwiegt; wir sehen, wie der Komponist den Anforderungen 
des katholischen Orgelspiels sich anzuschließen sucht. Die katholische 
Liturgie aber stellt an das Orgelspiel vielerlei und zum Teil große An¬ 
forderungen: der Organist hat der liturgischen Handlung stets auf das 
genaueste Folge zu leisten und die einzelnen Teile des Orgelspiels dar¬ 
nach kürzer oder länger zu gestalten. Es ist daher, abgesehen von den 
Vor- und Nachspielen, in wenigen Fällen möglich, ein größeres Tonstück 
vollständig zu geben — ohne Kürzungen oder Dehnungen des Tonsatzes. 
Der katholische Organist benötigt daher beim liturgischen Gottesdienste- 
eine sehr große Anzahl von Orgelstücken verschiedener Dauer und oft 


’) Das in der französischen Orgelliteratur besonders hervortretende Streben nach 
Registrierungseffekten kann erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts festgestellt 
werden; es wäre daher ein Irrtum, diese Eigenart schon auf die Orgelwerke von Tite¬ 
louze zu abertragen. 


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46 Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 

nur von wenigen Takten. Diese kleinen Zwischenspiele, wie wir sie in 
Gottlieb Muffats „Versetl“, in J. K. F. Fischers „Blumenstrauß“, im „Pro- 
totypon“ und „Octitonium“ von F. X. Murschhauser unter vielen andern 
treffen, bleiben nur zu oft unverstanden, weil man deren Zwecke außer 
Acht läßt. Zur Bewertung dieser eigenartigen Literatur, wie auch ander¬ 
seits der so schwierigen Aufgabe des Organisten ist, neben gründlichem 
Studium der Tonkunst, auch eine genauere Kenntnis der Liturgie vonnöten, 
soll ein objektives Bild gewonnen werden. 

Auch zur Beurteilung des Tonsatzes mögen hier einige Anhalts¬ 
punkte Raum finden. 

Die Beantwortung der Fugenthema geschieht nach den be¬ 
kannten, alten Regeln, öfters auch in der Umkehrung; manchmal erlaubt 
sich Titelouze Freiheiten, je nachdem er es im Verlaufe des Tonsatzes 
dienlicher findet. Ein eigenartiger Fall ist die Bearbeitung des Hymnus 
„Sanctorum meritis“; wir haben schon oben die Vermischung, resp. den 
ton widrigen Schluß auf dem III. Tone erwähnt, während der Hymnus un¬ 
verkennbar dem 1. Tone angehört. Diese Stilwidrigkeit geht nun auch 
den Versetten nach; während in den ersten Takten des ersten Versettes 
das Thema der dritten Stimme a d von der zweiten Stimme mit d ä 
und ebenso im dritten Versett in der Umkehrung richtig beantwortet 
wird, beginnt im zweiten Versett die zweite Stimme mit den Anfangs¬ 
noten des Hymnus: d a b a, welche Töne von der dritten Stimme mit: 
a e f e real beantwortet wird (statt: a d f dj wie die tonale Fas¬ 
sung es erheischt hätte und zwar nach der alten Fugenlehre: Tonika- 
Dominante als Dux hat Dominante-Tonika als Comes und umgekehrt). 

Auch mit den anderen Künsten des damaligen Tonsatzes ist Titelouze 
wohlbewandert. So pflegt er auch den doppelten Kontrapunkt und 
bei drei Versetten des Hymnenwerkes finden wir den Cantus firmus mit 
einem Kanon verwoben. — Eine große Vorliebe der altfranzösischen 
Orgelkomponisten finden wir in Verlegung des Cantus firmus in die 
unterste Stimme. Auch Titelouze legt bei jedem ersten Versett eines 
neuen Hymnus den Choral in den Baß — ein Verfahren, das in Frank¬ 
reich bis in die neuere Zeit gepflegt wurde. In anderen Versetten der 
vorliegenden Werke ist die Choralmelodie öfters der Oberstimme, der 
zweiten, der dritten oder auch den verschiedenen Stimmen in einem und 
demselben Versett zugeteilt (im dritten Versett zum „Pange lingua“). 
Wir sprachen schon von dem bemerkenswerten Wohlklange, der die 
Kompositionen unseres Meisters auszeichnet Hier haben wir aber, um 
nicht einseitig zu erscheinen, noch zu erwähnen, daß dieselben doch 
auch andererseits an musikalischen Härten, namentlich Querständen und 
dergl. keinen Mangel leiden. Zieht man aber vergleichsweise die gleich- 


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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


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zeitige Vokalmusik in Betracht, wird man gerne, da es mit derselben in 
diesem Punkte nicht besser bestellt war, auch dem Orgelmeister ein 
milderes Urteil zubilligen. Hier einige Proben: 



Es sei auch auf das untenstehende Beispiel im IV. Tone S. 51 hin¬ 
gewiesen. 

Bezüglich des Tonsatzes mögen noch einige Stellen hier Raum finden. 



Schließlich sei noch einer rhythmisch eigenartigen Stelle aus dem 
dritten Versett zu dem Hymnus „A solis ortus“ gedacht, der ich aber 
keine zweite an die Seite stellen kann; auch geübte Spieler können hier 
verblüfft werden. 

K lrchfnm inlk. Jahrbuch. 23. Jabrx. 4 



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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 



Selbst chromatischer Stimmenfortschreitungen bedient sich Titelouze, 
wie bei folgenden, dem fünften Versett des zweiten Magnificat und dem 
fünften Versett des ersten Magnificat entnommenen Themata. 



Oder im Magnificat des I. Tones: 



Die Quarte chromatisch zu durchschreiten und diese Tonfolge als 
Thema zu verwerten, wie im letztangeführten Notenbeispiele, war im 
17. Jahrhundert sehr beliebt. Es sei hier auf M. Seifferts „Geschichte 
der Klaviermusik“, I, 79 und die Vorrede S. XXVII u. f. des in dieser 
Arbeit erwähnten Erbach-Hassler-Bandes der baier. Denkmäler verwiesen. 

In der Handhabung der alten Tonarten ist Titelouze bald etwas 
strenger, sehr oft aber recht frei, ja freier als S. Scheidt im dritten Teil 
seiner „Tabulatura nova“. Titelouze macht in der Vorrede zu seinem 
Hymnenwerk aus seiner freien Schreibweise für die Orgel als solche 
durchaus kein Hehl, bekennt aber auch anderseits, daß er strenger ge¬ 
schrieben hätte, wenn es sich um Gesangsstimmen gehandelt hätte. 1 ) 

Wir gehen kurz auf die einzelnen Tonarten ein. 

Der erste Ton ist durchwegs recht gut charakterisiert; selbst¬ 
redend kommen cis und b, auch fis vor; ja selbst gis verschmäht Tite¬ 
louze nicht, wenn auf der Dominante ein Ganzschluß gemacht wird. 
Eines der freiesten Nummern der Magnificat’s bildet das durch das chro¬ 
matische Thema eigen gefärbte fünfte Versett des I. Tones. Ein auffal¬ 
lendes, durch mehrere Takte ausgesponnenes Schwanken zwischen h und 
b (große und kleine Sexte) ist in dem bewegten Schlüsse zum letzten 
Versett zum Hymnus „Ad ccenam“ zu bemerken. 

*) „Or d’autant que l’Orgue produit sans difficultg toute Sorte d’intervalle tant 
naturels qu’accidentels, j’en ay employg en quelques endroits d'extraordinaires, (bons 
et suportables pourtant) afin de donner a c£t Instrument ce qui est de sa compe- 
tence, de propres, et hors du commun, et mesme apliquä des diezes en des lieux ou 
je les obmettrois si c’estoit pour les voix a cause de raisons cy dessus donn£es.“ 
(Vorrede zu den Hymnen.) — An Mersenne schreibt Titelouze im Jahre 1624: „Si j’ötois 
ignorant des modes, j’aurrois oubli£ ce dont j’ay fait le;on il y a plus de 40 ans." 



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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


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Der zweite Ton ist in die Oberquart mit obligater b-Vorzeichnung 
transponiert. Der Komponist hält sich ziemlich an die Tonart, ohne 
aber das durch den Tritonus öfters gebotene es zu umgehen; auch 
von fis und cis wird Gebrauch gemacht. Bei dem durch die Transpo¬ 
sition notwendigen Schluß auf G ist auch überall, wo die Terz auftritt, 
das b in h aufgelöst. Die Versetten dieser Tonart gehören zu den besten 
im Magnificatband. 


Der dritte und vierte Ton sind durchwegs ziemlich streng ge¬ 
halten, ohne aber von cis und fis Umgang zu nehmen; der Ton gis ist 
ja selbstverständlich. Eine der freiesten Stellen im vierten Ton möge 
hier ganz notengetreu Platz finden. 



Der Schluß wird, wie bei S. Scheidt jeweils auf E gebildet, während 
S. A. Scherer, Guilain, N. Leßfcgue u. a. den dritten Ton auf A und nur 
den vierten auf E schließen. 


Der fünfte Ton ist schon durch die vielsagende Vorzeichnung 
von b vor h charakterisiert; der Tonschluß ist immer auf F gebildet, 
nicht etwa auf A wie bei Scheidt und J. R. Ahle. Wir haben bei Tite- 
louze unser modernes F-dur, wenn er auch ab und zu das b in h auf¬ 
löst; offenbar wollte er es mit den Rigoristen in strenger Beobachtung 
der alten Modi nicht verderben. Andere Versetzungszeichen sind recht 
selten. 

Ebenso ist der sechste Ton bei gleicher Vorzeichnung ganz unser 
F-dur. Andere Akzidentien sind, wenn auch spärlich, doch reicher ver¬ 
treten, als beim fünften Tone: es, fis, cis neben h. Das reichere Ge 
staltungsvermögen dieser, unserem Dur fast vollständig gleichkommenden 
Tonart, läßt leicht auf andere und reichere Akzidentien verzichten. 

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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


Der siebente Ton kann beim ersten Blick leicht verwirren. Vor¬ 
gezeichnet hat Titelouze nichts, trotzdem er den Tonsatz um eine Quarte 
tiefer transponiert, wie er in der Vorrede selbst sagt; 1 ) daher jeweils der 
Schluß auf D. Ebenso versetzt G. B. Fasolo in seinem „Annuale“ die 
Versetten im Magnificat siebenten Tones in die Unterquart — auch ohne 
Vorzeichnung. S. Scheidt hingegen transponiert in seiner „Tabulatura 
nova“ (III. Teil) das Magnificat derselben Tonart nicht; bei der hohen 
Tonlage des Choralverses hat der Komponist vielleicht die Versetzung 
in eine tiefere Tonlage dem Organisten Qberlassen. — Ein merkwürdiges 
Beispiel bietet u. a. der Anfang des ersten Versettes im siebenten Magni¬ 
ficat: während der Ton fis in der Transposition leitereigen wäre, setzt 
Titelouze allein im zweiten Takte dreimal mit f ein, um im vierten Takte 
erstmals fis folgen zu lassen. An sehr reichen Akzidentien läßt es Tite¬ 
louze auch nicht fehlen. Übrigens ist diese Tonart nach unseren jetzigen 
Begriffen am unsichersten von allen gekennzeichnet. 

Ganz klar wirken dagegen die mehr im konservativen Geiste ent¬ 
worfenen Versetten im achten Tone, ohne es aber an fis, cis und b 
fehlen zu lassen. 

Durch die damals noch nicht ausgestorbene Koloristen Schreib¬ 
art hat sich Titelouze nur in soweit beeinflussen lassen, als er bei Ganz- 
und Halbschlüssen durchwegs eine der Stimmen, statt in längeren Noten, 
in kleinere Notenwerte wiedergibt. Besonders in den Magnificats lassen 
sich sehr zahlreiche Stellen nachweisen, während in den Hymnen wenige 
Spuren sich zeigen. Trotzdem wäre es ein falscher Schluß, wenn ge¬ 
glaubt würde, Titelouze hätte zwischen dem ersten und zweiten Orgel¬ 
werke seine Spielweise wesentlich geändert. Die damaligen Organisten, 
wie auch die Sänger, haben besonders bei Schlüssen, wie auch bei 
längeren Noten mit Vorliebe kürzere Notenwerte in Anwendung gebracht. 
Es war dieses eine gewisse Lizenz, die der Spieler sich aneignete, bis 
endlich die Komponisten — offenbar um dem eingetretenen Wirrwarr zu 
steuern — diese Verzierungen durch Zeichen fixierten und gewöhnlich 
in der Vorrede erklärten, wie die „agröments“ auszuführen seien. Daß 
dieses Kapitel bis auf den heutigen Tag eine recht schwierige Sache ge¬ 
blieben ist, beweisen u. a. das im letzten Jahre erschienene Werk von 
Adolf Beyschlag, „Die Ornamentik der Musik" (Leipzig, Breitkopf und 
Härtel, 1908), dessen Besprechung durch Karl Ettler in der Zeitschrift 
der I. M. G. und besonders der gut orientierende Artikel von Hugo 
Leichtentritt in den Sammelbänden der I. M. G. 1909, S. 613—633. 

In einem Punkte unterscheidet sich Titelouze ganz wesentlich von 
seinen Zeitgenossen, speziell von Süddeutschland, indem er nur wenige 

* *) „Je l’ay transposä vne Quarte plus bas pour la commodite du Chceur.“ Vor¬ 
rede zu dem Magnificatband. 


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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 53 

und dazu nur äußerst geringe Ansätze von tokkatenartigen Schlüssen 
bietet. 1 ) 

Die Notierungsweise beider Orgelbücher ist mit der unserer 
modernen Klavierliteratur identisch, mit dem Unterschied, daß dem oberen 
Notensystem der Sopran-, dem unteren der Baryton-Schlüssel vorgesetzt 
wird; je nach Lage des Tonsatzes treten auch folgende Schlüssel auf: 



Obengenannten Baryton-Schlüssel traf ich auch bei späteren fran¬ 
zösischen Komponisten bis auf Louis Claude d’Aquin (1694—1772); 
letzterer Meister bedient sich schon unseres modernen Baßchlüssels. 
Wie ermüdend für das Auge war dagegen die italienische Tabulatur 
(oben 5—7, unten 7—8 Linien)! Unsere deutsche Orgeltabulatur kann 
hier als gut bekannt füglich übergangen werden. Merkwürdig ist nur 
das hartnäckige, lange Festhalten an dieser Notierungsweise gerade von 
Männern, welche anderseits warm für fortschrittliche Bestrebungen in 
der Musik eintraten; es sei hier nur der berühmte Andreas Werck- 
meister mit seinen „Paradoxal-Diskursen“ (1707) erwähnt. 

Der Verlängerungspunkt kann bei Titelouze nicht nur die Hälfte, 
sondern auch den vierten Teil der vorhergehenden Note vertreten, was 
jeweils aus den übrigen Notenwerten zu ermitteln ist. Diese Schreibart 
ist im 17. und noch im 18. Jahrhundert allgemein üblich gewesen. So z. B. 

hn a. Versett zum 
i. Hymnus sogar: 


Eigenartig in der Schreibweise Titelouzes ist auch der Gebrauch 
zweier gleichbedeutenden Formen des Kreuzes: sowohl jf als *, 
die sogar in einem und demselben Takte Vorkommen können, wovon hier 
bloß ein Beispiel: 




Robert Eitner hat auch im Buxheimer Orgelbuch (München, Hof- 
und Staatsbibliothek) beide Zeichen vorgefunden, ohne daß er eifie Er¬ 
klärung hiefür finden konnte. 

*) Ein Oberreiches Material von Tokkaten und ähnlichen Schlüssen bietet der in 
dieser Arbeit schon genannte Erbach-Hafiler-Band. 


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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


Ein Punkt der untenstehenden Widmung nebst Vorrede 1 ) sei dahin 
verbessert, daß zwar am Anfang des 17. Jahrhunderts, zur Zeit von Tite- 
louze, unseres Wissens kein Werk für Orgel erschienen ist. Dafür sei 
hier an die drei Sammlungen von Pierre Attaignant (1530, 1531 und 
eine ohne Druckjahr) erinnert, woraus A. G. Ritter in seinem obenge¬ 
nannten Werke „Zur Geschichte des Orgelspiels“ *) und R. Schlecht in 
seiner „Musikgeschichte“ 5 ) Proben bieten. 

Eine Lücke würden wir in unserer Biographie offen lassen, wenn wir 
hier nicht des Meisters Wirksamkeit als Orgelexperte gedächten, um 
so mehr, als diese ihn vielfach beschäftigte, nicht nur bei den zahlreichen 
Kirchen in Rouen selbst, sondern auch in anderen Städten Frankreichs, 
da er den Ruhm eines der tüchtigsten Organisten des Landes genoß. 
Seine vielen Erfahrungen einerseits und anderseits seine priesterliche Stel¬ 
lung stempelten ihn zu einem unparteiischen Richter. Sehr interessant 
für den Orgelhistoriker und Orgelspieler ist die Stelle der Vorrede zu 
den Hymnen, welche den Zustand, resp. Fortschritt des damaligen fran¬ 
zösischen Orgelbaues beschreibt und bislang noch nicht zum Vergleich 
mit dem Orgelbau anderer Länder herangezogen wurde. Man denke sich 
am Anfange des 17. Jahrhunderts zwei unabhängige Manuale und ein 
selbständiges Pedal mit 28—30 Tasten. Titelouze äußert sogar die Ab¬ 
sicht, eine Abhandlung über die Fortschritte im Orgelbau zu schreiben; 
leider wurde dieser Plan, wie es scheint, nicht ausgeführt, indem kein 
Bibliograph einer derartigen Arbeit Erwähnung tut. Kaum ein zweiter 
Mann wäre bei einer so umfassenden Bildung zur Lösung dieser Auf¬ 
gabe geeigneter gewesen als gerade Titelouze. Hier die betreffende Stelle: 
„Outre que nous luy auons encore augmenfa sa perfection depuis quel¬ 
ques ann^es, les faisant construire en plusieurs lieux de la France auec 
deux clauiers separös pour les mains, et vn clauier de pedales a l’vnisson 
des jeux de huict pieds, contenant vingt-huict ou trente tant feintes 4 ) 
que marches, pour y toucher la Basse-contre a part, sans la toucher de 
la main, la Taille sur le second clauier, la Haute-contre et le Dessus sur 
le troisiesme: au moyen dequoy, se peuuent exprimer l’vnisson, la croisee 


*) „... un petit liure de Musique, tel pourtant que l’on n’en a point encore lmprim£ 
en France de son espece“ (Widmung). — „Or ce qui m’a encore d’auantage incitd de 
donner ce petit ouurage au public, a est£ de voir des volumes de tabulature de toute 
sorte d’instruments imprim^s en nostre France: et qu’il est hors de la souuenance 
des hommes qu’on en ait imprimö pour l’Orgue“ (Vorrede). 

*) I, S. 57—59 und II, S. 75—77. 

*) S. 106 und S. 374—379. — Vergl. auch Rob. Eitners Monatshefte II, 122 u. ff. 

4 ) „On appelloit aussi feintes les touches chromatiques du Clavier, que nous 
appellons aujourd’hui touches Manches.“ Rousseau, Dictionnaire de musique. Ebenso 
auch Seb. Brossard in seinem musikalischen Wörterbuch. Wohlbekanntlich waren 
damals die Obertasten weiß. 


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Befolge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 

des parties, et mile sortes de figures Musicales que Ton ne pourroit sans 
cela, dont nous esperons donner vn jour quelque traittt.“ 1 ) 

Titelouze war zur Prüfung der großen Orgel der Domkirche von 
Amiens vom dortigen Kapitel berufen, die am 23. Juni 1623 stattfand. 
Dank der archivalischen Studien von Georges Durand*) („archiviste 
de la Somme*) sind uns nicht nur die Namen derjenigen Musiker be¬ 
kannt, die unserem Meister bei der Prüfung behilflich waren, sondern 
auch die vollständige Disposition und der genaue Orgelplan nebst Vertrag 
zwischen dem Domkapitel und dem Orgelbauer Le Pescheur aus Paris. 
Weitere Mitglieder der Prüfungskommission waren Jean de Bournonville, 
eines der besten französischen Komponisten seiner Zeit, Ant. Chapelain, 
Organist der Kirche selbst, Henri Frimart, damals noch'Domkapellmeister 
von Rouen — wie schon oben erwähnt — und Paul Maillard, Orgelbau¬ 
meister aus Paris — als Vertrauensmann des Orgelbauere Le Pescheur. 
Man sieht, wie ernst die Prüfung genommen wurde. — Interessant ist 
die Vorschrift des Vertrages, es müsse der Umguß der alten Zinnpfeifen 
und des nach jetzigen Ansichten übrigens sehr schlechten Orgel metalles 
(1 Teil Zinn und 2 Teile Blei) vor einer vom Kapitel erwählten Kommis¬ 
sion stattfinden; ebenso mußten diese Herrn die Arbeit des Pfeifen Werkes 
in den dem Kapitel gehörenden Räumen überwachen. — Doch wir wollen 
auch die Disposition des Werkes mitteilen: 

Grand orgue: 1. Montre de 16 pieds. — 2. Bourdon de 16 p. — 
3. Jeu ouvert de 8 p. — 4. Bourdon de 8 p. — 5. Prestant de 4 p. — 
6. Doublette de 2 p. — 7. Foumiture de 4 p., 5 rangs. — 8. Fourniture 
de 2 p., 5 rangs. — 9. Cymbale, 4 rangs. — 10. Flüte de 4 p. — 
11. Nasard ouvert, 2 rangs. — 12. Flageolet de 1 p. — 13. Tierce. — 
14. Trompette de 8 p. — 15. Clairon de 4 p. — 16. Cornet, 6 rangs. 

Positif: 1. Montre de 4 p. — 2. Bourdon de 8 p. — 3. Doublette 
de 2 p. — 4. Foumiture, 3 rangs. — 5. Cymbale, 3 rangs. — 6. Voix 
humaine de 8 p. 

Pedale: 1. Jeu ouvert de 8 p. — 2. Trompette de 8 p. 

Accouplement des claviere. — Tremblant. — Rossignol. 

Übrigens ist uns auch eine verbürgterweise von Titelouze besorgte 
Disposition für die Kirche St. Godard in Rouen selbst erhalten; die frühere 
wurde durch die Kalvinisten 1562 zerstört. Man gestatte mir, auch diese 
interessante Disposition folgen zu lassen, weil sie doch geeignet ist einiges 
Licht in die damalige Registrierung zu werfen. Das Werk enthält fol¬ 
gende Register: 

’) Welch’ armselige Orgeln hatte man vielfach in SQddeutschland bis ins 19. Jahr¬ 
hundert — ja sogar in großen Kirchen I 

*) „Les Orgues de la CathCdrale d’Amiens." Paris 1903, 


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Beiträge zur Geschichte des franzfleischen Orgelspiels 


Grand orgue (48 notes — ut ä ut). 1. Montre de 16 pieds. — 

2. Bourdon de 8 p. — 3. Prestant de 4 p. — 4. Doublette de 2 p. — 

5. Flöte de 4 p. — 6. Petite flute de 2 p. — 7. Sifflet d’un pied. — 

8. Quinte flute (nasard). — 9. Petite quinte l 1 /* p. — 10. Foumiture ä 
4 rangs avec reprises d’octave en octave. — 11. Cymbale ä 3 rangs avec 
reprise de quarte en quarte. — 12. Comet ä 5 rangs prenant au milieu 
du clavier et se poursuivant jusqu’au haut. — 13. Trompette de 8 p. — 
14. Clairon de 4 p. — 15. Regale pour servir de voix humaine. — Trem- 
blant, Rossignol et Tambour. 

Positiv (48 notes). — 1. Montre de 8 p. — 2. Prestant de 4 p.— 

3. Doublette de 2 p. — 4. Foumiture ä 3 rangs avec reprises d’octave 

en octave. — 5. Cymbale ä 2 rangs avec reprises d’octave en octave. — 

6. Quinte flute pour servir de nasard; 3 p. — 7. Cromhorne de 8 p. 

Pedale (28 notes — ut ä fa). — 1. Bourdon de 8 p. — 2. Flöte 
de 4 p. — 3. Trompette de 8 p. 

Accouplement („mouvement“) du Positif au Grand-Orgue. 

Prinzipal 16’ und Bourdon 16' auf dem I. Manual der ersten Orgel 
neben zwei 8’ des Pedales ist, mit den Augen unserer Zeit betrachtet, 
recht eigenartig. Offenbar wurde dem Pedale öfters eine, von unserer 
Kunstübung abweichende Rolle zugewiesen; so z. B. zur Heraushebung 
einer Tenorstimme (Taille), während die eigentliche Unterstimme in diesem 
Falle dem Manuale zugeteilt wurde. 

Einiges Ober Titelouzes Wertschätzung bei der Mit- und Nachwelt 
sei hier noch nachgetragen. Wir haben schon sein großes Ansehen bei 
seinen Zeitgenossen sowohl als Komponist und Organist, als auch als 
Sachverständiger bei Orgelbauten kennen gelernt. Die Akten in der er¬ 
wähnten Orgelangelegenheit von Saint Godard bezeichnen ihn als einen 
der tüchtigsten Organisten Frankreichs („l’un des plus habiles organistes 
de France).“ Mehr als fünfzig Jahre nach dessen Tod finden wir in der 
Vorrede von Nicolas Gigaults „Livre de mvsiqve povr l’Orgve“ (Paris, 
1685) die kurze Notiz: „. . . les vers sont fuguez a la maniere de feu 
Monsieur Titelouze.“ Noch Seb. de Brossard erwähnt kurz Titelouzes 
Namen auf S. 360 seines „Dictionnaire* (Amsterdamer Ausgabe). 

Ortigue hingegen gedenkt in seinem „Dictionnaire de plain-chant et 
de musique religieuse* (Paris, 1860) der Orgelwerke als „trfcs-remarqua- 
bles“ (Spalte 1079); durch die fälschliche Verlegung von Titelouze Wir¬ 
ken um etwa drei Dezennien wird dessen historisches Bild verschoben 
und in den Hintergrund gerückt; dafür weiß Ortigue das alte Stecken¬ 
pferd der französischen Musikschriftsteller zu reiten und um so mehr von 
der Dynastie Couperin zu berichten. — Alb. Lavignac erwähnt in seinem 
verbreiteten Werke „La musique et les musiciens“ (IV. ed., Paris 1897) 


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Beiträge zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


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Titelouze nicht einmal, dafür aber „Couperin den Großen* und die Haupt¬ 
komponisten der Orgel von Deutschland; von dem alteren französischen 
Orgelmeister verrät der Verfasser nichts. — H. V. Couwenbergh hat in 
seinem verdienten Werke „L’orgue an eien et moderne“ (Lierre: o. J. — 
circa 1888) eine kurze Übersicht über die Geschichte des Orgelspiels, 
die besonders gut in den neueren Meistern Belgiens und Frankreichs 
orientiert. In der älteren Literatur lehnt sich Couwenbergh mit Recht 
an A. G. Ritters „Zur Geschichte des Orgelspiels“ an. Was denkt sich 
aber der Leser von folgender Stelle des Buches „Louis Claude Daquin, 
Fouquet, Claude Balbätre, Chambonnifcres, J. B. Rameau, Calvifere, Nico¬ 
las le B£gue, J. Titelouze furent les principaux organistes qui hdriterent 
de la renommöe des Couperin et Marchand et contribufcrent pour une 
grande part ä conserver en France toute la noble grandeur du väritable 
style d'orgue“ (S. 332). — Mit Leichtigkeit könnte diese Blütenlese er¬ 
weitert werden. 

Die „Biographie universelle“ von Fdtis hat sicherlich das Verdienst, 
den Namen Titelouze dem größeren Publikum wieder bekannt gemacht 
zu haben. Leider enthalten die dem Meister gewidmeten Zeilen vielerlei 
Irrtümer; so z. B. erwähnt er das Fehlen der Druckjahre und man wäre 
versucht anzunehmen, daß die zwei Orgelbücher ihm nicht zu Gesicht 
gekommen seien. Anderseits setzt die dort behauptete Analogie zwischen 
der Schreibart Titelouze und der Frobergers doch wenigstens eine flüchtige 
Kenntnis der Orgelbücher voraus. Trotz längeren Studiums kann ich 
freilich keine nennenswerte Ähnlichkeit in der Schreibart beider Kompo¬ 
nisten finden. 

F6tis erwähnt ferner als Schüler unseres Meisters Nicolas Gigault 
und Andr6 Raison. Nach den neuesten Forschungen von A. Pirro 1 ) kann 
das Geburtsjahr von Gigault vor 1624 oder 1623 nicht gesetzt werden. 
Im günstigsten Falle war also Gigault beim Tode Titelouzes (1633) zehn 
Jahre alt. Überdies kann nicht leicht angenommen werden, daß der ohne¬ 
hin sehr beschäftigte und schon recht alternde Meister sich damals noch 
mit dem elementaren Unterricht befaßt habe. Am wenigsten kann von 
einem geistigen Erbe in diesem Knabenalter die Rede sein. 

Ähnlich wird es sich mit der Schülerschaft von A. Raison verhal¬ 
ten, über welchen äußerst wenig bislang bekannt ist; sein Geburtsjahr 
wird aber eher später als das von Gigault zu setzen sein;*) in der Wid¬ 
mung von Raisons erstem Orgelbuch 8 ) gibt er zudem als Jugendauf¬ 
enthalt das Seminar von Nanterre an. Es ist nicht anzunehmen, daß 

*) Vergl. „La Revue musicale* 1903, S. 302. 

*) Sein Todesjahr verlegt A. Pirro zwischen 1714—1720. (Vorrede zum Raison- 
bande der „Archives des maltres de l’orgue“.) 

’) „C’est dans vostre.... Seminaire de Nanterre, ou j’ay passe les premieres 
annges de ma vie.“ 


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Beitrage zur Geschichte des französischen Orgelspiels 


Raison es verschwiegen hätte, wenn er sich einen Schüler des berühmten 
Meisters hätte nennen können. 

Bis vor wenigen Jahren waren die Werke Titelouzes ganz verschol¬ 
len und sein Name fast unbekannt Alex. Guilmant hat erstmals in 
seinem „Concert historique“ (Paris 1890) ein Versett über den Hymnus 
„Exultet coelum“ ediert; 1893 folgten neun Nummern in meinem zweiten 
Orgelbuche. Daß er in Deutschland so völlig vergessen wurde, war bei 
den schon geschilderten französischen Bibliothekverhältnissen leicht er¬ 
klärlich. Sowohl die Lexika, Werke über Musikgeschichte, Sammelwerke 
etc. in Deutschland erwähnen Titelouze nicht oder nur kurz. J. G. Wal¬ 
ther, J. N. Forkel, A. Gathy, G. Schilling, F. S. Gaßner, C. F. Becker, 
A. W. Ambros, R. Schlecht, A. v. Dommer, U. Kornmüller, A. Proßniz 
Kothe-Prochäzka unter vielen andern kennen Titelouze nicht. Dafür wird 
er von E. G. Gerber (nach Mersenne) im alten Lexikon kurz erwähnt. 
Mendel-Reißmann übersetzte auszugsweise nicht ganz richtig aus Fltis 
„Biographie universelle des musiciens“, wie aus der vorliegenden Arbeit 
ersichtlich ist. Seit der fünften Auflage ist er auch in H. Riemanns 
Lexikon vertreten. A. G. Ritter konnte keines der beiden Orgelwerke 
auffinden, nennt aber doch den Namen in seinem Werke „Zur Geschichte 
des Orgelspieles“. Rob. Eitner veröffentlichte alles Wesentliche im „Quel¬ 
lenlexikon*. Dem verdienten Forscher zu diesem Zwecke meine Kopien 
zur Verfügung zu Stellen, habe ich mir zur besonderen Ehre gerechnet. 

Einen recht charakteristischen Zug der Zeit unseres Meisters bilden 
die jeweils zwischen der Vorrede und den Kompositionen eingefügten 
Lobgedichte 1 ) auf den Komponisten. Mit Rücksicht auf den beschränkten 
Raum folge hier nur der Schluß eines Anagramms, dessen große Buch¬ 
staben den Namen unseres Meisters wiedergeben: 

... 

„Et puis d’un beau soucy qui regne en ta poitrine, 

Pour empreindre en nos coeurs ta musique divine, 

Les liant aux doux sons: T’EZ A TON IEU LIf:.“ 

‘) Diese Gedichte bieten weder biographisches noch musikflsthetisches Material; 
J. B. Weckerlin charakterisiert sie in seinem Katalog der Konservatoriumsbibliothek 
von Paris als: „assez mauvais vers*. Trotzdem vermisse ich deren Aufnahme in der 
Guilmant-Edition zur Vervollständigung des Bildes; zudem waren unter diesen Ge¬ 
legenheitsdichtem auch solche von gutem Klange wie z. B. Saint-Amant, der auch 
im Hymnenwerke unseres Meisters an erster Stelle steht 



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I n Böhmen wird gegenwärtig die Auferstehung des Herrn am Kafsams- 
tag abends gefeiert. Christus ist von den Toten beim Morgengrauen 
des ersten, dem Samstage folgenden Tages auferstanden,*) aber die Feier 
selbst erscheint aus Zweckmäßigkeitsgründen von Sonntag früh auf 
Samstag abends verlegt. 

Nach dem „Manuale rituum“ 8 ) unter dem Titel „Ordo elevandi Ss. 
Corpus Christi e sepulchro vespere sabbati“ pag. 284. kniet der Zele¬ 
brant mit Assistenz beim Heiligen Grabe nieder und der Klerus oder 
der Sängerchor rezitieren lateinisch den 56. Psalm „ Miserere mei Deus*. 
Der Zelebrant singt hierauf, wie beim Begräbnis Erwachsener, das „Pater 
noster " und fügt die Oration: „Deus, qui hatte* an. Nach der Incen- 
sation des Sanktissimum empfängt er vom Diakon das Ostensorium (Mon¬ 
stranz) und intoniert das Lied: „Vstalf jest teto chvile* (Christus ist er¬ 
standen), welches vom Chore fortgesetzt wird. Der Priester schreitet 
hierauf mit dem Allerheiligsten, begleitet von den Gläubigen, in feier¬ 
licher Prozession zum Hauptaltar. Dort stellt er die Monstranz auf den 
Altar, singt den Versikel „Surrexit Dominus ", fügt die Oration „Deus, 
qui nos a tono feriali simplici mit der großen Klausel an und intoniert 
den Hymnus „Te Deum laudamus“, der vom Chore zu Ende gesungen 
wird. Es folgt die Antiphon „Regina ceeli * und der heilige Segen, dem 
das übliche „Pange lingua“ vorangeht. 

Das Lied „Vstalt* jest teto chvfle" („Christus ist erstanden") er¬ 
scheint nach dem gegenwärtig gültigen Manuale fälschlich als integrie¬ 
render, liturgischer Bestandteil der Auferstehungsfeierlichkeit. 

Ich sage fälschlich, da die geltenden (liturgischen) Vorschriften den 
Gebrauch einer lebenden Sprache bei den liturgischen Handlungen verbieten 
und der Priester überhaupt keinen Gesang anstimmen darf, wenn er die 
Monstranz oder das Ziborium mit dem Allerheiligsten in den Händen 

') Übersetzt von Prof. Emil Bezecny—Prag 
*) Matth. 28, 1. 

*) Manuale rituum in cura animarum saepius occurrentium e rituali Romano 
et collectione rituum particularium a clero provinciae Pragensis et benigna s. Sedis 
Apostolicae retinendorum excerptum, cui accedunt breves allocutiones et preces bohe- 
micae. Mandante et approbante reverendissimo archiepiscopali Consistorio Pragensi. 
Prag« 1907 (V. Kotrba). Im Prager Konsistorialarchiv ist keine Approbation von diesem 
Manuale aus 1907 eingeschrieben. 


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Surgit in hac die 


hält. Es ist daher nicht korrekt, wenn der Priester, die Monstranz mit 
dem Leibe des Herrn in der Hand, das „Vstalf jest teto chvile" anstimmt. 

Die Auferstehungsfeier setzt das Heilige Grab oder wenigstens 
ein Sanktuarium bei einem Altar in einer Seitenkapelle voraus. Nicht 
alle Ritualbücher und Agenden sprechen aber vom Heiligen Grabe und 
wo sie dasselbe kennen, enthalten sie für die Feier desselben von einan¬ 
der abweichende liturgische Vorschriften. Die alteren Ritualbücher er¬ 
wähnen das Lied „Vstalf jest" überhaupt nicht; erst die Agenden neueren 
Datums erlauben den Gesang desselben bei der Auferstehungsfeier, stim¬ 
men aber indessen in Detail-Rubriken miteinander nicht überein. Die älte¬ 
ren Ritualbücher und Agenden lassen sich, soweit es sich um Vorschriften 
in bezug auf die Auferstehungsfeier handelt, in drei Gruppen scheiden. 

a) Die erste Gruppe kennt das Heilige Grab überhaupt nicht, 
daher weder den Besuch desselben noch die Auferstehungsfeier. Hieher 
gehört vor allem die lateinische Agende des Prager Bischofes Tho- 
bias (TobiäS) (1278—96) aus dem Jahre 1294. 1 ) Es ist das älteste 
Buch böhmischen Ursprungs, welches ausschließlich Ritualvorschriften 
extra Missam enthält. Eine Rubrik, betreffend die Prozession am Kar. 
samstag findet sich in demselben nicht; für den Ostersonntag enthalt es 
zwar Gesänge „ad processionem“, aber nicht zum Heiligen Grabe. Es 
handelt sich dort um die Prozession durch die Kirche nach der Anti¬ 
phone „Vidi aquam“, worauf die heilige Messe gefeiert wird. Aus die¬ 
ser Prozession hat sich die „Aspersio“ des Volkes mit Weih¬ 
wasser entwickelt, eine Feier, welcher vom Ostersonntag bis zum 
Pfingstsonntag die Antiphone „Vidi aquam“ vorangeht. — Indessen stim¬ 
men die Gesänge und Gebete „ad aspersionem et ad processionem die 
sancto“ nach der Agende des Bischofes Thobias stellenweise mit den 
Zeremonien bei der Prozession zum Heiligen Grabe, wie sie uns in neueren 
Ritualbüchern begegnen, mit den Ostergesängen der Utraquisten über¬ 
ein ; nur ist dort der unterlegte liturgische Text ins Böhmische übersetzt. 

Aus diesem Grunde ist es notwendig, wenigstens jene Teile, die 
sich später bei der Auferstehung wiederholen, wörtlich anzuführen; die 
anderen, bei denen dies nicht der Fall ist, nur auszugsweise. 

Seite 203. Ad aspersionem: „Vidi aquam“. Die Melodie stimmt 
bis auf kleine Abweichungen mit der heutigen überein. 

V. Domine apud te . . . 

Seite 204. Ad processionem. Cum rex gloriae *) 

*) Handschrift in der Kapitel-Bibliothek Prag IV. sign. P/, mit der Inschrift: 
„Anno Domini millesimo ducentesimo XC° IUI 4 Dominus Thobias episcopus pragensis 
vicesimus quintus istum librum agende contulit ecclesie pragensi.“ Die Noten sind 
wie im Troparium aus 1235, d. h. „pedes muscarum", aber auf 5 Linien. 

*) Gleich, wie im Obsequiale von 1496 und 1585 bis zu den Worten „in tor- 
mentis alleluia.“ Dieselben Worte hat auch das Missale von 1472 (Kap. Bibliothek, 


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Handschrift F/,). ijt welchetn därriäch folgt: „Et fit proeessjo ad mönasteriutn sancti 
Georg». Ibi in staüonc mdpit praeiaius: Surrevit enira . . 


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Faksimile aus der Thobias-Agende S. 205. 

Seite 206. Trophus (zum vorangehenden „Cum rex gloriae") - . Tri- 
umphat dei filius de hoste superbissimo resurgens a morte delens eam 
sua. y. Latronem sero flebilem coniunctum beatissimus perduxit ad regna, 
quo iturus erat. y. Petrum cum reliquis visitavit. Omnes incredulos re- 
vocavit semper voce pia. 


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Surgit in hac die 


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In stacione. 1 ) Surrexit ... 

S. 209. Oratio. Deus, qui nos resurrectionis dominicae . . . 

Oratio.*) Deus, qui renatis aqua et spiritu sancto ... 

In reditu. W. Salve festa dies toto venerabilis . .. (Mit einer Melodie) 

Postea redeunt ad chorum et ibidem missaagitur ordine suo. 

Weder im XIV. noch im XV. Jahrh. haben einzelne Missalien 8 ) 
Rubriken für den Besuch des Heiligen Grabes und schreiben nur die 
Prozession „ad aspersionem“ und die Gesänge nach dem „Vidi aquam* 
vor, geradeso wie die Agende des Bischofs Thobias. Gewöhnlich fehlt 
der Trophus „Triumphat“ und die heilige Handlung erscheint abgekürzt. 

Die offiziellen römischen Ritualbücher kennen weder das 
Heilige Grab noch die Auferstehungsfeier und natürlich auch nicht das 
Lied „Vstalt* jest“. Das erste offizielle, für die ganze Kirche emp¬ 
fohlene Ritual ist aus dem Jahre 1614: Rituale Romanum Pauli V. 
Pont. Max. iussu editum. Spätere Ausgaben folgten 1625 in Ant¬ 
werpen, 1636*) mit hinzugefügter Formel „pro benedicendis agris“, 1642 
unter dem Titel: Rituale Romanum Pragense iussu et authoritate 
archiep. Ernesti Adalberti 6 ), weiter 1898 (editio sexta post typicam) 
und 1872 erschien: Collectio rituum particularium a clero pro- 
vinciae Pragensis ex benigna s. Sedis Apostolicae retinendo- 
rum ... in processionibus. (Editio in usum cleri provinciae Pragensis 
approbata ex mandato Curiae Archiepiscopalis); doch weder hier, noch 
in den vorhergehenden Ausgaben finden wir eine Erwähnung der Auf¬ 
erstehungsfeier. 

b) In zweiter Reihe stehen die Agenden privater Autoren ohne 
offiziellen Charakter. Nach Provinzialgewohnheit setzen sie das Heilige 
Grab (sepulchrum), die Übertragung des Allerheiligsten vom Haupt¬ 
altar ins Heilige Grab am Karfreitag und die Prozession vom Heiligen 
Grabe mit dem Sanktissimum zum Hauptaltar nachts oder abends am 
Karsamstag voraus. 

So wird das Begräbnis des Herrn und seine feierliche Auferstehung 
dramatisch dargestellt. Diese Prozession am Karsamstage abends oder 
früh am Ostersonntage mit dem Allerheiligsten — das ist unsere gegen¬ 
wärtige Auferstehungsfeier. 


‘) Von da wieder in Hdsch. P/«. 

*) Diese Oration fehlt in P/< und gleich nach der ersten Oration ist die Rubrik 
„In reditu ympnus: Salve festa dies". 

*) Zum Beispiel ein Missale aus XIV. Jahrh. (Prag IV. Bibi. Strahov. D. f. I. 8.) 
mit Neumenschrift auf 4 Liniensystem, wo für F-Schl. die Linie rot ist Auch siehe 
das schon früher zitierte Missale von 1472, Prag IV. Kapitel Bibi. P/ 4 1 
4 ) Prag, Bibi. Strahov sign. A. Ch. X. 10. 

*) Ernestus II, Comes ab Harrach (1623—16,67), Kardinal. 


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Surgit in hac die 


Die Zeremonien bei derselben Prozession sind im „Liber sacerdo- 
talis“ 1 ) des venetianischen Dominikanermönches Albert Castellani be¬ 
schrieben. Trotz päpstlicher Approbation besitzt dieses Buch keinen offi¬ 
ziellen Charakter. Nach demselben findet die Prozession zum Heiligen 
Grabe nach dem Läuten zum Matutinum „in nocte Paschae“, d. h. 
zum Sanktuarium in der Kapelle statt. Der Priester öffnet das Heilige Grab 
(Sanktuarium), entnimmt demselben das Allerheiligste und trägt es in 
feierlichem Umzug durch die Kirche, wo gewöhnlich das allerheiligste 
Sakrament aufbewahrt wird (in loco sacrarii, ubi s. sacramentum ser- 
vari consuevit). Bei der Prozession wird der 3. 138. 56. Psalm lateinisch 
gesungen. Hierauf legt der Priester den Leib des Herrn in ein eigenes 
Sanktuarium (in sanctuarium suum) auf dem Hochaltar ohne die Türe 
desselben zu schließen. Der Klerus singt R. „Surrexit pastor ", der Zele¬ 
brant fügt die Oration „Omnipotens, sempiteme Deus " und noch zwei 
andere Gebete an und inzensiert das Allerheiligste. 

Inzwischen kleiden sich zwei Diakone in weiße Dalmatiken und 
bleiben in der Kirche. Der Offiziant verläßt mit dem übrigen Klerus 
durch einen Seitenausgang die Kirche, geht dreimal um dieselbe herum 
bis zum Haupttor, welches dreimal mit dem Kreuze berührt wird und 
singt dabei: „ Attollite portas vestras“. Nach dem dritten Schlage öffnen 
die Diakone von innen das Tor; die Prozession betritt die Kirche und 
teilt sich in zwei Chöre. Der Priester geht zu dem halbgeöffneten Taber¬ 
nakel, wohin er den Leib des Herrn gelegt hatte, blickt hinein, wendet 
sich zum Volke und singt dreimal: 

Sur - re - xit Chri - stus. 

Das Volk antwortet „Deo gratias". Der Geistliche gibt den Frie¬ 
denskuß („pax“) und singt „Surrexit Dominus Es folgt hierauf 
die Prozession zum Marienaltar, wo die Antiphone „Regina coeli , ‘ ge¬ 
sungen wird. 

Bei dieser Prozession vom Heiligen Grabe zum Hochaltar ist die 
Anwesenheit des allerheiligsten Sakraments und der Ausschluß 
der Muttersprache aus der Liturgie charakteristisch. 

Im XVII. Jahrhundert schreiben die Ritualbücher ebenfalls die Pro¬ 
zession vom Heiligen Grabe zum Hauptaltare vor, erlauben aber unter 
verschiedenen Bedingungen schon den Gebrauch der deutschen 
oder böhmischen Sprache beim Gesänge der Osterlieder. Es 

') Albertus Castellani: Liber sacerdotalis nuperrime ex libris s. Romanae Eccle- 
siae collectus atque compositus et auctoritate Ss. D. N. Leonis X. approbatus 1523. 
Erschien auch 1537 in Rom, 1538 in Venedig, dann 1546, 1555, 1567. Siehe Cäcilien- 
Kalender 1885, Regensburg: die Auferstehungsfeier am Karsamstag, pag. 27 ff. — 
Castellani hat auch 1506 ein Missale herausgegeben. (Prag IV. Bibi. Strahov sign. 
A. Ch. V. 4.) 


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sind das: „Appendix ritualis Romano-Pragensis* von 1643, Ri¬ 
tuale von 1700, Panis quotidianus von 1733, die Agende von Krol- 
mus von 1848. 

c) Die dritte Gruppe der Agenden und Ritualien verlangt ebenfalls 
die Prozession zum Heiligen Grabe, jedoch ohne das allerheiligste 
Altarssakrament. Statt desselben wird bei der Prozession am Kar¬ 
freitag und Karsamstag ein Kruzifix vorangetragen. Am Karfreitag findet 
das Begräbnis des Herrn statt (sepultura Domini). Vor dem Komple- 
torium wird zum Begräbnisplatze (ad locum sepulturae) das Kreuz, vor 
demselben andere Kreuze, Kerzen, Weihrauch und Weihwasser getragen. 
Das Kreuz wird ins Grab gelegt, inzensiert und mit Tüchern eingehüllt. 
Daraus ergibt sich, daß das Sanktuarium allein nicht das Heilige Grab 
vertreten kann, sondern daß dem Heiligen Grabe der ganze Altar dient, 
wie es auch heute noch der Fall ist. In der heiligen Osternacht findet 
der Besuch des Heiligen Grabes statt, also die Auferstehungsprozes¬ 
sion, bei welcher sie sich aus dem Heiligen Grabe mit aufgehobenem Kreuze 
zum Hauptaltare begibt 

Nach den Ritualien sub b) wird das allerheiiigste Altarssakra¬ 
ment, hier das Kruzifix, aus dem Heiligen Grabe getragen. Dort ist 
Christus realiter und substantialiter, hier nur im Bilde (Kruzifix) 
gegenwärtig. 

Die Zeremonie der Kreuzaufhebung aus dem Heiligen Grabe 
in der heiligen Nacht war in Böhmen allgemein gebräuchlich; wir finden 
dieselbe in alten Handschriften und Drucken des XV. und XVI. Jahr¬ 
hunderts erwähnt. 

Das „Breviarium et Rituale“, Hs. aus dem XIV. Jahrhundert 
(Prag, Bibi. Museum sign. XIV. D. 9.) schreibt vor, 1 ) daß in der heil. 
Nacht vor dem Matutinum mit der großen Glocke geläutet werde. Bei 
dem Geläute derselben stehen alle auf und gehen im Umzuge zum Grabe 
des Herrn. Voran werden Kerzen, Fahnen, Weihrauch und Weihwasser 
getragen. Nach Herausnahme des Kreuzes aus dem Heiligen Grabe kehrt 
die Prozession unter Absingung des „Cum rex gloriae“ zum Hauptaltar 
zurück, wo das Kreuz begrüßt und auf seinen Platz gestellt wird. 

Im ältesten gedruckten Prager-Ritual von 1496,*) „Obsequiale et 
benedictionale“ ist der Besuch des Heiligen Grabes so geregelt, wie 

') Post Completorium sabbato sancto. In sacra nocte ante matutinas magna 
campana pulsetur, ad quam . . . consurgant et eant ad sepulchrum in processione 
precedentibus cereis, vexillis et incenso et aqua benedicta et accepto cruce redeuntes 
cantant „Cum rex gloria* . . . pervenitur ante altare maius, ubi salutata cruce ista 
ponitur in loco suo. 

*) Incunabe! von 1406 hat die Inschrift: „Obsequiale sive benedictionale 
quod agendam appelant secundum ritum et consuetudinem Pragensis Ecclesia“. Ein 
Exemplar ist z. B. in der Kapitel-Bibl. Prag IV. ohne Signatur, andere 2 Exemplare 
in der Strahover Bibliothek sign. D M. VL 10 und D M. VI 11 und ein Exemplar in 

Kircbammdk. Jahrbuch. 23. Jahre. 5 


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Surgit in hac die 



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der Plager Priesterseminarbibliothek, wo zum gedruckten Texte in gedrucktes Linien- 
systent die Notatfcm mit der Feder handschriftlich durchgeführt ist. Der Unterschied 
zischen der Notenform und Melodie des ^Rex glorias" aus dem XIII., XV. und XVI. 

Jahrhundert ist aus folgendem Faksimile des „Obsequiale“ der Prager-Priester* 

> » . . 




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61 


im Exemplar vom Jahre 1585 1 ) und stimmt auch bis auf kleine Abwei¬ 
chungen mit dem „Obsequiale“ vom Jahre 1520*) auf Folio CXXXHIt* 
rubrica) de sepulchri visitatione in nocte sancta paschali) vollkommen 
überein. Daß erst das Exemplar aus dem Jahre 1585 und nicht die erste 
Auflage aus dem Jahre 1496 abgedruckt ist, hat seine Gründe. 

Im folgenden versuche ich die katholische und utraquistische 
Osterjiturgie fast aus demselben Jahre parallel zu stellen, um dem Leser 
eine klare Vorstellung der Gebete und Gesänge bei dem Besuche des Heiligen 
Grabes in einer katholischen Kirche im Jahre 1585 zu ermöglichen 
und ihm zu zeigen, wie in einer utraquistischen Kirche die Morgen¬ 
prozession in der Osternacht zum Andenken an die feierliche Auferstehung 
unseres Herrn Jesus Christus a, 1588,*) also in beiden Fällen gegen Ende 
des XVI. Jahrhunderts vor sich ging. 

Auf den ersten Blick äst es klar, daß die böhmische Zeremonie auf 
einer Obersetzung des lateinischen Textes beruht, und daß zu ihr Ge¬ 
sänge hingefügt wurden, welche der ganzen utraquistischen Liturgie einen 
volksmäßigen Charakter gaben. Der Choral ist zwar mit unterlegtem 
böhmischen Texte beibehalten , daneben wurden aber auch mensurierte 
Lieder gesungen, um dem Volke die Beteiligung zu ermöglichen. 



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scminarbibliotiiek ersichtlich. Diesen Abdruck möge man mit jenem ans der Tobias- 
Agende von 1294 (S. 61,62.) und aus dem „Obsequiale' 4 von 1885 ($. 94.) in Vergleich steilen. 

*) Öbsequiaie sive benedfctidnale, qaod agendam appellanb secundwn 
ritutn et consuetudinef» s. Metropolitana« Pragensb Ecdesiae. Prags«, Petrle 1585. 
Ein Exemplar in der Strahover Bibi. sign. A. Ch. 11. 30 und eines in der Kapit. ßibi. 
Prag IV., welches von df. A. Pödlahaa. 1903 in der Zeitschrift des katbolischen Klerus 
in Prag (öäsopis Kalo)ick£hö duehovenstra) beschrieben wurde. 

*) Obsequialium beoedictionum opus exirnium architectonica arte Hieronymi 
Hollzeis, civis Nui^mbergsnsis, impensis spectabiils viri Nicolai LanceÜarii Crume- 
naaensis secundum ordinarium ac rubricas alm« Pragensis ecetesiae. Caraciere tocun- 
dissimo Impressum 1520 (Prag, Strahover Bibliothek sigo, A Ch V. 53.) 

*) Benennung dieser Hs. lautet: «Toto gssü wditarinij knihy s kanonem, s pref- 
fiskczijmij, i s Venite, czti hodnSho knieze Adams , Rödicze Thaborskyho, gednomukaz* 
demu kniezij, ku potriebnosti ducftownlj, przepsah.4 odemne, Waczlawa Cdasisw*. • 
kyho sauseda i MiestaPljsku na ffarze we wsy Bubowiczijch Letha paoie Tii$>'czehö 
pietisteho wosumdesateho wosnteho." (Mus. Prag, sig. Ul. F i7.) 

5* 


gle 




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Surgit in hac die 


In der katholischen Kirche finden wir die Prozession zum Heiligen 
Grabe, in der utraquistischen gibt es kein Heiliges Grab; — die Katho¬ 
liken tragen beim Umzuge das Kreuz, die Utraquisten nicht 

Die Utraquisten beginnen die Feier mit dem Bubspalm 56 »Smi- 
luj se“ (Miserere mei), von dem das katholische Obsequiale schweigt. 
Es folgt hierauf im utraquistischen Ritus „Släva vöönä bud tobö Tro- 
jice“, eine Übersetzung aus dem Obsequiale „Gloria tibi Trinitas". Der 
lateinische Gesang ist melismatisch, der böhmische bereits syllabisch. 

Übereinstimmend ist auch das folgende „Laudem dicite* samt 
dem Psalm und den Versen mit dem utraquistischen »Chvälu öest 
vzdävejte“ und mit dem Psalm »Chvalte2 Päna vSickni* (Laudate 
Dominum omnes gentes). Die Katholiken hatten eine Oration (Per glo- 
riam sanctissimae), die Utraquisten zwei Gebete (»Tobä, Pane Je2ßi Kriste“ 
und »Pane Je2ßi Kriste;*) die böhmischen waren länger als die lateinischen. 
Nach beendeter Oration wurde in der katholischen Kirche das Kreuz vom 
Heiligen Grabe zum Hauptaltar getragen, wobei das »Cum rex gloriae“ ge¬ 
sungen wurde; bei den Utraquisten ist vom Kruzifix nirgends die Rede. Nach 
zwei Gebeten wurde das »Alleluja. Povstanß slävo mä . . .* gesungen, 
dann folgte »Kdy2 kräl slavnosti“, die Übersetzung des bereits angefQhrten 
»Cum rex gloriae*. In der böhmischen Liturgie ist es wieder der sylla- 
bische, in der lateinischen der melismatische Gesang, in beiden aber 
Choralgesang. 

Hier beginnt nun in der Liturgie der Utraquisten eine wichtige 
Abweichung: statt des Choralgesanges „Kdy2 kräl slavnosti“ führen die 
Altarbücher für jene, die den Choral nicht singen können, das Strophen-, 
also Volkslied „Vstalt* jest" und „Prozpevujmeä vSickni nynf" an. Es 
ist dies eine prinzipielle Abweichung; der katholische Gesang ist 
ein für den Klerus bestimmter Kunstgesang; der Gesang der Utra¬ 
quisten nimmt in seine Liturgie auch den Volksgesang, das Strophen¬ 
lied auf. Die Katholiken bedienen sich einzig und allein des rhythmi¬ 
schen Choralgesanges; die Utraquisten verwenden außer dem Choral 
auch mensurierte Lieder. Im weitern Verlauf richtet sich der Utra¬ 
quismus wieder nach dem Katholizismus. Er übersetzt den Choral „Trium- 
phat Dei Filius" mit „Zvftezil mily Syn bo2(", worauf in beiden Kirchen 
das Matutinum folgt, bei den Katholiken lateinisch, bei den Utraqui¬ 
sten böhmisch. 

In der utraquistischen Zeremonie sind also zum ersten Male die 
mensurierten Lieder „Vstalf jest" und „Prozp§vujme2 vSickni 
nyni" als liturgische Bestandteile in Gebrauch. Bei dem ersten 
Lied ist zu bemerken, daß es nach der Melodie als „Surgit in hac die" 
gesungen wird; das zweite Lied hat seine eigene Melodie; beide Lieder 
waren zu Ende des XVI. Jahrhunderts sehr verbreitet und die Melodie 
allgemein bekannt. Für das Volk wurde, damit es sich am Gottesdienste 


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beteiligen könne, in die Zeremonie statt des rhythmischen Chorals das 
Reimlied mit mensurierter Melodie aufgenommen; der Choral war dem 
Volke damals schon unbekannt, da er durch die Mensur und durch 
den schlechten Vortrag verdrängt worden war. 

Bei den Osterzeremonien der Utraquisten, keineswegs aber bei 
denen der Katholiken, wird also das Lied „Vstalf jest" 1 ) als liturgi¬ 
scher Bestandteil zum erstenmal erwähnt Damit ist nicht gesagt, 
daß das Lied erst zu Ende des XVI. Jahrhunderts erscheint; es ist viel 
älteren Ursprungs, aber der Utraquismus*) verlieh ihm liturgischen 
Charakter, den es vom XVII. Jahrhunderte an auch in der katholischen 
Kirche erhielt. Übrigens könnte man bei dem Bestreben der Utraquisten, 
alle Zeremonien, selbst die heilige Messe, ins Böhmische, beziehungsweise 
ins Deutsche*) zu übertragen, vermuten, daß sie schon in der ersten 
Hälfte des XVI. Jahrhunderts dieses Lied in der Osterliturgie benützten; 
diese Vermutung muß aber bewiesen werden. Die Notizen bezeugen, 
daß gegen Ende des XVI. Jahrhunderts die katholischen Zeremonie¬ 
bücher dieses Lied bei der Feier der Auferstehung nicht haben und daß 
die Utraquisten den Choral durch dieses Lied ersetzen wollen. Interes¬ 
sant für den Vergleich beider Liturgien ist der Umstand, daß die Notizen 
fast aus demselben Jahre stammen. Die katholischen Agenden konnten 
bei liturgischen Handlungen die Muttersprache nicht an wenden, wenn 
sie die Approbation der römischen Kurie erlangen wollten; der Utraquis¬ 
mus dagegen kam dem Volke entgegen und gestattete ihm direkte Teil¬ 
nahme an den Zeremonien, indem er die lateinischen Gebete, Psalmen 
und Hymnen und Orationen ins Böhmische übersetzte oder zu älteren 
Melodien neue gereimte Texte schuf, damit das Volk „mit verständiger 
Zunge“ singen könne. Dieses Bestreben des XVI. Jahrhunderts, die 
böhmische Sprache zu verwenden, hängt jedoch nicht direkt mit der 
böhmisch-hussitischen Liturgie in den ersten zwei Jahrzehnten des XV. 
Jahrhunderts zusammen. 

Erst im XVII. Jahrhundert kann man genaue Daten dafür aufstellen, 
daß das Lied „Vstält' jest“ bei der Auferstehung auch in katholischen 
Kirchen gesungen wurde, aber nicht als liturgisch-notwendiger unaus¬ 
bleiblicher Bestandteil, sondern als außerliturgischer Nachtrag zur 
ganzen Feierlichkeit — Im Jahre 1642 wurde in Prag das „Rituale 


*) Am Anfänge des XV. Jahrhunderts war in der Osterzeit das Lied „Bfth väe- 
mohücf* üblich. 

*) Die Liturgie des Utraquismus im XVI. Jahrhundert war nicht überall einig. 
Die erste Abweichung vom katholischen Ritus war Parole für weitere Veränderungen 
der Liturgie. So wurde in Tdbor vom Turm vor der Ostersonntagmesse das Lied 
.Vstalf jest Kristus slavnö“ (wie .Surrexit hodie") und nicht das Lied „Vstalf jest" 
herabgeblasen. 

*) Strahover Bibi. sign. D. E. III. 9 hat eine deutsche hussitische Messe aus dem 
XV. Jahrhundert, in der Öfters „Vater unser" vorkommt 


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Romano-Pragense äd usum Romanum accomodatum iussu et 
authoritate archiep. Ernesti Adalberti gedruckt. In diesem findet 
sich zwar nichts von der Auferstehungsfeierlichkeit, aber im Jahre 1643 
erschien in Wien die Ergänzung hiezu: Appendix ritualis Romano- 
Pragensis continens ea, quae parochi prae manibus habere de- 
bent vel ex laudabili consuetudine a fidelibus desiderari solent. 
Darin steht auf Seite 143 „Ordo elevandi Corpus Domini e sepul- 
chro in sancta nocte Pasche.“ 

Dieser Zeremonie gemäß war der Priester bekleidet mit der Albe, 
der Stola und dem Pluviale von weißer Farbe. Um Mitternacht (circa 
mediam noctem) begibt er sich zum Heiligen Grabe. Es begleiten ihn 
nach Möglichkeit 2 oder 4 ähnlich gekleidete Akolythen, denen der Weih¬ 
rauchträger mit dem Rauchfaß und 2 Kerzenträger mit brennenden Ker¬ 
zen vorangehen. An der Prozession beteiligen sich nach vorgeschriebener 
Regel auch der Sängerchor und die übrigen Geistlichen, jeder mit einer 
brennenden Kerze in der Hand. 

Sobald alle zum Heiligen Grabe kommen, knien sie vor dem Aller¬ 
heiligsten nieder und rezitieren andächtig und demütig 1 ) den 56. Psalm: 
„Miserere mei Deus“. Der Offiziant singt das lateinische „Vaterunser“, 
die Oration „Deus, qui hanc“ und gibt, wenn er will, noch eine andere 
Oration „Gregem tuum pastor*» bei; er beräuchert das Allerheiligste und 
trägt es, von allen begleitet, vom Heiligen Grabe zum Hochaltar. Bei 
der Prozession,*) die die eigentliche Feier der Auferstehung bildet, singt 
der Chor: R. „Surrexit pastor bonus“. 

Das Allerheiligste stellt der Priester auf den Hauptaltar; dann singt 
er selbst oder der Akolyth: V. „Surrexit. — Oremus, Deus, qui nos resur- 
rectionis . . .“. Er beräuchert das Allerheiligste, nimmt es in die Hand, 
wendet sich zu dem Volke*) um und singt: O vere digna hostia 4 ) 
Der Chor setzt fort: „ Gloria tibi Domine . . ." Wenn der Chor den 
Vers „Cum Patre et Sancto Spiritu “ singt, gibt der Priester mit dem 
hochwürdigsten Gut den Segen; dabei betet er nicht (nihil dicendo). 
Hierauf stellt er das Allerheiligste in den Tabernakel. Unmittelbar dar¬ 
auf wird die Sequenz „Victimce paschali mit dem deutschen Liede 
„Christ ist erstanden" gesungen (incipitur et canitur); letzteres Lied 
entweder nach oder wechselweise (altematim) mit der Sequenz. 
Dadurch, daß man nach den liturgischen Zeremonien (gemäß dem 
Rituale vom Jahre 1643) kein böhmisches Lied sang, sondern ein 
deutsches, wird an der Sache nichts geändert; damals war eben die 

*) Im orig.: summa cum animi submissione ac devotione. 

*) Interim choro inchoante et cantante fy. „Surrexit pastor bonus*. 

*) Org.: „stans cum eodem versus populum canit.“ 

*) Der Priester singt zwar lateinisch, aber er soll Oberhaupt nicht singen, wenn 
er das Allerheiligste in der Hand hfllt 


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böhmische Sprache in den Hintergrund gedrängt Wichtig ist, daß es 
ein Lied in der Muttersprache war, daß es erst nach beendeter eigent¬ 
licher Zeremonie gesungen wurde und daß nicht der Priester es into¬ 
nierte und sang, sondern das Volk. 

Wenn der Priester das Allerheiligste vom Heiligen Grabe nahm, 
sang er nicht; erst beim Hauptaltar, wenn er den Leib des Herrn in den 
Händen hielt, begann er lateinisch (nicht böhmisch) zu singen: „ O vere 
digna hostia.“ Es wird nicht wie im XVI. Jahrhundert das Kreuz über¬ 
tragen, sondern der Leib des Herrn. Der vereinzelt in einigen Provinzen 
geltende Ritus aus Castellanis „Liber sacerdotalis" wurde in die Zugabe 
zum Rötnisch-Prager Rituale eingereiht. Die Prozession mit dem Kreuze 
verschwand im XVII. Jahrhunderte und überall wurde die Auferstehungs¬ 
feier mit dem Allerheiligsten vollzogen. Der Gesang in lebenden Spra¬ 
chen war erst nach vollendeter Zeremonie erlaubt. Die Kirche nahm 
dem Volke das Lied, das es zur Zeit des Utraquismus gesungen hatte, 
nicht, aber sie verlegte es an das Ende der Feier. 

Mit Anfang des XVIII. Jahrhunderts dringt nach der Agende Breuners 1 ) 
die lebende Sprache tiefer in die eigentliche Zeremonie ein. Die Feier 
findet nicht um Mitternacht statt, sondern schon am Vorabende der hei¬ 
ligen Nacht um 7 oder 1 l t S Uhr (ad vespern m sacrae noctis circa septi- 
mam vespertinam aut mediam octavam). Alles ist so, wie es der „Appen¬ 
dix" des Rituale vom Jahre 1643 schildert; nur wird bei der Prozession 
vom Heiligen Grabe zum Hauptaltar R. „SurrexU pastor" gesungen, oder 
ein auf die Osterzeit passendes Lied in der Muttersprache (pro 
tempore conveniens alia cantio paschalis lingua vernacula). 

Einige Jahre darauf findet man in der von Joseph Levinsky nach 
dem römischen Rituale verfaßten Agende „Panis quotidianus"*) auf 
Seite 95 die Feier der Auferstehung so geschildert wie im Prager Rituale 
auf Seite 123, aber für die Zeremonie beim Heiligen Grabe erscheint fol¬ 
gende Änderung angeordnet: „Der Priester legt stehend Weihrauch ins 
Rauchfaß, inzensiert kniend das Allerheiligste, erhebt sich und nimmt 
das Allerheiligste. Dabei wird entweder „SurrexU pastor bonus“ oder 
böhmisch „ Vstalf jest" oder deutsch „ Christus ist erstanden“*) gesungen. 

Die Breunersche Agende gestattet ein Lied in der Muttersprache, 
das erst gesungen wurde, als sich die Prozession vom Heiligen Grabe 

*) Rituale seu Agenda Romana-Pragensis 1. pars autoritate archiep. Joannis 
Josephi Breuner. (Erzbischof 1694—1710). Prag, Bibi. Strahov sig. A Ch V. 25. vom 
Jahre 1700. 

*) Panis quotidianus pro consequenda et conservanda vita seu Dei gratia 
fidelium animarum et omnium bonorum temporum. Non quidem ad esum, verum ad 
usum bonis pastoribus a Josepho Levinsky. Prag bei Hraba 1733. 

*) Die Rubrik sagt: Stans (sacerdos) imponit incensum et genuflexus incensat; 
tandem surgit et accepto Venerabili Sacramento canitur „Surrexit pastor bonus* vel 
boemice „Vstalt jest“ vel germanice „Christus ist erstanden“. 


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zum Hauptaltar begab; Levinskys Agende geht weiter und ordnet ein 
bestimmtes Lied „Vstalt* jest" an, welches dann gesungen werden 
kann, wenn der Priester das Allerheiligste aus dem Grabe emporhebt 
und in der Hand hält. Wer dies Lied singen soll, ist nicht gesagt; die 
Agende sagt nur unbestimmt „canitur". 

Am weitesten ging im Gebrauch der böhmischen Sprache bei 
der Auferstehung und bei anderen Zeremonien der Zvfkovecer Pfarrer 
W. Krolmus Bfezinsky in seiner böhmischen Agende vom Jahre 
1848. 1 ) Von Seite 54 an hat er folgende Anordnung für die Prozession 
am Karsamstag: Wenn der Priester am Abend mit den Altar-Dienern 
beim Grabe Christi kniet, rezitiert er abwechselnd mit dem Chor den 
56. Psalm: „Smiluj se" („Erbarme dich“) . . . Dann betet der Priester 
böhmisch das „Vaterunser" . . . „Lasset uns beten! Gott, der du 
die heiligste Nacht . . .“, er inzensiert das Allerheiligste, steht auf, 
nimmt das Allerheiligste, wendet sich zum Volke und singt „ VstaW jest 
teto chvile ctnf Vykupitel (oder „svSta Spasitel".*) Das Volk setzt das 
Lied fort oder singt abwechselnd mit dem Chor das böhmische „Te Deum.“ 
Für dieses Lied ist in der Agende keine Melodie. Die Intonation des 
Liedes „VstaW jest" durch den Priester, der das Allerheiligste vor der 
Prozession vom Heiligen Grabe in den Händen hält, bleibt nach Krolmus 
auch in dem bei Kotrba herausgegebenen Rituale wie zu Anfang. 

Das ist in Kürze die Entwicklung der Auferstehungsfeier, in welche 
heute aus der utraquistischen Liturgie das alte böhmische Lied „Vstalt 
jest“ gekommen ist. Ich glaube, daß auch vor Krolmus der katholische 
Priester bei dem Emporheben des Allerheiligsten aus dem Heiligen Grabe 
dieses Lied intonierte; Krolmus sagt selbst, daß er die Agende nach 
alten Mustern (nach Vinc. Zahradnik und Bischof von Leitmeritz, Joseph 
Hurdälek 1747—1833) gearbeitet habe. Eine Anerkennung von seiten 
der Kirche wurde der Agende von Krolmus nicht zuteil. Die offiziellen 
Kreise richteten sich nicht immer nach den angeführten Agenden, durch 
die sie eher die Liturgie am Lande regulierten. Der Choralist Joseph 
Rullik bei St. Veit am Hradschin widmet dem Erzbischof W. Chlum- 
Sansky von Pfestavlk „Liber Intonationum“ vom Jahre 1782. Nach 
Seite 66 wird in der heiligen Osternacht bei dem Emporheben des Aller¬ 
heiligsten (sacra nocte Paschatis ad levationem Sanctisimi intonatur) in¬ 
toniert: Gloria tibi Trinitas und „Laudem dicite Deo nostro". Die Into¬ 
nation für das Lied „Vstalt' jest' ist nicht vorgeschrieben. 


*) Agenda 6eskä Kf-estanü Katolickych. Prag 1848. Exempl. in Bibi. Strahov 
A Ch VIII. 5. Alles ist böhmisch. Krolmus lieg sie nach der Aufhebung der Zensur, 
15. März 1848, drucken. 

') Kapitel-Bibl. am Hradschin PHdsch. 


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Schreiten wir zur Geschichte des Liedes selbst! Die bis¬ 
herigen Angaben und literarischen Nachforschungen nach dem Liede 
befriedigen nicht. Karl Konräd preist im I. Teil seiner „Geschichte 
des altböhmischen Kirchengesanges" ,*) Seite 61 seine phrygische Ton¬ 
art, führt die Worte Dr. Witts (Flieg. Blätter für k. Kirchenmusik 1870, 
Nro. 11) an, aber die Melodie schöpft er erst aus Steyers Kantionale.*) 
Er behauptet, daß das kunstvolle lateinische Lied „Surgit in hac die“ 
eine Übersetzung des älteren böhmischen „Vstalt* jest“ ist; für diese 
Behauptung führt er aber keine Beweise an. — Am eingehendsten, 
aber nicht ganz richtig, berichtet über dieses Lied Dreves (Candones 
bohaemicae), der den Text des lateinischen Liedes aus der Wittingauer 
Hs. A 4 des Oldfich KH2 aus Telö, eines Zeitgenossen Georgs von PodS- 
brad transkribiert und anhangsweise die Melodie des lateinischen Liedes 
aus dem XV. Jahrhundert mit jener des böhmischen Liedes vergleicht, 
das er aber erst aus den Kancionalen der Böhmischen Brüder aus 
dem Ende des XVI. Jahrhunderts kennen gelernt, obwohl sich dasselbe 
auch in der Wittingauer Hs. befindet. In dieser Melodie aus dem XVI. Jahr¬ 
hundert erblickt er die Begleitstimme zu einem Lied aus dem XV. Jahr¬ 
hundert 1 Die Transkription der Melodie stimmt aber mit dem Original 
nicht überein. 

Problematisch ist auch die geschichtliche Aufzeichnung Balbins 
über das böhmische Lied „Vstalt* jest". In „Vita Arnesti", S. 199, wird 
erwähnt, wie er die sehr alte Handschrift „über Prosarum et cantuum 
Ecclesiae Pragensis" gefunden habe, in der „gratissimi illi auribus cantus 
leguntur: Nastal näm den vesety . . . Wstalt* gest t£to chwile . ..." 
Aber diese Hs. dürfte nicht aus der Zeit Ernests von Pardubitz, 
Erzbischof von Prag, stammen, obschon sie Baibin als „antiquissimo 
scripturae genere exaratus (über)" nennt. Aus großer Liebe zu seiner 
Sprache ließ sich Baibin hinreißen, alles in die Zeit Ernests zu 
verlegen. 

Unter den 4 im XIV. Jahrh. in Böhmen gesungenen Liedern ist „Vstalt* 
jest" nicht. Prof. Dr. Z. Nejedty schweigt in seiner böhmischen „Geschichte 
des vorhussitischen Gesanges" („DSjiny pfedhusitsköho zpSvu") und in 
seinem böhmischen Werke „Anfänge des hussitischen Gesanges" („Poöätky 
husitskdho zp$vu") über das lateinische Lied „Surgit" und über unser 
böhmisches Lied, da er es im XIV. Jahrhunderte und zu Beginn des 
XV. Jahrhunderts nicht kennt. 

Es gibt also einige Ansichten, die sich widersprechen. 

Zu einem richtigen Urteil führen einzig die Notizen in unseren alten 
Handschriften. Aus ihnen muß man die Antwort auf die Frage schöpfen, 

*) Döjiny posvdtngho zpövu starocösköho, Prag 1882. 

*) Kandonäl öesky von Wenzel äteyer S. J. I. Aufl. 1683. 


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Surgit in hoc die 


ob das lateinische Lied „Surgit in hac die“ und das böhmische „Vstalt' 
jest“ zusammengehören und wie alt beide sind. Auf beide Fragen 
antwortet die VySehrader Hs., aus der Hälfte des XV. Jahrhunderts 
(sign. V. öön). Auf fol. 26* ist der lateinische Text „Surgit in hac 
die“ und gleich darnach fol. 27 h das böhmische Lied „Vstalt* jest“, 
leider ohne Melodie. 

Die gleichzeitige Eintragung beider Texte in derselben Hs. ist ein un¬ 
trüglicher Beweis, daß beide Lieder in enger Beziehung zueinander stehen 
und daß sie im XV. Jahrhundert auch durch ihre Melodie allgemein bekannt 
waren, die zu notieren die VySehrader Hs. nicht nötig erachtet, obzwar sie 
bei anderen Kantilenen mit der Notierung der Melodie nicht geizt. 

Ähnlich führt auch die Sedlöaner Hs. (S.) aus dem Ende des 
XV. Jahrhunderts die beiden Texte unmittelbar nacheinander an, leider 
wieder ohne Melodien, obwohl der Schreiber das Liniensystem vorbereitet 
hatte. Vorne ist das lateinische Lied (fol. 193*) und gleich darnach 
(fol. 193 b ) das böhmische. Ähnliche Fälle weist die Hs. mehrere auf. 

Schon die äußere Form gibt zu erkennen, daß der Schreiber das 
lateinische Lied als Muster für das böhmische wählte. Der lateinische 
Text geht dem böhmischen voran, welche Reihenfolge für die Ursprüng¬ 
lichkeit des ersten Textes spricht. Es ist dies zwar nur ein äußerlicher 
Grund, aber doch ein Grund, welcher ahnen läßt, daß das böhmische 
Lied den lateinischen Text zum Muster hatte, oder daß es wenigstens 
nach dessen Melodie gesungen wurde. 

Ich schreibe beide Texte, den lateinischen und den böhmischen, 
aus der VySehrader Hs. ab, weil ich glaube, daß darin die älteste Auf¬ 
zeichnung beider steht; unter dem Striche führe ich die Abweichungen 
aus dem Wittingauer 1 ) Cod. (T.), aus der Sedlöaner Hs. (S.), aus dem 
FranuS’s *) Kanzional (aus dem Königgrätzer Museum vom Jahre 1505) (F.), 


*) Dreves (Cantiones Bohemicae) sagt, die Hs. sei vom Jahre 1459. Nach einer 
mQndlichen Angabe des H. Prof. Dr. Nejedl^ ist die Hs. aus der Zeit Georgs von 
Podöbrad (1420—1471). Dem H. Prof. dr. Nejedly danke ich hier zugleich für ge¬ 
fällige Obermittlung, ebenso für seine Anteilnahme an der ganzen Studie; ebenso 
den Direktionen der Bibliotheken, aus welchen ich Hss. entliehen habe, weiter dem 
H. Kanonikus dr. Podlaha, dem H. Prof. Emil Bezecn^ für gütige Informationen und 
für die Übersetzung des Aufsatzes. 

*) Eine utraquistische Hs. (Pergament) sign. B 1 367 Blätter, enthält lateinische 
Choral-Meöofficien (auch Officium Zawissionis), in schwarzen Choralnoten, mehr¬ 
stimmige und einstimmige Mensuralgesänge in schwarzer Mensurainotation. Mehrstim¬ 
mige Nrs. aus dem XV. Jahrh. sind lateinisch, etliche von den einstimmigen Mensuralkan- 
tilenen auch böhmisch; sie ist eine der wichtigsten Hss. zur Mensural-Musik 
des XV. Jahrhunderts in Böhmen. Ein gewisser Johanes Franui ließ diese Hand¬ 
schrift auf seine Kosten schreiben. Derselbe hat auch in der jetzigen Kathedral- 
Kirche zu KOniggrätz einen Altar bauen lassen, was in der Hs. fol 307 b bemerkt 
ist: Anno domini nonis mensis Junii, hoc est ipso die Bonifacii Rewerendus ... do¬ 
minus Philippus Villanova, Dei et apostolice sedis grada Episcopus Sydonensis altare 
Corporis Christi, quod Johanes FranuS struxerat, benedixit et consecravit 


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Surgit in hac die 


75 


und aus Prager Museums Hs. sign. XIII. A 2 von 1512 (M.) an; außerdem 
bei dem böhmischen Liede führe ich Abweichungen aus der Strahover 
Hs. D A III. 17 l ) (D.), welche die Aufzeichnung des Liedes aus dem 
XVI. Jahrhunderte enthält, und aus dem Drucke im Prager-Museum sub 
sign. 27 C 18, (das nach der Angabe des Museums-Kataloges die geist¬ 
liche evangelische Lieder von MiHnsky vom Jahre 1522 bringt.) 


1. Surgit in hac die 
Christus dominus, 
sustulitque*) pie 
pro hominibus 
diram 3 ) mortem trucis, 
crucis, 

hostis a vinclis spolia 
trahens omnia. 


Vysehrader Hs. fol. 

2. y. Tirannum crudelem 
iam superavit, 
paradisi portas 
met reseravit 
thartarea frangens, 
4 )solvens, 

regna mortis cum $ 
et victoria. 


3. y. *) Corde letabundo 
nos alleluia 
carmine iocundo 
nos alleluia 
Christo resonemus, 
cantemus 

insigni*) simphonia 
nunc alleluia. 


4; y. Virtutibus plena 
prima omnium 
cernit magdalena 
Christum dominum 
potenter surgentem, 
^flentem 

Christus solatur 8 ) hodie 
princeps glorie. 

Auf fol. 26 b der Vyäehrader 1 


5. y. Limbus atque mundus 
plaudant 9 ) dutciter 
adamque secundus 
nunc feliciter 
opere preclaro, 

1( 0caro, 

salutis, quam promiserat, 
viam reserat. 11 ) 

s. steht das böhmische Lied: 


1. W’. Wstal gest teto chwile 
cztny wykupitel 
zmrtwych geiyss mile 1 *) 
swieta spasytel 


geni pro hrziechy nasse 
rad stasse 13 ) 

rozpat nakriyiy newinny 
nass buoh gediny. 


‘) Dr. J. Zahradnfk bezeichnet die Hs. D. A. III. 17 in seinem Kataloge der Stra¬ 
hover Hss. als ein Missale aus dem XIV. Jahrh., von welchem leider nur einige Blatter 
vorhanden sind. Der größere Teil dieser Hs. enthält lateinische und böhmische Lieder 
mit Melodien, welche von verschiedener Hand aus dem Ende des XV. und Anfänge des 
XVI. Jahrhunderts geschrieben sind. Für die Kulturhistorie sind gerade diese Lieder 
wichtig, deren der Katalog keine Erwähnung tut. Die Reste des Kanon sind aus dem 
Jahre 1366 „per manus nesdo cuius“; dazu additamenta aus 1399. 

*) T. nach Dreves: sustulit qui. S. T. M. haben sustulit que. 

*) T. nach Dreves: durarn. 4 ) S. ac solvens. — M. et sotvens. 

*) S. T. M. hat y. anstatt Ro. — Strophe Corde letabundo hat verschiedene 
Stelle. In T. ist sub Ro. als zweite (Dreves hat sie falsch als 5. Strophe), in S. als 
dritte und sechste Strophe sub Ro., in M. sub Ro. als Refrain bei der ersten Strophe. 

*) S. T. M. insigni nunc symphonia nos alleluia. 

’) S. M. et flentem. •) S. M. solatur. 

•) S. M. plaudat. **) S. ac charo. 

u ) S. fügt zur 5. Strophe Re. Corde letabundo. 

**) S. M. Jeii 1 Kristus mile. **) S. vstdbe. D. stassie. 


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Surgit in hac die 


2. W. Kdyi geho plakachu 1 ) 
smrti ieny cztne 
marie geni*) stachu 
v hrobu truchle 
andiel gen4 sediesse 
gim*) spiessie 

kazal bratrom 4 ) zwiestowati f. 28a 
£e wstal buoh swaty. 8 ) 

3 .IV) Srdecineho hlasu 
my alleluja 
tohoto my ciasu 7 ) 
my alleluja 

wssyczkny zazpiewayme 8 ) 
y 9 ) wzdayme 

stworzyteli 10 ) wsseho swieta 
my alleluja. 


marzy 1 *) magdalena 
k cztnym apposstolom l *) 
promluvi 14 ) k nim mile 
te 18 ) chwile 

diegicz 1 *) poselstwie angelske 
wstal buoh zagiste. 

5. W. Geni 17 ) vmrzieti raciyl 
xpe 18 ) prony cztny 
chtie by sie nezpaciyl lg ) 
hrziessnik rozliciny 
wstaw 70 ) zmrtwych Äaduczy* 1 ) 
milosti**) 

poprziey nam cztneho**) skonanye 
hrziechow poznanie. 


4. W. Przesslechetna 4ena 6. Ro. Srdecineho hlasu* 4 ) 

wssedssy k bratrom wuodm 11 ) my ala. ulterius. 

Inhaltlich sind beim lateinischen und böhmischen Liede einander 
am ähnlichsten die Strophen 1., 3., 4.; am wenigsten die 2. Strophe. 

Die diakritische Rechtschreibung des böhmischen Imperfekts pla- 
kächu, stächu in der Vyäehrader Hs. läßt sich auf eine ältere Form 
schließen als die Sedlßaner Hs. Weil die Einschreibung in die VySeh- 
rader Hs. um das Jahr 1450 geschah, kann man den Ursprung des latei¬ 
nischen und böhmischen Liedes in die erste Hälfte des XV. Jahrhunderts 
verlegen, wo diese Form von alten Imperfekten namentlich in der Kir¬ 
chenpoesie angewendet wurde. 

Zu den 5 Strophen aus dem XV. Jahrhunderte kamen im XVI. Jahr¬ 
hunderte neue dazu. Als Beweis dafür haben wir die Altarbücher Adam 
Täborskys (WoltäJnl knihy Adama Taborskyho) und ein in der Prager 
Universitäts-Bibliothek sub sign. XVII. B. 7 I. pars Jacobo Codicillo 


*) S. M. plakali. T. Tut’jeho plakachu. 
*) S. tu stdly. 

*) S. tim spuke, was aus dem alten Ad- 
verbium spe&e = „Mit Eile" entstanden ist. 
4 ) D: bratruom. S. bratrftm. M. bratHm. 
*) S. Svo/y. Repe. — S. T. x mrtvfch. 
•) S. T. D. hat Ro. anstatt y. 

’) T. hat toho nynie atasu. 

•) S. sexpivajme. 

•) S. T.;my vzdajme. 

*°) D. Spasytely. S. Spasiteli. 
u ) D. k bratruom w duom. S. kbra- 
flim v duom. 

**) D. marzii. S. Maria. 


u ) D. Appostoluom. S. T. apoktothm. 
M ) D. promluwit. 

'*) S. z te. 

*•) D. diegycz — S. M. zdkjic. 
w ) D. Genas. 

**) S. M. pro nds Kriste — D. prony 
Kriste czny. 

**) M. rozpdi.il. 

*°) S. vstal. 

**) M. s radosti. D. radosty. ' 

**) M. s milosti. 

") D. dobreho. 

M ) T. hat ,Repetitio ut supra * anstatt 
der ganzen Strophe, 


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Surgit in hac die 


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von 1586 utraquistisches Kantional. 1 ) In beiden Hss. hat das Lied 
11 Strophen. Die Strophen 6.—11. haben geringeren Wert als die ersten 
Strophen; sie sind auch späteren Ursprungs. Der lateinische und böh¬ 
mische Text ist ein künstlicher, keine Volkspoesie, und in den einzelnen 
Hss. verschieden, wie aus dem folgenden Schema ersichtlich ist. 



• Surgit in hac die. 


V. 

T. 

S. 

1. y. Surgit 

1. y. Surgit mit Ro. Corde 

1. y. Surgit 

2. y. Tirannum 

2. y. Tyrannum 

2. y. Tirannum 

3. y. Corde 

3. y. Virtutibus 

3. Ro. Corde 

4. y. Virtutibus 

4. Limbus. 

4. y. Virtutibus 

5. y. Limbus. 


5. y. Limbus 



6. Ro. Corde. 


3.=6. 


V. 

1. Vstal 

2. V. Kdyi jeho 

3. y. Srde&ntho hlasu 


M. 1. Surgit mit Ro. Corde 

2. Tirannum 

3. Virtutibus 

4. Limbus. 

Vstatt* jest t£to chvfle. 

T. 

1. Vstal 1. 

2. y. Tut’ jeho pl. 2. 


3. Ro. Srdeine'ho hlasu 3. 


4. y. PfeSlechetnä iena 4. y. PfeSlechetnä 4. 

5. y. Jeni umfr'ti 5. Jeni umHti 5. 

6. Ro. Srdebniho hlasu 6. Repetitio ut supra. 6. 

3. = 6. 


D. S. 

Vstal 

Kdyi jeho 
Ro. Srdefsniho 
PfeSlechetnä 
Jeni umfiti 
Ro. Srdeüne'ho 
3.=6. 


I. 


II. 


Mus., Druck aj C 18 , ohne Noten*) (C.) 

1. Vstalf 4. PfeSlechetnä iena 

2. Kdyi jeho 5. Jeni umftti 

3. Ro. Srdebniho hlasu 6. Ro. Srdetneho hlasu. 

3. = 6. 

Das lateinische Lied nach T. und M. hat eigentlich 4 Strophen und 
den Refrain:*) Corde letabundo, der nach jeder Strophe wiederholt wird. 
Der Refrain ist in beiden Hss. angeführt unter dem Zeichen Ro., d. h. 


*) Daß das Kantional wirklich utraquistischen Ursprungs ist, führt den Beweis 
der IV. Teil sub sign. XVII. B. 7. desselben, wo erwähnt wird, daß die Litanei: u Mit$ 
Hospodine, uslyk nds * vom utraquistischen Konsistorium vorgeschrieben wurde. 

*) Hat die Inschrift: »Wie Surgit in hac die“. 

*) In der Hs. M. aus 1572 ist eine ganze Reihe von „canciones“ mit einem Re¬ 
frain. Z. B.: Jubilo cum carmine — veneremur hodie — factorem gendum Ro. o 
lucema gencium. 


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Surgit in hac die 


repetitio. Die Wittingauer Hs. hat für den Refrain keine eigentliche 
Melodie; die M. Hs. kennt bloß einen Teil davon; die Melodie des Re¬ 
frains weicht von der Melodie der übrigen Strophen ab. 

In der Sedlöaner Hs. ist eine dreiteilige 1 ) Form von 2 Strophen 
für den lateinischen Text. Ro. (Corde letabundo) ist an 3. und 6. Stelle, 
oder die 3. Strophe gleicht der 6. Strophe. Die erste Strophe ent¬ 
hielt 3 Teile, und zwar 2 Verse (V. Surgit . . . y. Tirranum) und Ro. 
Corde... — Die zweite Strophe hatte auch 2 Verse (y. Virtutibus ... 
y. Limbus) und wieder Ro. Corde . . . 

Das Zeichen Ro. hat hier eine ursprüngliche und eine übertragene 
Bedeutung.*) Da es zwischen dem 2. und 3. Teile geschrieben wird, 
verlangt der 2. Vers nach der Melodie des ersten gesungen zu werden 
und zeigt an, daß der dritte Teil, auch Ro. (repetitio), in beiden Strophen 
melodisch und textlich gleich ist. Nach der M. Hs. ist also das Ro. 
Corde letabundo ein Schlußgesang. 

Die Form der lateinischen Eintragung in der VySehrader Hs. (V.) 
ist problematisch. Mit der Form des böhmischen Liedes aus derselben 
Hs. verglichen, ist das lateinische Lied bloß strophisch, ohne Refrain. 
— Corde letabundo ist der 3. Vers (y.). Man kann aber annehmen, daß 
im lateinischen Text das Ende Ro. Corde letabundo für den 5. y. Lim¬ 
bus . . . gehalten wird. Dann würde von der VySehrader Eintragung 
dasselbe gelten wie von der Sedlöaner; auch da wären dreiteilige Strophen. 

Das böhmische Lied „Vstalt’ jest“ hat gemäß V. T. S. D. und C. 
eine dreiteilige Form. Ro. Srdebneho hlasu wird als dritter Teil zu Ende 
der beiden Strophen wiederholt. Leider sind in den Hss. keine Melo¬ 
dien, die eine sichere Aufklärung geben würden. 

Aus dem XV. Jahrhunderte (Hs. T.) ist bloß die Melodie für das latei¬ 
nische Lied bekannt. Dreves umschreibt sie in „Canciones Bohemicae“, 
S. 200, aber diese Umschreibung zeigt nicht genau die Mensur der Melodien 
an. Darum führe ich gemäß der Mitteilung des k. Prof. Dr. Z. Nejedly die 
Melodie im Original an (Wittingauer Hs. sign. A 4. fol. 393*). 


,.. , ^ 

Sur-git in hac di - e Christus do-mi-nus, su-slu-lit-aue pi - e pro ho-mi¬ 







• ♦ 


di - ram mor-tem cru-cis, tru-cis, hos-tis a vin-clis s|>o- ti - a tra-hens o-mni-a. 


R*Corde 
letabunda 


') Ober die Form der böhm. alten Lieder vide „Poüätky zpivu husitsklho* von 
Dr. Z. Neiediy, Seite 303. 

*) Uber die Bedeutung des Ro. siehe das Buch von Hofrat Prof. dr. Hostinsky: 
„J. Blahoslav u. J. Josquin“ 1896, S. 111. — 


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Surgit in hac die 


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Diese Melodie ist sicher die ursprüngliche und wurde mit unbe¬ 
deutenden Veränderungen in der Mensur auch zu Beginn des XVI. Jahr¬ 
hunderts gesungen, was die wichtigste und schon angeführte Hs. Fra- 
nuS’s v. J. 1505 sign. B. 1. fol. 273* bezeugt, in der die Melodie auf 
einem 5-linigen System ohne Schlüssel und ohne Angabe des Taktes 
aufgezeichnet ist Die Eintragung FranuSs ist folgende: 



Sur - git in hac di - e chri-stus do - mi - nus, su - stu- 



- Ut - aue pi - e pro ho - mi - ni - bus di - ram mor - tem 



cru - cis, tru - cis, hos - tia a vin -clis spo - U 


_^ 

_ 1 _ 1 



: 


1 

__ 1 _ A 


__^ 

- # — 11 

<1 T 

tra - hens o mni - 4 




Die Eintragung FranuSs vermißt die Melodie für Ro., für den 
Refrain. Daraus folgt, daß dieses Kantional für die strophische Form 
spricht. Der Refrain wurde erst in der M-(Prager Museum XIII. A 2 
fol. 190*) Hs. von 1512 auch mit Noten eingetragen. Das ganze Lied 
klingt nach dieser späteren Notation folgendermaßen: 


C ♦ -* ± 



Sur - git in hac di - e xpus do - mi - nus 



su - stu-lit - aue pi - e pro ho - mi - ni - bus di - ram mor-tem cru- 



- ci$ # tr;u - ci$ # hos - tis a vin - clis 



spo - li - a. 



tra - hens 


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Surgit in hac die 


1 

El 



V 

o - mm - a 

1 ■ * * » 1 l j i — 

R? Cor - de le - ta bun - do nos al - Le - 

-x - M. # 1 - m - " - m— 

i ■ — 

r 'wmm 



1 r 1 1 II 


- lu - ia, car- mi - ne io - cun - do nos al - l« - lu - ia xpo re - 
-sonemus, cantemus insigni nunc symphonja alla. 


Da im Original eine ziemlich häufige Veränderung des Schlüssels 
stattfindet, folgt die Transkription in die moderne Notenschrift, in der 
die Melodie Allabrevetakt hat. 


Prager-Mus. XIII. A2 fol. 190ab von 1512. 



Sur-git in hac di - e Chri-stus Do - mi-nus, sus-tu - lit-que pi - e 




Im R. ertönt (h h d d e h = carmine iocundo) der Anfang des 
Rorateliedes 1 ) „Titot jsou dnov6, v nichäto päm sluSf bdfti" (eine 
Kantilene als Interpolation des syllabisch getragenen Choral-Alleluja am 
Montag) und das Lied der Böhmischen Brüder „Vstoupenf Kristovo 
pamatujme“. Ähnlich begann auch ein Lied „o kräli Matyääovi (Vom 
König MatyäS), wie die an Marginalien sehr reiche und wichtige Stra- 
hover Hs. bezeugt. Schade, daß die Melodie für Ro. nicht beendet ist. 
Zu Beginn des XVI. Jahrhunderts war sie scheinbar allgemein bekannt. 

') Roramina oder Roratelieder wurden im XV. Jahrh. in Böhmen lateinisch 
gesungen; es waren Choralmelodien mit mensurierten Kantilenen. Die Redaktion der 
böhmischen Roratelieder stammt erst aus der Hälfte des XVI. Jahrhunderts und ist 
utraquistischen Ursprungs; sie enthält für einen Tag der Woche ein selbstän¬ 
diges Offizium. Der Choralgesang ist syllabisch und mit Trophen und mensurierten 
Kantilenen, oft weltlichen Ursprungs, interpoliert Jeden Tag hat man den Introitus, 
Graduale, Alleluia, eine Prosa (Sequenz), ein Patrem, Sanctus und Benedictus im 
XVI. Jahrh. böhmisch mit genannten Interpolationen gesungen. Die Hss. haben ver¬ 
schiedene Varianten und Offizien. Die wichtigsten Handschriften mit böhmischen 
Rorateliedem sind in Neu-KOniggrätz vom J. 1581, in KOniggrätz vom J. 1585, in Daäic 
vom J. 1612, in Roudnic (Ende XVI. Jahrh.), Strahov u. a. 


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Surgit ln hac die 


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FQr die Geschichte des böhmischen Liedes ist es wichtig, zu 
wissen, nach welcher Melodie das böhmische „Vstalt* jest t6to chvfle“ 
gesungen wurde. Wenn dieses (böhmische) Lied irgendwie mit dem latei¬ 
nischen „Surgit“ zusammenhangt, muß sich dies auch in der Melodie 
zeigen. In den Kantionalen der Böhmischen Brüder finden wir bei dem 
„Vstalf jest“ zwar die Überschrift „Surgit in hac die“, doch bedeutet 
das nichts weiter, als daß das böhmische Lied aus dem lateinischen ent¬ 
standen ist. Seine Melodie unterscheidet sich von der dort angeführten 
Melodie des lateinischen Liedes; nur der Anfang ist der gleiche. 

Wir wollen aber indessen den direkten Beweis liefern, daß das 
„Vstalf jest“ wirklich so gesungen wurde wie das „Surgit“. Und diesen 
Beweis liefern uns zwei Hss., und zwar die Tenorstimme mehrstim¬ 
miger Kompositionen im Bezirksmuseum in Sedlöan und weiter 
das Beneschauer Kantional 1 ) im Prager Konservatorium fol. 96 b , 97*. 
Da ich bereits eine andere Hs. aus Sedlöan zitiert habe, und keine der¬ 
selben eine Signatur trägt, so will ich, um Mißverständnisse zu vermei¬ 
den, kurz den Inhalt der neuen Quelle*) anführen. Auch der teilweise 
Index der bisher unbekannten Hs. wird jenen willkommen sein, die sich 
um die Kompositionen und Komponisten auf dem Gebiete des mehrstim¬ 
migen Gesanges im XVI. Jahrhundert in Böhmen interessieren. 


') Das Beneschauer Kantionale aus dem Ende des XVI. Jahrhunderts enthält beide 
Melodien, die altere (fol. 96b und 97*), welche mit der Melodie des „Surgit“ identisch 
ist, und die jüngere (fol. 95), welche mit der Melodie in den Drucken der Böhmischen 
Brüder gleich klingt 

*) Die Handschrift ist ohne Signatur, 30 cm hoch, 20 cm breit mit dem Jahre 
1598. Inhalt: Mehrstimmige Offizia und Motetten mit dem böhmischen Texte. Im Me߬ 
offizium ist der Introitus, Kyrie, Alleluia, Prosa, Patrem, Sanctus und Benedictus. Die 
schwarz notierte Choralmelodie ist interpoliert mit Mensural-Kantilenen aus verschie¬ 
denen Zeiten des Kirchenjahres. Die Kantilenen sind mit weißer Mensurainotation 
geschrieben. Im Sedlöaner Museum ist nur Tenor und Alt aufbewahrt. Aus beiden 
Stimmen ist ersichtlich, daß die Kantilenen in einer sehr reichen Polyphonie komponiert 
wurden. Eine ähnliche Mischung vom rhythmischen Choral mit mensurierter einstim¬ 
miger Kantilene enthalt auch ein Liederbuch vom Priester Tobias Zävorka von 1602. 
(Plsne chval boäk^ch knöze TobiäSe Zävorky.) Es kommt in der Sedläaner Hs. oft¬ 
mals vor, daß die Choralmelodie im Tenor mit einer mensurierten Melodie im Alt 
harmonisiert wird; es sind das also Kompositionen „supra librum“. Unter an¬ 
derem enthalt die Hs.: 

No. 7. Off. dedicationis templi 5 vocum a Joanne Alauda Klattovio; — N. 8. 
Off. Resurrectionis Ch. a Traiano Turnovino; — N. 10. Off. Trinitatis. Introitus 
J. Trajanus fecit 1580; — N. II. Off. Dedicationis templi J. T. Turnovino. (Pa¬ 
trem fecit 1580.) — En virgo parit Christum (der einzige lateinische Text in der 
ganzen Hs.). — N. 17. Patrem. „Re re fa mi la sol fa“ a. Andreas Ch. Gevicenus; 
— N. 18. Motetto Nativitatis a. Georgius Richnovinus 1573; — N. 19. Patrem „Re 
re fa mi re* a. Ioan. Simonides Montanus; — N. 32. Off. 5 vocum in aurora 
D. N. J. Ch. a J. T. Turnovino ... — Seite 320. Patrem Quadragesimale Pauli 
Spongopaei Gistebniceni. 

(Am Ende dieses „Patrem“ im Alt ist die Jahreszahl 1608.) Von Seite 322—389 
sind additamenta ohne Notation und aus einer jüngeren Zeit — 

Ktrebeamaflc. Jahrbuch. 23. Jahrg. 6 


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Surgit in hac die 


Diese Hs. weist ein Kyrie (I.) für die Osterzeit „Parte Bote Stvofi- 
teli" auf im Choralrhythmus, vermischt mit mensurierten Kantilenen; für 
das „Vstalt’ jest“ findet sich im Tenor derselbe cantus firmus, wie der im 
XV. Jahrhunderte zum lateinischen Liede „Surgit“ gebrauchte. Wie schon 
bemerkt, steht außer dem Tenor in Sedlöan nur der Alt; die übrigen 
Stimmbände sind verloren gegangen. In der Prager Universitäts-Biblio¬ 
thek befindet sich sub. sign. XVII. B. 16. vom Jahre 1586 1 ) der Diskant, 
der zu den in Sedlöan enthaltenen Stimmen gehört Es ist wichtig, 
diesen Fund zu konstatieren, um eine Nachforschung nach der Ba߬ 
stimme anzuregen, wodurch eine Ergänzung der angeführten Kompo¬ 
sitionen ermöglicht und damit ein Einblick in das Schaffen der Meister 
jener Zeit gewonnen würde. 

Obgleich es sich in dieser Studie in erster Linie um den cantus 
firmus des Liedes „Vstalt* jest“ handelt, so lasse ich doch die enthal¬ 
tenen Stimmen in moderner Übertragung folgen, zum Beweis, daß die 
Sedlöaner und Prager Univ. Hs. sich gegenseitig ergänzen. Nur so ist 
zu erklären, daß die Hs. aus dem Jahre 1586 durch die Stimmen aus 
dem Jahre 1592 ergänzt werden können. 

Diskantus aus der Prager Univ. Hs. XVII. B.*) 16. fol. 151 b . Alt 
und Tenor aus der Sedlöaner Hs.: 


Vstalt jest tö-to chvl - Ie ctttf Vy-ku-pi - tel Je - iß Kri-stus 


Sop. 

AU 

Ten. 





* f r rrfjp f f Hjr 

Vstalt jest tö-to chvi - le ctny Vy-ku-pi - - tel Je-iiä Kri-stus 

J J il st J i ilj _ J 1 ii 


9*45------ \ -—;-- 

(£= 

Vstalt jest tö-to chvi - le ctny Vy-ku-pi - tel Je-iiS Kri-stus 

mi - le svö - ta Spa - si - tel, jeni pro hH-chy na-öe 

ffrmf 

mi - - le svö - ta Spa - si • tel. jeni pro hH-chy na-öe 

iJ-J-J Jj 1 | 1 j I , 

rsr~ -- f jL.J. = j J » J- J 



mi - - le svö - ta Spa - si • tel, jeni pro hH-chy na - Se 


l ) Stammt aus Beneschau, der Autor heißt: „Waczlaw Rzernik Kolarzowicz. 

*) Im Original is weiße Mensurainotation. Die Komposition fängt mit dem 
Durklange auf der VI. Stufe des phrygischen Modus an. 


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Surgit in hac die 


83 


räd vstä * 6e roz-pat na kW • Ii ne - vin - n£, näß B&h 



räd vstal jest roz • pat na ItiH - - ii ne • vin - nj\ nää Büh 


je - di - nf. 



je - di - n^. 


Zur Melodie der Sedlßaner Hs. muß noch bemerkt werden, daß 
sich darin keine besonderen Noten fQr Ro. (Repetitio) befinden; sie ist 
also ein Beweis, daß es sich um ein strophisches Lied handelt 

Dieselbe ältere Melodie, welche mit jener des ursprünglichen „Sur¬ 
git" übereinstimmt, findet sich, wie schon bemerkt, auch im Bene- 
schauer Kantional fol. 96. Sie bietet Gewähr für den inneren Zusam¬ 
menhang des lateinischen „Surgit" und des böhmischen „Vstalf jest" 
und ist als dritte Stimme eines 4stimmigen Männerchores angeführt, 
der leider ohne kühne Konjekturen nicht zu reproduzieren ist, da im 
Manuskripte viele Notenköpfe undeutlich sind und ganze Stellen fehlen. 

Die Kantionale der Böhmischen Brüder aus dem XVI. Jahrhunderte 
kannten auch diese ursprüngliche, dem böhmischen und lateinischen 
Liede gemeinsame Melodie; sie unterlegten derselben einen anderen Text 
und versahen das eigentliche Lied, „Vstalf jest" mit einer anderen, 
jetzt üblichen Melodie. Durch Vertauschung der Melodien versuchten 
die Utraquisten wissentlich die bestehende Tradition zu ändern. Es ge¬ 
schah dies übrigens auch bei anderen Liedern. Die „geistlichen evan¬ 
gelischen Lieder" aus dem Jahre 1594 (Plsnö duchovni evangelistskd), 
S. 53, verlangen zur Melodie des alten „Surgit" nicht den Text „Vstalf 
jest", sondern die Worte des Liedes: „Pan Je 2/8 pokt&eni rcüsil trpeti 
od ddbla ttyticet dm a se postiti" zu singen. 1 ) 

*) Auch die Melodie des deutschen Liedes »Ave Maria, gegrüßt seyst du von 
mir* zeigt große Ähnlichkeit mit der Singweise „Surgit in hac die*. (Bäumker, 
Schlußband, Seite 324, 8). 

6 * 


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84 


Surgit in hac die 


Es läßt sich also behaupten, daß diese Lieder „Surgit in hac die" 
und „Vstalf jest" ursprünglich nach der in der Wittingauer H. A. 7, 
in der Königgrätzer Hs. aus 1505, fol. 273* und Prager Mus. befindlichen 
Hs. (sign. XIII. A. 2. fol. 190*) aus 1512 gesungen wurden. Vorlage für 
das böhmische Lied wäre also das lateinische. In den ältesten Nieder¬ 
schriften finden wir überall die gleiche Strophenzahl, der lateinische Text 
ist dem böhmischen vorangestellt, nicht umgekehrt. Die Worte „Corde 
letabundo" sind direkt wörtlich übersetzt durch: „Srdeönlho hlasu". 

Die älteste bekannte Melodie hat eine lateinische und nicht böh¬ 
mische Textunterlage. Überall finden wir bezeichnet, daß das „Vstalt’ 
jest" so gesungen wird, wie das „Surgit" und nicht umgekehrt. 

Erst im XVI. Jahrhunderte existiert neben der beiden Texten gemein¬ 
samen Melodie eine andere für den böhmischen Text. Damit fällt 
die Hypothese Konräds, daß das lateinische Lied eine Übersetzung des 
böhmischen sei. Die zweite, spätere Melodie zum böhmischen Text „Vstalt’ 
jest" lautet in dem Bömischbroder Kanzional folgendermaßen: 

Böhmisch Broder Kantional. Druck. Prager Museum, sign. 27. A. 
13* fol. 125*. 


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- 3 


T=nr~ 


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Vstalt jest tÄ - to chvl - le ctny Vy - ku - pi - tel, Je-215 Kri-stus mi • le 


JW 2 - f—f—r 

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svö-ta Spa - si - tel, jen* pro hH-chy na - Se on stä - Se roz-pat na kH- 



- 4^ - 

rT\ 

|- 





•f 

äi, ne - vin 

- ny, näS Bfth 

je - di - n£. 


Es wurde bereits hervorgehoben, daß neben der ersten Melodie 
im XVI. Jahrhunderte auch diese zweite verwendet wurde. Ein interes¬ 
santer Beweis dafür ist die erwähnte Tenorstimme aus dem Museum in 
SedlEan, wo in Nr. 4. in die Osterprose „Nu2 velikonoöni chvälu“ nach 
dem Choralanfange auch die zweite, jetzt gebräuchlichere Melodie mit 
dem Text „Vstalt' jest" eingelegt ist. Also befinden sich in derselben 
Hs. beide Melodien zu demselben Text wie im Beneschauer Kantional. 

Zweifellos weicht die zweite Melodie von der ersten ab, ist phry- 
gisch transponiert und endigt ungewohnterweise mit der oberen Oktave. 
Mit Rücksicht auf diese Art des Schlusses vermutet Dreves, die zweite 
Melodie könnte eine harmonische Begleitstimme zur ersten sein und mit 
derselben ein Organum bilden. Diese Vermutung ist aber schwer zu 


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Surgit in tue die 


85 

stützen. Eher scheint es, daß die zweite Melodie eine selbständige 
Variante zur ersten Melodie bildet. Die ursprüngliche Melodie war 
wegen ihrer Originalität so einschmeichelnd, daß sie modifiziert zu 
allem möglichen gesungen wurde; namentlich ihren Anfang finden wir 
in zahlreichen Liedern. 

ln den Ro raten des XVI. Jahrhunderts begann ein Lied heiteren 
Genres: „Coi byl Adam ztratil skrz jabka jedem“ in ganz gleicher Weise. 
Ähnlich begann auch, wie schon ausgeführt worden ist, das Roratelied: 
„Titot jsou dnovd, o nicMto näm sluSi bditi“ im Montagsalleluja. Gleichen 
Anfang hatten auch folgende lateinischen Lieder: „Summi increati 
Patris eterni“, 1 ) „Manus sancti Thomae palpant Dominum“,*) „Ergo im- 
perator supreme“, „Vale imperatrix celica“, 1 ) „Eya imperatrix supreme 
te collaudant“. 4 ) Ähnlich begann auch in der Kunwalder Hs. von 1576. 
fol. C. IX. mit der Überschrift: „Vstoupenf Kristovo pamatujme“ zum 
Texte: „Po zmrtv^chvstäni PänS ötyficäty den . . .“ und. auch in der 
Prager Mus. H. XII. F. 14 fol. 219a, (Das Kantionale von Jistebnitz): 
„Zdräwa cizsarzowno, wssie cznosti“. 

In welchen Drucken das Lied „Vstalf jest“ mit der zweiten Melo¬ 
die erscheint, ist anzuführen 5 ) nicht notwendig. Eher dürfte es interes¬ 
sieren, daß dieselbe in der Hs. des Museums in Täbor aus dem Jahre 1582 
fol. 257ab mit 5 (allen) Strophen—transponiert mit b erscheint, obzwar 
sie das b bloß voraussetzt. Die Hs. in Rakovnik „numero secundo“ 
aus 1594 fol. XIII b interpoliert mit der jüngeren Leseart das chorale 
„Gloria“ beim Auferstehungsfeste des Herrn und unterlegt die siebente 
Strophe aus dem Liede „Vstalf jest 

Die Melodie steht bald in der Originaltonart, bald ist sie mit 1 b 
transponiert. So transponiert beispielsweise die Königgrätzer Hs. sign. 135 
fol. 233* von 1599 bei der Überschrift „Surgit in hac die“: 



Vstalt jest te - to chvi • le 


') Königgrätzer H. B 4; Prager Univ. H. VIC 20a S. D 17; Königgrätzer H. B 11 p.4. 

*) Königgrätzer H. B 11, fol. 5 und Prager Univ. Druck 46 E, 224 Q2 autore 
N. Vodniano. 

*) Franuäs Kanzionale (Königgrätzer Mus. B 1 fol. 261 aus 1505). Eine ähn¬ 
liche Melodie ist schon in der Vy&ehrader H. aus der Hälfte des XV. Jahrhunderts 
fol. 48* zu demselben Texte. 

4 ) Königgrätzer H. Nr. 15 fol. 23». 

*) Hytnnologia bohemica von J. Jireöek 1878 S. 82 zitiert Liber prosarum et hymn. 
(nach Baibin), 1522. 1531.1559. 1561. Täb. Ol. 1601. Hl. 1615. 1659. SV. Kan. 232 Cith. — 



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Surgit in hac die 


Der jüngere cantus firmus hat ebenfalls verschiedene Varianten. 
Man gebraucht diese Melodie als Tenor für mehrstimmige Kompositionen, 
in denen dieselbe zugunsten harmonischer Kombinationen öfter Verän¬ 
derungen erfordert. Die Terzensprünge (bei dem Worte „mile“) erschei¬ 
nen zur Erleichterung der Intonation mit Hilfsnoten ausgefüllt Einen 
nach dieser Richtung interessanten Cantus firmus bringt in der dritten 
Stimme die Beneschauer Hs. des Prager Konservatoriums fol. 95*» und 
96* aus dem Ende des XVI. Jahrhunderts. Die Komposition ist „ad pares 
voces" gedacht für einen 4 stimmigen Knabenchor (3 Cantus, 1 Altus), 
da die oberen drei Stimmen im Diskantschlüssel auf der 1. Linie, die 
4. Stimme im Mezzosopranschlüssel notiert ist. Die Benennung der 
Stimmen fehlt in der Hs.; der unbekannte Autor gibt nicht einmal an, 
für welchen Chor die Komposition bestimmt sei. Doch spricht die 
niedrige Stellung der C-Schlüssel für den Knabenchor. 

Prager Konservatorium, H. fol. 95. 96. 

















































*i,. tte - vm*«y., «ää pan je r rii'i\v, n4S pjfttje d{ - ny 

Das erste Motiv kommt imitatorisch in allen Stimmen vor; dieselben 
kreuzen sich öfters. Der Text erscheint nicht genau unterlegt; unter 
der ersten Stimme befindet sich im Original Strophe 1, unter der zweiten 





Sp 








±±-T 

ne r vio 

• -s 

■m p m 

r .i'" 

' di - (iv. 

































































Surgit in hac die 


Stimme Strophe 2, unter der dritten Stimme Strophe 3, unter der vierten 
Stimme Strophe 4. Die übrigen 5 Strophen folgen der vierten. Die von 
mir gewählte Textunterlegung der ersten Strophe ist also subjektiv. 
Die Übertragung der Noten ist — von den verdorbenen Stellen abge¬ 
sehen — nicht schwierig; komplizierte Ligaturen kommen überhaupt 
nicht vor, die Stimmen sind untereinander gesetzt. Im Tenor ist der 
kleine Terzensprung bei dem Worte „mile“ durch eine Hilfsnote ausge¬ 
füllt. Ganz analog geht Holan Rovensky in der „Königlichen Kapelle" 
(Kaple Krälovskä, Druck aus dem Jahre 1683) vor, der ebenfalls den 
kleinen Terzsprung bei „Kristus mile " „a—fis“ und „rdd vsta&e“ „g—e“ 
durch ein „g“ bezw. „fis“ ausfüllt. 




m 


3 = 


Je - ilS Kri - stus mi - le 


räd vstä - Se 


Gröbere Intervalle erscheinen also durch Hilfenoten ausgefüllt; im 
Laufe der Zeit verschwindet die charakteristische Kirchentonart, man 
macht dem Volke, das den Kern der Melodie mit Zutaten umgibt und 
sich die Intonation erleichtert, manche Konzessionen. Einen ähnlichen 
Prozeß können wir übrigens beinahe bei allen Kirchenliedern beobachten. 
Darin liegt die Entwicklung einer jeden lebenden Melodie, welche dabei 
leider des öftem ihre charakteristische Schönheit einbüßt. 

Über Entstehung der zweiten, im XVI. Jahrhundert ausschließlich ge¬ 
brauchten Melodie zudem böhmischen Liede „Vstalfjest“ sagt Dreves 
(Cantiones Bohemicae pag. 141 Anm.), sie sei eigentlich eine harmonische 
Stimme zum cantus firmus des lateinischen Liedes: „Surgit in hac die“. Er 
führt für seine Hypothese folgende Gründe an: 1. Die Melodie des latei¬ 
nischen Liedes schließt mit der Finale der Tonart. 2. Das böhmische 
Lied überschreitet zweimal mit der oberen Septime den Ambitus des 
phrygischen Modus und die Stimmführung bei den Worten: „na kfläi 
und nevinny“ macht den Eindruck einer Begleitstimme. 3. Die Melodie des 
lateinischen Liedes ist ausdrucksvoller und bei den Worten „ Duram ! l ) 
mortem crucis“ geradezu malerisch schön. 

Dagegen lassen sich aber andere Gründe anführen, die dafür spre¬ 
chen, daß das böhmische Lied eine selbständige Variante des latei¬ 
nischen Liedes und nicht eine harmonische Begleitstimme zu demselben ist 

Das lateinische Lied ist dreiteilig, das böhmische (zweite, jüngere 
Melodie) einfach strophisch. Von diesem Umstand hatte Dreves keine 
Kenntnis, da er die böhmische Niederschrift weder in der Wittingauer 
noch in der Museums Hs. XIII. A 2. herangezogen hat. Ihn hätte jedoch 
darauf die Bemerkung Ro. (Repetitio) aufmerksam machen können, die 

*) gut „diram*. 


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Surgit in hac die 


89 


sich in der Wittingauer Hs. beim lateinischen Texte des Liedes befindet 
Das lateinische Lied hat einen Refrain, das böhmische nicht. Ich fand 
nirgends einen Anhaltspunkt dafür, daß die Melodie des böhmischen Liedes 
eine Begleitstimme zum lateinischen wäre. 

Die Septime ist in der zweistimmigen Komposition des XV. Jahrh. 
kein verbotenes harmonisches Intervall, aber es ist nicht wohl zu denken, 
daß im Organum sich eine Parallelfortschreitung von der Oktave zur 
Septime finden könnte. 


oder: 



na - de on nevinttf näö B&h 


In der Sedlßaner und Beneschauer Hs. benützt der Komponist bei 
mehrstimmigen Kompositionen als Tenor entweder die Choralmelodie 
oder mensurierte Liedermelodien. Es läßt sich nicht behaupten, daß er 
eine Begleitstimme in der Kantilene zum cantus firmus erhoben, und er 
hat gewiß auch bei dem Liede „Vstalf jest“ keine Ausnahme gemacht. 
Ferner unterlegt er der ursprünglichen Melodie des lateinischen Liedes 
„Surgit“, sowie der zweiten, in den Drucken der böhmischen Brüder 
erscheinenden Melodie, den gleichen böhmischen Text; damit zeigt er, 
daß er beide Melodien als selbständige betrachtet und nicht etwa die 
zweite als Begleitstimme der ersten. 

Die zweite Melodie findet sich übrigens im XV. Jahrhundert gar 
nicht, ebensowenig ein Organum, in welchem beide harmonisch vereinigt 
wären. Auch erscheint die zweite Melodie nirgends mit lateinischem Text 
versehen, was doch der Fall sein müßte, wenn sie als vox superior zum 
Tenor des lateinischen Liedes angesehen werden soll. 

Die Kantionalien der Böhmischen Brüder kennen beide Gesangsweisen 
und verwenden dieselben zu verschiedenen böhmischen Liedern; sie 
konnten auch den Ursprung beider kennen, sowie den jüngeren Datum's 
der zweiten Melodie. Es ist zwar richtig, daß die Begleitstimme öfter 
als cantus firmus aufgefaßt wurde, doch liegen dafür in unserem Falle 
keine Beweise vor. 

Daß die zweite Melodie über die Oktave des Finaltons hinausgeht, 
ist kein Grund dafür, sie als harmonische Stimme anzufassen. Es würde 
zu weit führen, alle selbständigen Melodien des XV. und XVI. Jahrhunderts 
namhaft zu machen, deren Ambitus die Oktave des Finaltones über¬ 
schreiten. In den Kantilenen der „Roramina“ gibt es hiefür Beispiele 
genug. Es seien nur erwähnt „Telkost vt&nou“, „Ke cti chväle, Krista 


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Surgit in hat die 


9 » 

kr die“, „Ad honorem et decorem“, „Vadejmet chvdlu“ etc. In allen 
diesen überschreitet der cantus firmus die Oktave des Finaltones. 

Eine jede Melodie steht im Tonus authenticus (perf., imperf. oder 
plusquamperf.), wenn sie mindestens die Obersext, höchstens die Ober¬ 
none erreicht und nach der Tiefe zu die Finalis um einen Ton über¬ 
schreitet. Die Melodie des „Vstalt* jest“ in der zweiten Fassung steht 
im Tonus phryg. plusquamperfectus. Es ist also nicht notwendig zur 
Hypothese zu greifen, diese Melodie sei eine Begleitstimme des ursprüng¬ 
lichen lateinischen Liedes; das wäre nur dann der Fall, wenn sich dieses 
handschriftlich belegen liebe, was aber hier nicht zutrifft. Überall wird nur 
gesagt, das böhmische Lied werde so gesungen wie das lateinische und 
nicht umgekehrt. Die Tradition vindiziert dem lateinischen Lied die Origi¬ 
nalität und zwar sowohl in bezug auf die Melodie als auf den Text 
Die zweite Melodie des böhmischen Liedes wurde auch als vierstimmige 
Homophonie bearbeitet. Den Beweis hiefür bietet das Kantionale des 
Andreas Kopydlansk^ aus dem XVII. Jahrhundert (Eigentum der 
S. Martin Dechantkirche zu Sedlöan) S. 258. 259., welches eine Reihe 
mehrstimmiger Kompositionen verschiedenen Datums enthält: 



Wie verschieden ist diese Bearbeitung von der polyphonen des 
Beneschauer Kantionais! 



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Snrgit in hie die 


91 


Das Lied „Vstalt’ est“ und seine Quelle „Surgit in hac die" sind 
nach der textlichen Seite aus den Hs. des XV. Jahrhunderts bekannt 

Das böhmische Lied hat eine doppelte Melodie, die eine stimmt 
mit der des lateinischen Liedes überein, die andere scheint eine selb¬ 
ständige Variante der ersten zu sein. Die erste Sangweise ist origineller, 
die zweite behauptete aber das Feld und nach ihr wurde und wird aus¬ 
schließlich das Lied „Vstalt* jest“ gesungen. Die Originalmelodie ver¬ 
wendete man schon im XVI. Jahrhunderte zu einem anderen Text. In 
die Auferstehungsfeier wurde die Melodie als volkstümliches Element 
von den Utraquisten des XVI. Jahrhunderts aufgenommen. Die appro¬ 
bierten katholischen Ritualbücher des XVII. Jahrh. erlauben das Singen 
derselben erst nach Beendigung der liturgischen Zeremonien; die pri¬ 
vaten katholischen Agenden stellen sie in den Mittelpunkt der ganzen 
Feierlichkeit, bei welcher der Priester ebenso logisch als unliturgisch 
das „Vstalt* jest“ intoniert. Es wird immer, ob Original oder Nachbil¬ 
dung einer lateinischen Vorlage durch seinen Mensuralcharakter ein Be¬ 
weis für den Fortschritt des Volksgesanges in Böhmen bleiben und es 
wird den Prinzipien des katholischen Ritus nicht widersprechen, wenn 
der Priester nach amtlicher Approbation beim Heiligen Grabe zuerst 
das „Vstalt* jest teto chvfle ctn^ Vykupitel“ intoniert und dann erst mit 
dem Ostensorium in der Hand in der Prozession zum Hauptaltare schreitet 

Beilage 

Zur Übersicht folgt der ganze katholische Ritus aus dem Obsequiale 
vom Jahre 1585. Der utraquistische böhmische Ritus am Ende des XVI. Jahr¬ 
hunderts, wie er in Täborsk^s Altarbüchern (Knihy voltäfuf) notiert ist, 
ist meistens eine Übersetzung des katholischen lateinischen Textes in den 
böhmischen, der syllabisch der zergliederten Choralmelodie unterlegt wird. 

Obsequiale aus dem Jahre 1585 

Fol. CXLIII* 

Sequitur rubrica de sepulchrf visitatione ln nocte sancta paschall. 

Unde ad Matutinas magna pulsetur campana, ut conveniant cano¬ 
nici, vicarii et alii clerici. Et tune priusquam Matutinum incipiatur, fiat 
sepulchri visitatio precedentibus vexillis, cereis, thuribulo et aqua bene- 
dieta. Cum autem ad locam sepulchri perventum fuerit, praelatus (cui 

officium impositum est) cum genuflexione incipiat antiphonam: 

FoI.CxlUI 



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92 


Surgit in hac die 

Post hoc sequens antiphona imponatur per eundem praelatum. 




















Surgit in hac die 


<93 


tarea et tartarea 1 ) officina. Quod tu ve- 
rax et fidelis Deus misericorditer fa- 
cturae tuae per prophetas (fol. CXIV 
b) tuos sanctos promisisti, hodie victo- 
riosissima resurrectione tua implesti. 
Letentur coeli et exultet terra in sua 
liberatione et exaltet*) resurgentem 8 ) 
per saecula saeculorum regnantem 4 ) 
et imperantem. 5 ) Nunc ergo in ista 
solennitate 6 ) resurrectionis tuae mun- 
da nos a sordibus peccatorum no- 
strorum et libera nos ab infernalibus 
claustris, erue nos a daemoniacis 
vinculis, quae tu 7 ) fortiter contrivisti. 
Adiunge nos illorum gaudiis, quos 
de inferis ad superos cum gloria te 


exultatione reduxisti, quatemus sacra 
passione tua 8 ) informativ sacri cor¬ 
poris et sanguinis tui perceptione a 
peccatis omnibus*) mundati, gloriosae 
resurrectionis tuae laetitia decorati ad 
visionis celsitudinem mereamur per- 
venire. 10 ) Qui cum Patre 11 ) et Spiritu 
sancto vivis et regnas Deus per o- 
mnia saecula saeculorum. Amen. 

Finita oratione ista crux ado- 
leatur et aqua benedicta aspergatur. 
Post hoc flexis genibus crux tolla • 
tur de sepulchro ac cum processio- 
ne ad chorum deportetur et ante alta- 
re maius reponatur choro submissa 
voce cantante: „Cum rex gloria.“ 


Cum rex glorlae. 1 *) 


CXLIXb. 



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- sfus, in-fer-num de-bel!a4u-rus in bra- 
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- rötet cho - rus An-ge - li - cus 





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an-te fa-ei-cmekispofks prin-ci - pum Mi paed- 


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- pe - rel, sanctorum popu- le^qui Ic-ne-ba-lur 

_^._ 


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in mor-he ca - pH- vus, voce la-chry-ma- 



*) VySehrader H. hat thartareaque. 

*) VySehrader H. hat exaltent. 

*) „ „ „ resurgentem et 

regnantem. 

4 ) VySehrader „ hat nicht regnantem 
et imperantem. 

*) VySehrader „ hat vor Nunc die In¬ 
schrift Oracio. 


0 VySehrader H. 87a hat nicht tu. 

®) „ „ hat mortis tue statt tua. 

®) „ hat nicht a peccatis 

omnibus 

tv ) 
mur. 

“) 

die Inschrift: „deinde cantando submisse 
euntes a sepulchro: Cum rex glorie cristus“ 
mit der Notation. 


„ hat pervenire merea- 
. hat nach dieser Oration 


•) VySehrader H. fügt zu 87a gloriose. 

**) Im Obsequiale fehlt auf fol. CXLIIU b dieser Gesang; er wird da nur zitiert. Des¬ 
wegen lasse ich ihn aus fol. CXLlX*>ff. abdrucken, wo er im Obsequiale sub titulo: „de 
circuitus processione in die sancto paschae* steht — Das übrige folgt wieder auf 
fol. CXLUIP» und fol. CLXV». 


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ut 9*du-c«-res hacnoc-ie vir.-cu-la tos.de 


dwstmte TO 
I CU 


ca-bari su-spi 


(Fol, CXLllIh.) Hoc finito, matu* Oratio. Deus, qui per unigeniti 
timte officium (fol CLXV*) inci • Filii tui resurrectionem, famüiam tu- 
fiatefi Post matutinas vero, ad am laetificare dignatws es, coneede 
aitare beatae virginis Mariae fiat nobis famulis tu'is, ut per venera* 
proeessio, tibi decantetur primum bilem eius genitricem virginem Ma- 
a choro Aniiphona f , Regina coeli u riam, resurrectiomsgloriam et aeter- 
Deinde eadem Antiphona in organis naecapiamus gaudia vitae. Per eun- 
repetcdur, quo facto dicitur W. Spe- dem. vel. Qui tecum viyit et f-egrtal 
cjosa facta es et suavis in deliciis in unitate Spiritus sancti Deus, per 
tuis, alleluia. ijlSartcta Dei geni- omnia saecula saeculorum. 
trix, alteliiia, Amen. 



Go gle 





























Choralgesang und Kunstgesang 

D er Choral gehört zu jenen Kunsterzeugnissen, die immer mehr Werte 
aufweisen, je intensiver man sich mit ihnen beschäftigt Ober sein 
Wesen und seine Wiedergabe durch Gesang liegen eine Reihe von Problemen 
vor, die noch immer ihrer letzten und endgültigen Lösung harren. Wir um¬ 
gehen für diesmal die Streitpunkte des Choralrhythmus in Theorie und in 
Praxis und wenden uns der Erörterung der Frage zu: welche Beziehung be¬ 
steht zwischen Choralgesang und Kunstgesang? 

Es ist noch immer die Überzeugung nicht weniger Freunde des Chorals, 
daß er nicht die Pflege findet, die er verdient; daß er noch lange nicht in 
dem Mähe an den sonntäglichen Hauptgottesdiensten praktische Verwendung 
findet, als dies vom Standpunkte des Kirchenmusikers und von dem des Pa- 
storaltheologen als Cäcilienvereinspräses wünschenswert erscheint 

Wir haben uns seit vielen Jahren und ernst die Frage vorgelegt: woher 
kommt diese Unlust der Chorsänger, Choral zu singen; woher die geringe 
Neigung der Gemeinde, den Choralgesang für schön zu finden? 

Die Antwort, die wir darauf geben müssen, möchten wir am liebsten 
für uns behalten; denn sie ist hart, und diese Zeilen werden dazu noch 
schließlich als bloße Nörgelei betrachtet und beiseite gelegt. Aber das wahre 
Interesse am kirchenmusikalischen Fortschritte nötigt uns, in diesem Falle 
das Schweigen nicht für den besseren Teil der Antwort zu halten! 

Der Grund jener Mißerfolge, denen wir noch heute auf Schritt und Tritt 
begegnen, liegt darin: man unterschätzt die Schwierigkeit des Chorals, und 
zwar nach ihren drei Seiten hin, erstens in bezug auf die Artikulation, zweitens 
in bezug auf die absolute Tongebung, und drittens in bezug auf den allgemein 
ästhetischen Vortrag nach Rhythmik und Dynamik. 

Eine große Zahl Dirigenten behandelt den Choral als ein notwendiges 
Obel und singt ihn herunter ohne Sinn, Verstand und Geschmack. Andere 
Chorleiter versuchen, dem Choräle beizukommen durch festes Einüben der 
Intervalle. Sie erklären wohl auch den Text. Aber es fehlt das feinere 
ästhetische Empfinden. Sie singen zwar mit Sinn und Verstand, aber ohne 
Geschmack. 

Nur wenige wissen mit dem Choräle etwas anzufangen, das den tieferen 
Menschen befriedigt Aber — sie zweifeln an der Möglichkeit einer geistigen 
Anteilnahme von seiten des Chores und singen darum den Choral allein. 


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96 


Choralgesang und Kunstgesang 


Es fehlt nun nicht an Männern, die den Choral ernstlich proben, vieles 
verwerfen und streng tadeln. Es ist ein fortwährendes Abbrechen, Wieder¬ 
beginnen und Korrigieren. Schließlich bekommt es aber der und jener satt 
und bleibt vom Vereine weg — des Chorals wegen. 

Der Fehler liegt eben darin, daß der Chorleiter mit Flicken und Stackein 
das ungleiche Gewebe des Gesanges auszubessern versucht. Daher bleibt all 
sein Tun „Stückwerk“. Er arbeitet sich umsonst ab; die Sänger werden der 
ewigen „Nörgelei" schließlich überdrüssig und fangen an, den Choral zu ver¬ 
abscheuen. Zuletzt bleiben sie dem Chore ganz fern. Und das hat mit sei¬ 
nem Singen der Choral getan. 

Alleiniges Heilmittel ist und bleibt eine geordnete Stimmpflege. 
Wir verstehen darunter eine Singbelehrung, wie sie jeder Kunstsänger erhält, 
nur mit dem Unterschiede, daß die Bildungshöhe des Chorsängers gemäß der 
beschränkten Zahl der Unterweisungsstunden und auf Grund der mehr oder 
weniger lückenhaften musikalischen Allgemeinbildung eine geringere ist, als 
die des Solosängers. Die Aufgabe beider Musikbeflissenen ist die gleiche: 
Erzeugung eines schönen Tones. Der Ausgangspunkt und die erste Weg¬ 
strecke ist dieselbe: Erzielung eines losen, eines weichen Stimmtones. Nur 
die Ziele sind verschieden: dort vollendeter, hier angestrebter Sologesang. 

Der feine Beobachter der menschlichen Stimme in ihrer Gesangstechnik, 
Hans Georg Nägeli (1T73—1836), weist in seiner kleinen Schrift: „Die Pesta- 
lozzische Gesangbildungslehre nach Pfeiffers Erfindung, kunstwissenschaftlich 
dargestellt . . . Zürich, 1810“ (genauer 1809) auf das eigentliche Element der 
Gesangsbildung hin: auf die Bildung der Stimme in Sekundschritten. Er sagt: 
je mathematisch einfacher sich die Verhältnisse zweier Intervalle wiedergeben 
lassen, desto schwerer wird ihre Beherrschung durch die Stimme. So steht 
die Oktav zur Prim im Verhältnis von 2:1, also in der denkbar einfachsten 
mathematischen Verbindung. Aber wie schwer ist die schöne Ausführung 
der Oktav in der Gesangstechnik. Andererseits steht die Sekunde im Ver¬ 
hältnisse von 9:10 (oder 8:9). Sie bildet die leichteste Fortschreitung der 
Singstimme und liefert das Grundelement des gebundenen, schönen Gesanges: 
des Legato. Denn bei ihrer Erzeugung erfahren die Stellmuskeln des Kehlkopfes 
und die Spannmuskeln der Stimmbänder das geringste Maß von Verände¬ 
rungen. Somit erleichtert der Sekundenschritt den von der Singästhetik 
geforderten Gleichklang des Nachbartones mit dem Ausgangstone. 

Weil nun dem so ist, so hat sich von allem Anfang an die mensch¬ 
liche Stimmkunst in erster und hauptsächlichster Beziehung in Sekundschritten 
betätigt. Die Lieder und Gesänge, soweit sie in ihrer Wiedergabe für die 
Sangeskräfte weiterer Kreise berechnet waren, zeigen diesen Sekundfortschritt 
in auffälliger Weise. — Insbesondere tritt diese Erscheinung, wie wir sie an dem 
Volksliede aller Völker beobachten können, beim römischen Choräle auf. 
Man vergleiche beispielsweise das Asperges me, das Kyrie der Advents- 
Messe, desgleichen das Kyrie der Ostermesse und viele andere mehr. Dieses 
Prinzip des sekundenweisen Fortschreitens ist so häufig zu finden, daß es 
einem großen Teile der Gesänge das Gepräge seiner Zeit aufdrückt, so daß 
man versucht wird, das Gesetz aufzustellen: je einfacher, je mehr also der 
Sekunde angenähert, die Intervalle eines Gesanges erscheinen, desto älter ist 
er. Die Proprien der neueren Feste weisen in dieser Beziehung eine unleug¬ 
bare größere Singschwierigkeit auf, als die alten Festgesänge. 


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Choralgesang und Kunstgesang 


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Dieses Kriterium verliert nichts an seiner Beweiskraft durch bekannte 
Ausnahmen, hervorgerufen durch das Bestreben des Gesangskomponisten, 
den Text zu illustrieren, oder einen gewissen Nachdruck einer besonderen 
Stelle zu verleihen, um das Gefühl nach einer sanglichen Kulmination, nach 
einer architektonischen Steigerung, zu befriedigen. 

Dahin gehört der gesteigerte dritte Anruf des Kyrie in der Advents- 
Messe; der jubelnde Ruf über die Geburt des göttlichen Erlösungskindes: 
„Puer“. Ebenso weiß der Sänger den Quintensprung bei „Factus est repente“ 
der Pfingstcommunio zu deuten als die künstlerische Nachahmung der Text¬ 
stelle, die von der Herabkunft des Heiligen Geistes und seinen siebenfachen 
Gnadenwirkungen zur geistigen Macht handelt. Hieher gehört auch die auf¬ 
fallende, wirkungsvolle Textmalerei im Introitus der Missa Ss. Nominis Jesu 
bei: ccelestium terrestrium et infernorum. 

Trotz dieser und einiger weiterer Ausnahmen gilt die Tatsache: die 
Hauptfortschreitung im Choral ist die Sekundenfolge. Ihre künstlerische 
Wiedergabe muß also das Hauptbestreben des Liedmeisters bleiben, wenn er 
ernst gemeinte Singstudien mit seinem Chore treiben will. 

Dieser Hang der menschlichen Stimme nach dem Sekundschritt ist so 
stark entwickelt, daß der Singlaie sich gewöhnlich schon dadurch verrät, 
Terzensprünge zum Beispiel durch Zwischenschiebung des übersprungenen 
Intervalles zu verunzieren. Seinem Wesen nach ist dieses Hindurchziehen 
der Töne das, was der Fachmann mit Portamento bezeichnet und was der 
Stimmkünstler — wenn er es in Wahrheit auch ist — als die Blüte der Ge¬ 
sangestechnik erstrebt und was er mit wahrer Kunstempfindung äußerst 
selten, dann aber um so wirkungsvoller, anzuwenden sich erlaubt. 

Diese Ausgleichung der Melodiesprünge mit dem Intervall der Sekunde 
ist alt. Schon der Pseudonym-Aristoteles (12.—13. Jahrhundert) erwähnt 
diese Art des Durchschleifens, die für den Choral zur charakteristischen Ver¬ 
zierung wurde und den Namen „Pllca" erhielt, als welche sie sich besonders 
an den Schlußstellen der Gesänge und an den Cäsuren der Melodie findet. 
Die Pllca ist ihrem Wesen nach nichts anderes als der Ausdruck des Be¬ 
strebens, aus dem Kehlgefühle heraus einen Ausgleich dort zu schaffen, wo die 
Komposition Sprünge vorschreibt, und sie beweist auch von dieser Seite aus 
die Wahrheit unseres Satzes: der Sekundenfortschritt ist das eigent¬ 
liche melodische Element des Choralgesanges, wie überhaupt jeder 
Sangesmusik. 

Die Ausbildung des Choralisten hat darum die erste und vornehmste 
Aufgabe darin zu suchen, den Sänger zur Wiedergabe von Sekundschritten 
künstlerisch zu befähigen. Die Frage ist daher: worin liegt das Wesen dieser 
Kunst der Stimmbildung. 

Die Antwort ist leicht gegeben: die Stimmbildung hat zuerst den schö¬ 
nen Ton an sich zu erzeugen. Erst nach Lösung dieser ersten Kunstfrage 
der Stimmbildung kann der Stimmbildner dazu übergehen, die Verbindung 
der einzelnen an sich künstlerischen Töne vorzunehmen nach denselben Ge¬ 
setzen der Kunst Das will sagen: die Verbindung der Töne zu melodischen 
Gebilden geschehe so, daß die Schönheit des einzelnen Tones an sich ge¬ 
wahrt bleibt; daß also die Melodie als Kunstganzes das Antlitz derselben 
Schönheit erhält, wie der Ton in seiner Einzelbildung. 

Klrrhtmnwfc. Jahrbuch. 23. Jifarg. 7 


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Choralgesang und Kunstgesang 

Diese Kunst ist schwer, aber gleichwohl erreichbar und zur künst¬ 
lerischen Belebung des Chorals notwendig. 

Untersuchen wir zuerst die Merkmale des schönen Tones an sich. Sein 
Hauptmerkmal liegt in seiner Flüssigkeit, Biegsamkeit, Modulationsfähigkeit. 
Ist die Stimme weich gebildet, so fügt sie sich dem künstlerischen Willen 
mühelos. Vermag sie aber nur mit festgespannter Kehle Töne von sich zu 
stoßen, so ist sie für die Kunst unbrauchbar. Hartes Gestein eignet sich 
nicht zum Formen; es füllt die Form nicht aus. So steht es auch mit dem 
festgebildeten Singtone: er klingt rauh, eckig, hart; er füllt die vom Form¬ 
gefühl des musikalischen Zuhörers aufgestellte Norm nicht aus; er klingt 
nicht ausgeglichen, nicht weich, wohlig, voll und rein. Damit haben wir indirekt 
das Wesen dessen gezeichnet, was der Singlehrer nennt: den lockeren Ton. 

Es ergibt sich aus dem Gesagten, daß er nur dadurch erzeugt wird, 
daß der Singapparat leicht arbeitet und empfindlich reagiert Dies ist nur 
dann der Fall, wenn der Singapparat seiner Natur gemäß eingestellt 
wird und dem Kunstwillen mühelos folgt Dadurch kommt das zum Vor¬ 
schein, was der Fachmann mit dem Ausdrucke: gesunder, natürlicher 
Ton bezeichnet. 

Der so gebildete Ton ist in seiner Biegsamkeit für künstliche Zwecke 
verwendbar, das heißt, er läßt sich dynamisch, rhythmisch und melodisch 
zwanglos, leicht verändern. Der schöne Ton wird so zum Ausdrucksmittel 
der Seele, die auf seinen weichen Fittichen herrschend ruht wie der Geist 
über dem Stoffe, den er andererseits durchdringt. 

Der lockere Ton allein gewährt die Garantien, daß der Singunterricht 
die Stimme nicht ruiniert, den Sänger nicht krank macht, ihn an seinem 
heiligen Gute der Stimme als unverkürzten Besitzer erhält. Der lockere Ton 
allein kann den hohen Kunstzweck der Singbildung erfüllen und zum Träger 
des Seelenlebens werden, das er verklärt ausspricht. Er ist die Voraus¬ 
setzung allen Singunterrichts, alles Gesanges, wenn man die wahre Bedeu¬ 
tung des Wortes „Gesang“ nicht schwächen und verdunkeln will. 

Darum sollte keine Sorge des Chorführers so groß sein als die: zu 
sorgen, daß der Ton von seiten der Sänger lose erzeugt wird und lose bleibt 
bei allem Gesänge von der Jugend bis ins Alter. Hiebei spielt die Lage der 
Zunge die Hauptrolle. Jeder Singlehrer sollte es für seine heiligste und 
erste Pflicht halten, darüber zu wachen, daß sie flach, breit, träge, gefühllos, 
bewegungslos im Munde vorn bis an die Zähne lose reiche. Sie hat bei der 
Tonbildung an sich nichts zu schaffen. Ihre Tätigkeit tritt erst ein, wenn 
es sich um die Umbildung des Naturlautes, wofür wir dem „a“ Klang halten 
müssen, handelt. Es muß der Singlehrer persönlich sich von dieser rechten 
Stimmlage überzeugen durch individuelle Beobachtung. Einen Ersatz für diese 
notwendige „Nachsicht“ gibt es nicht. 

Jedes Außerachtlassen dieser Forderung zeitigt die Gefahr, daß der 
Singunterricht nicht nur keine Erfolge bleibender Art zustande bringt, son¬ 
dern einen Eingriff in die Gesundheit der Singzöglinge, der Sänger, bedeutet, 
der schwere Folgen nach sich ziehen kann. Diese Forderung wird der Sing¬ 
chorführer eben nur dann erreichen, wenn er seine Schüler einzeln, jeden 
für sich, kennen zu lernen sucht dadurch, daß er sie einzeln untersucht und 
fortdauernd daraufhin beobachtet, wie sie die Organe gebrauchen. Ist sein 


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Choralgesang und Kunstgesang 


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Chor zu groß dafür, dann richte er eine Vorschule ein, in der die Singschüler 
so lange verbleiben, bis sie Gewähr leisten, daß sie ihre gute Art zu singen 

— so wie sie es jetzt gelernt haben — nicht wieder ändern, sich zum Un¬ 
segen, dem Kunstfreunde zur Qual. 

Wo nur Erwachsene als Mitglieder in Betracht kommen, richte der 
Dirigent Vorbildungskurse ein und zwar sondere er die Teilnehmer nach 
Geschlechtern ab, weil sonst die sich zeigende Befangenheit den Unterricht 
sehr beeinträchtigen dürfte. Je weniger an der einen Unterweisungsstunde 
teilnehmen, desto besser; das Ideal bleibt Einzelbehandlung der Singschüler. 

Wir sagen: wer als Dirigent wirkliche Fortschritte zu erreichen beab¬ 
sichtigt, wer seinen Chor zu wirklichen Sängern heranbilden will, der errichte 
solche Vorkurse. Diese Einrichtung erweist sich als segensreich auch inso¬ 
fern, als sie Gelegenheit gibt, auch den .alten" Sängern wieder einmal auf 
die Zunge zu sehen. Dadurch wird der Obungskursus gleichsam zur Stimmen- 
Reparatur-Werkstatt, wo nach bestimmten Laufzeiten das rollende Material 
eingehend untersucht und wenn nötig ausgebessert wird. 

Der gute Einfluß solcher vorbeugender, abhelfender Sorge um die Stimme 
und ihre Bildung ist für die Aufführung von größtem Vorteil: die Schüch¬ 
ternen und solche, die so gern hinter der Front sich zu schonen geneigt 
sind, werden zu erneuter Energie angeflammt; der Sänger mit falscher Zunge 

— sei es, daß sie zu einer Kloßform oder zu einer Gurkenform lang¬ 
gestreckt und zusammengepreßt wird — erhält Aufschluß über ihre nor¬ 
male, naturgemäße Lage. Die Mitglieder; die zu .Bruststimme“ neigen, 
die gewohnt sind, ihr Notenblatt mit möglichst viel Kraft herunterzusingen, 
die es als Bässe für eine Pflicht halten, den Emst der Feier durch dumpfes 
Dröhnen und dunkles Rollen der Stimme nachhaltiger zu gestalten, diese 
Kraftsänger erhalten Anweisung, wie nach oben zu die Stimme sich abzu- 
mildem und einzurichten habe, um dem Knotenpunkte auszuweichen, jener 
Stelle, wo ruckweise die .Bruststimme“ in die .Kopfstimme" übergeht. 

Diese Gewaltstimmen bedürfen der Nachhilfe am meisten. Ihnen hat 
der Chormeister mit seiner Stimme zu zeigen, was Verschmelzung von Kopf- 
und Bruststimme heißt; daß diese Verschmelzung allein den Schmelz der 
Stimme vorbereitet und herbeiführt; daß diese Ausgleichsübungen am wirkungs¬ 
vollsten von oben aus einzuleiten und fortzusetzen sind bis dahin, wo der 
Baß eine helle, baritonartige Färbung und angenehme Weichheit und Bieg¬ 
samkeit -erhält. Dann erst kann der Verein mit seinem Dirigenten sagen, 
daß er Tonbildung treibt Erst solch eine Sängergemeinschaft ist fähig, zu 
erkennen, was Gesangskunst heißt, und erst so gebildete Sänger werden im¬ 
stande sein, tiefer in das Wesen des Gesanges, vor allem des Kirchengesanges 
einzudringen, dessen künstlerisches Hauptmerkmal die dynamische Ausglei¬ 
chung bildet, die nur und nur erreicht wird durch ernste Pflege dessen, was 
wir Gesangbildung nennen. 

Die ausgeglichene Intervallbindung der Sekunde mit ihren notwendigen 
Erweiterungen der Terz- und Quartensprünge mit losem Tone ausgeführt, ist 
das Grundelement des schönen Singvortrages — und heißt das Legato. 
Damit sind wir zur Frage gelangt: wie erreicht der Schüler dieses Legato? 

Es liegt im Wesen des Legato begründet, daß es den losen Ton zur 
Voraussetzung hat. Denn der Legato-Gesang ist nichts anderes als die 

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Choralgesang und Kunstgesang 


Versetzung der Spannungsverhaltnisse von dem einen Tone auf den nächsten. 
Sitzen die Töne in der Kehle fest, so kann diese Verrückung nur mit Gewalt, 
also stoßhaft, vor sich gehen. Die Folge ist, daß der neuzufassende Ton 
für den ersten Moment lauter, scharfkantig, herausplatzend klingt im Gegensatz 
zu dem Ende des verlassenen Tones. Die Stimme wallt in Stärke und 
Schwäche auf und ab; wir hören damit das ungeebnete, dynamisch wellen¬ 
artig geformte, bellende Singen. 

Diese Art „Naturstimme“ ist das absolute Gegenteil von dem, was der 
Singunterricht erreichen soll, nämlich: die möglichst gleiche dynamische 
Linienstärke. Es muß klingen, als hielte der Sänger nur den einen Ton aus, 
während in Wirklichkeit mehrere Sekundfortschritte erklingen. Daß diese 
innere Muskelverschiebung nur dann leicht stattfindet und rasch und sicher 
den erstrebten Spannungspunkt erreicht, wenn die Muskeln sich in einer 
Lage befinden, in der die motorischen Nerven in Bereitschaft gestellte Organe 
finden, liegt auf der Hand. 

Ein Muskelapparat wird um so leichter und schneller beeinflußt, je 
mehr er vor der Leistung entspannt gewesen und im Zustande der Kraft ge¬ 
blieben ist Das ganze Geheimnis der Tonbildung liegt in dieser Entspannung 
der Singorgane. Diese Entfesselung erfolgt lediglich zu dem Zwecke, die Appa¬ 
rate in den Stand zu setzen, daß sie auf jede Nervenbeeinflussung entspre¬ 
chende Bewegungen leicht und sicher vornehmen. Von dieser Art Ruhelage 
der Organe, von dieser Auslösung der Spannung hat die wahre, künstlerisch 
aufgefaßte Tonbildung den Namen erhalten: Bildung des „losen" Tones. 
Seine Erzeugung ist nur möglich durch die Isolierung der Muskeln voneinan¬ 
der, besonders nach ihren Grenzgebieten hin, von denen her sie leicht eine 
falsche, natur- und deshalb kunstwidrige Mitarbeit erfährt, die leider nicht 
nur nichts zur Sache zu helfen vermag, sondern die Erreichung des Kunst¬ 
zweckes erschwert, ja geradezu unmöglich macht. 

Man beachte nur, welche „Mitarbeit“ mitunter die Zunge liefert zur Bil¬ 
dung des absoluten Tones, wobei sie doch eigentlich „nichts zu sagen hat.“ 
Man beachte die Halsmuskeln bei Erzeugung hoher Töne, wie gerade sie es 
sind, die den Sänger veranlassen, das Kinn nach oben zu heben, als gelte 
es, den Ton aus der Brust zu ziehen und dabei eine Schwertklinge zu ver¬ 
schlucken. Und vieles, vieles andere Unschöne, Unmögliche, Gewaltsame, 
das auf falsche Tonbildung wie mit ausgestrecktem Arme hinweist 

Alle diese Verrenkungen, Einklemmungen, Pressungen sind untrügliche 
Zeichen, daß der sich so bitter anstrengende Sänger alles andere vielleicht 
beherrscht, nur das eine nicht: die Bildung des losen Tones. Solchem Sänger 
ist das Legato eine Unmöglichkeit. Denn dieses verlangt vollste Weichheit 
und Nachgiebigkeit der Kehlkopforgane, aber nicht bloß im Umkreise einer 
Sekunde, sondern auf die ganze Strecke seiner Töne, und zwar in dem Sinne, 
daß eine möglichste Gleichbildung aller Töne untereinander stattfindet. Dies 
bezeichnet bekanntermaßen die Singbildung als: Ausgleichung. 

Aber weil diese Ausgleichung auf der ganzen Linie der Stimme statt¬ 
finden soll, so folgt daraus, daß jene sekundweisen Übungen zwar von 
der Übung im Umfang weniger Tonstufen ausgehen, aber möglichst bald 
nach der Höhe und Tiefe sich erweitern müssen. Dadurch erreicht der Stimm, 
bildner den notwendigen Ausgleich der „Register“. Der Singschüler beginne 


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Choralgesang und Kunstgesang 


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also mit dem Legato auf der ihm bequemsten Tonlage 1 ) und erweitere von da 
nach oben und nach unten unter Vorsicht seine Stimme bis an ihre Grenzen. 
Ohne Lehrer ist jedem ernstlich von solchem Studium abzuraten; denn wenn 
auch alles gut gehen sollte, am Ausgleich der Register wird sein Selbstunter¬ 
richt schließlich doch scheitern. 

Wir können hier auf dieses strittige Kapitel der Registerfrage nicht 
näher eingehen; müssen aber doch auch unsern Standpunkt wenigstens 
kurz skizzieren. 

Eine Reihe Töne ist es, die jeder einzelne für sich — individuell be¬ 
sonders häufig im Sprechen und beim gelegentlichen, „stillen" Fürsichhin- 
singen verwendet Das ist das Alltagsregister oder, wie man es sonst nennen 
will, die primäre Tonlage. 

Diesem Register kann man eine Reihe Töne nach oben und nach unten 
ansetzen. Die Ergänzungstöne nach unten sind in ihrer Zahl mehr beschränkt, 
als die Töne nach der entgegengesetzten Seite. Darum strebt die Gesang¬ 
bildung vor allem, den Umfang der Stimme nach oben zu erweitern. Leider 
wird die Ausbildung der tieferen Töne dabei oft vernachlässigt. 

Die Gattung der höchsten Singtöne wird erzeugt dadurch, daß die Stimm¬ 
bänder nur teilweise in Schwingungen versetzt werden. Der Geiger mache 
sich dies klar etwa durch die Vorstellung von Flagiolettönen, wobei auch 
nur ein Bruchteil der gestrichenen Saite klingt. Diese höchsten Gesangstöne 
nennt man die „Kopfstimme." 

Bis dahin verstehen sich zumeist die Singlehrer. Das strittige Gebiet 
nun ist jene Stimmlage, die zu suchen ist zwischen der Alltagsstimme und 
der Kopfstimme. Diese Mittelstimme wird durch jene Art von Tongebung 
erzeugt, die ihrem Wesen nach zwar als Alltagsstimme — andere sagen 
„Bruststimme“ — erscheint, die aber eine starke Beeinflussung durch die 
Kopfstimme aufweist Man könnte diese Mittelstimme auch Mischstimme 
nennen, da sie aus der Diagonale zweier Stimmbildungsmöglichkeiten hervor¬ 
geht und Eigenschaften der Brust- und der Kopfstimme enthält 

Diese „vox mixte“ ist ihrem Wesen nach jene von der Gesangstechnik 
von jeher gesuchte „goldene Mittelstraße", die glückliche Mittellinie, auf der 
allein der Aufstieg auf den Gipfel der Singkunst möglich ist Dieser gemischte 
Ton ist der von allen wahren Gesangslehrern gesuchte „Einheitston". Er allein 
besitzt die Fähigkeit, die Stimmgebung so zu gestalten, daß ein Ausgleich statt¬ 
findet und zwar dahin, daß die Alltagsstimme leicht, flüssig, weich erklinge, 
daß aber andrerseits die Stimme in ihren Höhenlagen jener festen Grund¬ 
lage nicht entbehre, die die notwendige Voraussetzung aller künstlerischen 
Tonbildung ist und den eigentlichen Gehalt der Stimme darstellt Nicht 
die Höhenleistung einer Stimme bestimmen den künstlerischen Wert des 
Sängers, sondern die Durchschnittsgüte seines Organs. Jene C-Jäger unter 
den Tenören und ihre Kollegen auf der andern Seite im Baß gehören darum 
eigentlich in das Variete, wo sie ja auch auf entsprechende materielle Gegen¬ 
leistung hoffen können. 

Diese gemischte Stimme ist aber nur unter der Voraussetzung möglich, 
daß die stimmgebenden Organe auf einen Ausgleich eingerichtet und von 

') Diese Tonlage findet man durch Feststellung der Sprechhöhe, des „Primär¬ 
tones“. 


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Choralgesang und Kunstgesang 


Grund aus vorgeQbt sind. Diese künstlerische Art der Tongebung ist nur 
zu erreichen, wenn der Singschüler über eine Stimmbandstruktur verfügt, die 
das Einspannen der Stimmbänder zu nur teilweisem Schwingen allmählich 
zuläßt, so daß die organische Schwingungsumformung reichlich mit Zwischen* 
stufen ausgefüllt ist, die die Umbildung unmerklich bewerkstelligen. 

Diese Fähigkeit des Stimmorgans, Übergänge herzustellen, ist das, was 
man „Ausgleichung“ nennt. Sie erfolgt nach den zwei Seiten der Dynamik 
und der Klangfarbe. Die Übung hierin führt zu dem weiteren wesentlichen 
Erfolge, daß der Gegensatz zwischen Kopf- und zwischen Bruststimme in 
seiner Schärfe für alle Tonstufen gemindert, ja in der „Mittellage* gänzlich 
aufgehoben wird. Dadurch erhält, wie schon oben berührt, die Stimme den 
Zauber des Künstlerhaften, der zwar von der individuellen Stimmbegabung 
besonnt wird, der aber durch eine von uns hier kurz gezeichnete Tonbildungs¬ 
art seine letzte Vollendung und höchste Ausstrahlungskraft erhält. 

Es liegt auf der Hand, daß jene schwere Ausgleichungspraxis beginnen 
muß innerhalb eines relativ geringen Tonumfanges, deswegen nämlich, weil 
das Grenzgebiet erst nach und nach zu erobern möglich ist. Wesentlich dabei 
ist, daß dies von oben geschieht, weil die Entspannung der Stimmbänder leichter 
fällt, als ihr Gegenteil, ihre allmähliche Anspannung. Denn die „Kopfstimm¬ 
bildung“ zwingt das Singorgan zu einer Kraftleistung der nur teilweise 
schwingenden Stimmbänder. Diese Einstellung nötigt die Muskeln, dahin zu 
wirken, daß ein wesentlicher Teil der Stimmbänder so fest gehalten wird, 
daß er nicht mitschwingt. Die Arbeit ist in ihrer Wirkung also eine 
negative. Und diese Fesselung des Organs — der Stimmbänderteile — diese 
ist es, die zu Ermüdung und Unvermögen führt Aus diesem Grunde also ist 
es geraten, die Ausgleichungsübungen von oben her vorzunehmen. 

Wir brechen hiemit vorläufig ab in der Hoffnung, das Wesentliche der 
Tonbildung dargelegt zu haben. Welcher Ausblick auf den Vortrag des 
Chorals bietet sich uns nun dar? 

Der Choral verlangt zu seiner Wiedergabe eine ausgeglichene Stimme. 
Da er sich zur Hauptsache aus Sekundschritten zusammensetzt, wie wir ge¬ 
sehen haben, so fordert er die Beherrschung des Legato geradezu heraus. 
Keine andere Gesangsmusik lohnt darum auch eine nur mäßige Singunterwei¬ 
sung so sichtlich wie der Choral. Keine andere Gesangsmusik erfährt durch 
einen kunstgeschulten Vortrag eine so starke Belebung, eine so aufblühende 
Beseelung als der Choral. Er ist entsprungen aus der Freude am Dienste 
Gottes durch die Sangeskunst. Er ist der Frühlingsjubel der singenden Men¬ 
schenseele. Er ist die Anbetungsfeier des Allerhöchsten in Tönen eines welt- 
vergessenen Herzens. 

Aber neben diesem metaphysischen Zuge wohnt ihm eine Schönheit inne, 
die dem, der für die feineren Wirkungen der reinen Gesangskunst und des 
edlen Kunstgesanges empfänglich ist, unerschöpflich erscheint und sich als 
eine Höhenkunst darstellt, die ihresgleichen nirgends hat. Im besonderen 
bleibt die Choralmusik eine einzigartige wertvolle Kunst insofern, als sie eine 
Verkörperung des Musik-Geistes darstellt, wie er im Gesänge eines jeden 
Menschen geheimnisvoll ruht Der Choral ist der Gesang an sich, 
er ist der absolute Gesang. 


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Choralgesang und Kunstgesang 

Über diese Tatsache muß der Musikfreund um so mehr staunen, als diese 
Kunst einer Zeit entstammt, die, soweit die Kunstmusik in Frage kommt, 
noch keine Regung irgendwelcher ihm gleichgearteten Monodiekunst kennt. 
Wenn auch in der ersten monodischen Kunst der Florentiner Zeit (von ungefähr 
1300—1450) der Gesang nach Ergreifung des Textwortes und dessen Illustra¬ 
tion strebt, so bestehen doch wesenhafte Unterschiede zwischen diesen 
begleiteten Gesängen und jenen erhabenen Singweisen des Chorals, wo das 
Wort eine packende, psychologische, ästhetische Ausweitung und Erhöhung 
erfährt, die uns unnachahmlich erscheint. 

Nach allem, was wir als das Wesen der Gesangskunst hingestellt 
haben, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Choral nur dann 
seine Schönheit enthüllt, wenn er im Sinne von Kunstgesang auf¬ 
gefaßt wird. 

Volksgesang im engeren Sinne wird der Choral seinem ganzen Umfange 
nach — besonders in den nichtromanischen Ländern — wohl nie werden. 
Das schließt aber nicht aus, daß die mehr syllabischen oft wiederkehrenden 
Stücke: Pange lingua, Asperges me, Veni Creator Spiritus und das „III. Credo* 
nicht auch nach und nach zu Gemeindegesängen sich auswachsen können, 
wenn genügende Vorarbeiten in Singschule und Kirchenchor vorausgegangen 
sind. 

So groß der Segen auch genannt werden muß, der vom „Allgemeinen 
Cäcilienverein* seit vierzig Jahren ausgegangen ist gerade auch für die Neu¬ 
belebung des Interesses am Choral, so war er doch die indirekte, allerdings 
unverschuldete Ursache, daß er mit der starken Betonung der Choralpflege 
für viele Chöre zu hohe Ziele stellte. Nichts wäre in der zweiten Hälfte des 
vorigen Jahrhunderts nötiger gewesen als die Gründung nicht von Musik¬ 
schulen, sondern von Sänger schulen, woselbst* die Kunst des Gesanges gründ¬ 
lich gepflegt worden wäre. Man errichtete Anstalten, die ihre Zöglinge 
direkt für die Ausführung der kirchlichen Vorschriften als Organisten und 
Dirigenten ausbildete. So segensreich diese Anstalten auch wirken und 
gewirkt haben, sie würden gewiß an Bedeutung gewinnen, wenn das Studium 
und die Ausübung des Gesanges in den alles beherrschenden Vordergrund 
gestellt würde. Man wird entgegnen: in der Beanlagung für Gesang seien die 
Menschen sehr verschieden. Das sei zugegeben: gleichwohl bleibt die Tat¬ 
sache bestehen, daß eine vernünftige Sangespflege größere Erfolge zeitigt, 
als man für gewöhnlich annimmt. Nicht einen Vorwurf sollen unsere Worte 
enthalten, sondern nur einen Anstoß zu einem Ausbau der Anstalten, denen 
wir so unendlich viel Gutes verdanken. 

Ebenso erscheint uns die Pflege des Gesanges in den Lehrerseminarien 
und theologischen Anstalten noch lange nicht genügend gesichert Man über¬ 
läßt in diesem Punkte dem Zufalle beinahe alles. Wie wir hören, macht man 
im Priesterseminare zu Straßburg einen ernsten Anfang mit Errichtung von 
Stimmbildungskursen. Hoffen wir. 

Wenn es wahr ist, daß der römische Choral das höchste musikalische 
Gut der heiligen Kirche ist — und er ist es — so folgt für uns daraus, daß 
man den künftigen Lehrer und den künftigen Priester so erziehe, daß er im¬ 
stande sei, den musikalischen Gehalt dieser Gesangsmusik zu fassen, ihn 


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104 Wiener Musikkongreß 

darzustellen und ihn so in seinem Erziehungswerte zu entfesseln. Das läßt 
sich nicht erreichen durch Orgelspiel, durch Violinspiel, durch ein bißchen 
Harmoniumspiel: dazu gehört ernstes Gesangsstudium, das noch das große 
Gute im Gefolge hätte, den mit der Kehle arbeitenden Anfänger vor groben 
Schäden des Sprechorgans zu bewahren; denn: 

Nur über die Brücke der Kunst geht der Weg in das Wunderland 
des Chorals. 

Leipzig Dr. Hugo Löbmann 


Die Sektion für Kirchenmusik auf dem III. Kongreß der 
Internationalen Musikgesellschaft in Wien 1909 

E s muß als eine höchst erfreuliche Tatsache konstatiert werden, daß die 
Leitung der Internationalen Musikgesellschaft auf ihrem diesjährigen 
Musikkongreß in Wien der Kirchenmusik eine eigene Sektion eingeräumt hat 
und zwar meines Wissens aus eigenster Initiative, da der Vorsitzende des 
Wiener Kongreßausschusses, Univ.-Prof. Dr. Adler, bereits vor Jahresfrist an 
den Unterzeichneten das Ansuchen stellte, die Leitung dieser Sektion zu über¬ 
nehmen. Durch diese Eingliederung der Kirchenmusik als selbständige Sek¬ 
tion in den Rahmen des großen Kongresses wird ausdrücklich anerkannt, daß 
die Kirchenmusik das gleiche Anrecht auf wissenschaftliche Behandlung 
hat wie die übrigen Disziplinen. Für den mit der Geschichte Vertrauten bietet 
diese Tatsache ja nichts Überraschendes, im Gegenteil, er müßte sich wundern, 
wenn es nicht so wäre. 

An der Wiege des Christentums steht bereits die Musica sacra, mit der 
wachsenden Kirche zieht sie in die Lande, und als mit Konstantin die ersten 
Gotteshäuser in die Lüfte ragen, erhält sie ihren Platz neben dem Priester; 
und diese innige Verbindung zwischen Altar und Sängerchor sollten die kom¬ 
menden Jahrhunderte mit dem Ausbau der Musica sacra nur noch inniger 
gestalten. Und als dann um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die junge 
Musikwissenschaft erwacht und die Musikhistoriker zu schürfen und zu graben 
beginnen, wie heißt das Feld, auf dem sie den Spaten einsetzen? — 
Kirchenmusik. Und wenn wir heute unsere großen Publikationen betrachten, 
welches ist vielfach ihr Inhalt? — Kirchenmusik. Und wenn wir zu blättern 
beginnen in unseren prächtigen Denkmälern Deutscher, Bayerischer und Öster¬ 
reicher Tonkunst, wiederum finden wir einen beträchtlichen Teil, gefüllt mit 
— Kirchenmusik. Und alle die Träger glänzender Gelehrtennamen, die heute 
an unseren Universitäten lehren oder in privater Arbeit sich dem Studium 
der Musik des Mittelalters widmen, welches Gebiet liefert ihren Forschungen 
die sicherste Unterlage? — wiederum die Kirchenmusik. Darum wollen wir 
zuversichtlich hoffen, daß auch die künftigen Kongresse die große Vergangen¬ 
heit und Bedeutung der Kirchenmusik wohl würdigend, ihr einen ständigen 
Platz in ihren Tagungen gönnen; sie brauchen sich ihrer gewiß nicht zu 
schämen, wie der Wiener Kongreß deutlich bewiesen hat. 

Die Sektion für Kirchenmusik zerfiel sich in drei Abteilungen: Va für 
katholische Kirchenmusik, Vb für evangelische Kirchenmusik, Vc für Orgel¬ 
baufragen. Den Besuch unserer Sektion, der teilweise den anderer Sektionen 


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Wiener Musikkongreß 


105 


sogar abertraf, darf man als einen guten bezeichnen, waren doch fast alle 
die jüngeren Musikgelehrten, die dem wissenschaftlichen Betrieb der Kirchen¬ 
musik ihre Arbeit zugewendet haben, persönlich erschienen; allerdings hatte 
derselbe bei manchen Tagungen von seiten der Zuhörer ein größerer sein 
können, aber man muß eben bedenken, daß ein wissenschaftlicher Kon¬ 
greß keine politische oder sonstige Versammlung ist, wo Massenandrang 
herrscht 

Als »Einfahrender* hatte Prälat Dr. Schnabl-Wien die Versammlungen 
liebevoll vorbereitet und sprach selbst als erster in prägnantester Weise aber 
„Charakteristik der Kirchenmusik.* Die Diskussion ergab manche interessante 
Gesichtspunkte: neu und psychologisch sehr plausibel schien mir der Erklä¬ 
rungsversuch des Vortragenden, warum in den Messen von Joseph Haydn 
das Kyrie — ein demütiger, ernster Ruf um Erbarmen — vielfach so heiter 
und dem Texte widersprechend vertont sei: Haydn habe schon beim Beginne 
der Messe — also beim Kyrie, da der Introitus nicht gesungen wurde — den 
Festcharakter des Tages zum Ausdruck bringen wollen. Eine weitere An¬ 
regung Dr. Schnabls ging dahin, die Komponisten möchten Introitus und Com- 
munio für die Hauptfeste des ganzen Kirchenjahres im Geiste der Festzeit 
mehrstimmig in verschiedenen Stilarten vertonen. So sehr die Realisierung 
dieses Vorschlages im Interesse der Stileinheit zu wünschen wäre, so ent¬ 
stehen aber dadurch anderseits die schlimmsten Konsequenzen für den Cho¬ 
ralgesang. 

Eine ganz vorzügliche Schlußbemerkung machte Prof. Bewerunge- 
Maynooth (Irland). Er betont besonders das Zweckmäßigkeitsprinzip in der 
Kirchenmusik, welche nebst den allgemeinen ästhetischen Eigenschaften noch 
die besonderen auf den Zweck sich beziehenden haben müsse. Darüber zu 
urteilen, habe nicht jeder Regenschori, Sänger oder Teilnehmer 
am Gottesdienst das Recht, sondern nur derjenige, der mit dem 
historischen Entwicklungsgänge der Kirchenmusik, insbesondere 
mit dem Choral und den polyphonen Meisterwerken, vom 16. Jahr¬ 
hundert angefangen, vertraut sei. 

Es folgten dann die Vorträge von Dr. Müller-Paderborn „Zur Ur¬ 
geschichte des deutschen Kirchenliedes“ und Dr. Wein mann-Regensburg 
über „Alte und moderne Kirchenmusik,“ die wir nebst dem Choralvortrag 
von Prof. Wagner-Freiburg (Schweiz) nachstehend bringen. 

Daß die Tendenz des Kongresses nicht auf irgendeine bestimmte Richtung 
in der Kirchenmusik eingestellt war, sondern alle zu Wort kommen ließ, be¬ 
weisen die Referate eines begeisterten Anhängers der Instrumentalmusik, 
Dr. Schnerich-Wien, der in drei Vorträgen für die Wiener Klassiker und 
speziell für die Messen Jos. Haydns eintrat: a) Die textlichen Versehen in den 
Messen Jos. Haydns und deren Korrektur; b) Die Wiener Kirchenmusikver¬ 
eine; c) Kirchenmusikalische Denkmalpflege. 

Es ist im Rahmen dieser kurzen Obersicht leider nicht möglich, die 
äußeret lebhafte, aber interessante Debatte, welche sich an diese Vorträge 
schloß, auch nur zu skizzieren, es wird sich jedoch noch Gelegenheit geben, 
diese ganze Frage ausführlich in einem eigenen Aufsatz zu behandeln. Be¬ 
merkt sei hier nur noch, daß Prof. Müller in großzügiger und weitherziger 
Weise den kirchlichen Standpunkt präzisierte, und daß seine und Dr. Wid- 


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Wiener Musikkongreß 


mann’s-Eichstätt Ausführungen geeignet waren, die verschiedenen Richtungen 
und Anschauungen einander näher zu bringen. 

Vor einem großen Zuhörerkreis aus allen Sektionen fand der hochinter¬ 
essante Vortrag Prof. Wagners statt „Ober gregorianischen Choral.“ 
In liebenswürdigster Weise war P. Michael Horn mit mehreren Benediktiner¬ 
patres und Sängerknaben aus dem Kloster Seckau herbeigeeilt, um zu den 
Ausführungen die musikalische Illustration zu geben — ein ungemein lieb¬ 
liches Bild, so ganz an die Zeiten Guidos von Arezzo gemahnend. Wie 
mir nachher mehrere Vertreter anderer Sektionen gestanden, hat dieser Vor¬ 
trag mit den eingestreuten Gesängen nicht nur von der wundersamen Schön¬ 
heit der gregorianischen Lieder überzeugt, sondern gerade durch die natürliche 
Einfachheit derselben ergriffen. 

Gleichsam ein Seitenstück zu diesem Vortrag gab Dr. Widmann-Eich¬ 
stätt aus dem Gebiete der Polyphonie „Einrichtung historischer Musikwerke 
für Aufführungen.“ Auch hier begleitete in zuvorkommendster Weise der gut¬ 
geschulte Chor der Dominikanerkirche die interessanten, aus der lebensvollen 
Praxis geschöpften Ausführungen des Vortragenden. 

Die Schlußsitzung brachte nach einem Vortrag von Prof. Moißl-Reichen- 
berg „Ober die Notwendigkeit unterbehördlicher Durchführungsvorschriften 
zum Motu proprio vom 22. November 1903,“ eine ausgedehnte und interes¬ 
sante Debatte zur Einführung des traditionellen Chorals. Wenn man auch 
die bisherigen Verhältnisse nicht unterschätze, so handle es sich hier, wie 
Prof. Wagner betonte, um kirchliche Gesetze und wissenschaftliche Prinzi¬ 
pien, die sofortige praktische Arbeit und zwar von unten herauf fordern. 

Ganz neue Momente boten die Erörterungen über die Instrumental¬ 
musik des 17. Jahrhunderts, die der Forschung neue Wege weisen. Die Re¬ 
sultate dieser Debatte, an der sich besonders Dr. Mantuani-Laibach, Dr. Waas- 
Wien, Dr. Wagner und Dr. Weinmann beteiligten, wurden auf Anregung des 
Vorsitzenden in einer eigenen Resolution (Nr. 2) zusammengefaßt und mit 
den anderen Resolutionen der Versammlung zur Annahme vorgelegt: 

1) Die Sektion für Kirchenmusik begrüßt vom wissenschaftlich-ästheti¬ 
schen Standpunkt aus die durch das päpstliche Motu proprio vom 23. No* 
vember 1903 angeordnete Pflege des traditionellen Chorals und der klassischen 
Polyphonie auf das freudigste. Sie verspricht ihrerseits an der Durchführung 
der dort gegebenen Anweisungen energisch mitarbeiten zu wollen. 

2) In der Erwägung, daß der allgemeine Verfall der kirchlichen Instru¬ 
mentalmusik erst im 18. Jahrhundert eingerissen ist, und daß anderseits 
im 17. Jahrhundert eine Reihe kirchenmusikalischer Werke mit Instrumental¬ 
musik existiert hat, die — soweit man bisher zu beurteilen vermag — dem 
Geiste und Ernste der Liturgie nicht widersprechen, erklärt die Sektion, daß 
eine wissenschaftliche Untersuchung dieser Periode der Kirchenmusik nach 
den Quellen eine dringende Aufgabe der Gegenwart sei. 

3) Die Sektion erkennt es als ein dringendes Bedürfnis, daß a) an allen 
Lehrerseminaren der Kirchenmusik, besonders auch der Pflege des Chorals 
ein größerer Platz eingeräumt werde, b) an den Hochschulen Lehrstühle für 
Kirchenmusik errichtet werden. 

Außer der kirchenmusikalischen Sektion' tagten noch vier weitere Sek¬ 
tionen, in denen zusammen über 100 Vorträge gehalten wurden, so daß der 


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Alte und moderne Kirchenmusik 


Unterrichtsminister Dr. Graf Stürgkh bei der Begrüßung des Kongresses mit 
Recht sagen konnte: „Die Musikwissenschaft ist heute kein einzelnes Fach 
mehr, sie begreift eine ganze Fakultät in sich.“ Mögen die einzelnen Sektionen 
hier wenigstens aufgeführt sein: 

Sektion Ia: Alte Musikgeschichte, 

„ Ib: Neue Musikgeschichte, 

„ II: Folklore und exotische Musik, 

„ III: Theorie, Ästhetik und Didaktik, 

„ IVa: Bibliographie und Organisationsfragen, 

„ IV b: Musikalische Länderkunde. 

Neben dem wissenschaftlichen Kongreß liefen dann die musikalischen 
Aufführungen der damit verbundenen Haydn-Zentenarfeier, beginnend mit der 
Festmesse (Mariazeller Messe von Jos. Haydn) in der k. k. Hofburgkapelle und 
schließend mit zwei Haydn-Opern. Dazwischen lagen historische Konzerte 
mit Chor- und Orchesteraufführungen, Kammerkonzerte usw., ganz abgesehen 
von den glänzenden Festabenden bei Hofe, im Unterrichtsministerium und 
im Rathaus, kurz ein Programm, das kaum mehr überboten werden kann, 
und das man trotz der Überfülle doch wiederum vollauf genießen wollte, er¬ 
schienen ja Werke in demselben, die wegen ihres gewaltigen Apparates zur 
Aufführung nur äußerst selten zu hören sind; ich greife z. B. nur die ^stim¬ 
mige Messe heraus, die Orazio Benevoli zur Einweihung des Salzburger Doms 
schrieb und die seit dieser Uraufführung meines Wissens keine zweite mehr 
erlebte. 

Die herrlichen Tage sind verrauscht, aber Kunst und Wissenschaft haben 
in der Kaiserstadt einen Samen gestreut, der zur goldenen Frucht reifen wird. 
In der Hauptstadt des britischen Inselreichs wird der nächste musikwissen¬ 
schaftliche Kongreß tagen; möge London ein zweites Wien werden 1 

Regensburg Dr. Karl Weltmann 


Alte und moderne Kirchenmusik 

Historisch-kritische Bemerkungen zur Theorie und Praxis 

I. 

D ie Gegenüberstellung in meinem Thema läßt schon erkennen, daß ich nur 
von der mehrstimmigen Kirchenmusik sprechen will und den kirch¬ 
lichen Gesang, *«’ # 0 * 7 *, den Choral, nicht in den Kreis meiner Betrachtung 
ziehe, zumal ja demselben ein eigener ausführlicher Vortrag mit musikalischen 
Illustrationen gewidmet sein wird. 

Die Gesetze und Vorschriften, welche die Kirche in Betreff der liturgi¬ 
schen Musik erlassen hat, finden sich niedergelegt in dem denkwürdigen 
„Motu proprio Pius X.“ vom 22. November 1903, der „Charta magna“ der 
„Musica sacra“. Was sagt nun dieses „Motu proprio“ von der mehrstim¬ 
migen Musik? 

In Ziffer II, Absatz 4, heißt es darüber: „Die vorgenannten Eigenschaf¬ 
ten — welche die liturgische Musik an sich tragen soll, nämlich die Heilig¬ 
keit, die Güte der Formen (wahre Kunst) und Allgemeinheit — besitzt 
auch im höchsten Grade die klassische Polyphonie, besonders die der römi- 


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Alte und moderne Kirchenmusik 


sehen Schule, welche im 16. Jahrhundert ihre höchste Vollendung durch Pa- 
lestrina erreichte und auch in der Folge Kompositionen von ausgezeichneter 
musikalischer und liturgischer Güte hervorzubringen fortfuhr.“ 

Damit ist dem Palestrinastil die höchste kirchliche Sanktion gegeben 
und ich kann es mir hier erlassen, alle jene Werturteile anzuführen, die im 
Laufe der Zeit — von Beethoven bis Richard Wagner — diese Stilgattung 
als die höchste Kunstform der Musica sacra gepriesen haben. Wichtiger wird 
es für uns hier sein, die Bedingungen kennen zu lernen, welche der soge¬ 
nannte Palestrinastil zu seiner Ausführung fordert 

Als die Hauptbedingung hiefür muß die geistige Auffassung gelten. 
Ich wage die Behauptung, daß keine Musikgattung der Gegenwart so bis zur 
Unkenntlichkeit verunstaltet werden kann, als wie der Palestrinastil. Der 
Grund hiefür ist klar. Der Palestrinastil wurzelt in einer Zeit, die gut 300 Jahre 
unserem Zeitalter vorausliegt, einer Zeit, die ihre Schöpfungen auf ganz an¬ 
dere Prinzipien aufbaute als die Gegenwart, einer Zeit endlich, in der die 
Sängerrepublik unsere heutigen Chöre um ein Bedeutendes übertraf. 

Schon bald nach des großen Pränestiners Tode fielen seine und seiner 
Schule Werke der Vergessenheit anheim; der monodische Stil, der damals 
seinen Siegeszug durch die Lande antrat, begann ihnen das Grab zu graben. 
Und diese Verständnislosigkeit gegenüber dieser klassischen Stilperiode trug 
das ganze 17. und 18. Jahrhundert zur Schau, bis endlich um die Mitte des 
19. Jahrhunderts die Männer kamen, — allen voran Proske — welche diese 
Werke wieder zu neuem Leben erstehen ließen. Es lag dieses Zurückgreifen 
im Geiste der damaligen Zeit, der die Romantik im Leben und in der Kunst 
ihr Gepräge gab; es lag in der Erneuerung des kirchlichen Lebens, das nach 
allen Seiten hin nach einer Beseelung und Vertiefung strebte. 

Doch wie kann die oben geforderte geistige Auffassung vermittelt und 
erreicht werden? Hauptsächlich auf einem zweifachen Wege: Erstens durch 
einen geschulten Dirigenten, zweitens durch oftmaliges Anhören dieser Stil¬ 
gattung. 

Jeder Praktiker wird zugeben, daß ein Dirigent, der klassische Poly- 
phonie nur den Noten nach kennt, dieselbe seinem Chore unmöglich zu ver¬ 
mitteln imstande ist; er wird das ebensowenig zuwege bringen wie einer, der 
die Aussprache einer fremden Sprache aus Büchern dozieren will. Hier ver¬ 
sagt der beste Musiker; nur andauerndes Studium, das sich auf eine erprobte 
Praxis gründet, kann zum Ziele führen. 

Noch kürzer ist der Weg, wenn die Sänger selbst Gelegenheit haben, 
Musteraufführungen in diesem Stile oft zu hören; denn diese werden ihnen 
den geistigen Gehalt und die richtige Auffassung am besten erschließen. 

Aus diesen Andeutungen ergibt sich schon, was von den sogenannten 
modernen Bearbeitungen der alten klassischen Vokalkompositionen, das heißt 
Umschreibungen der alten Schlüssel in unsere Violin- und Baßschlüssel zu 
halten ist. Sie sind und können weiter nichts sein als Hilfsmittel, Erleichte¬ 
rungen zur Ausführung der alten Meisterwerke und als solche heißen wir sie 
für die Praxis herzlich willkommen. Treten sie aber mit weiteren Ansprüchen 
auf und suchen die Chöre in die künstliche Hypnose zu versetzen, daß 
mit ihrer Benützung auch der richtige Palestrinavortrag schon fix und fertig 


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Alte und moderne Kirchenmusik 


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sei, so müssen wir ihnen die goldenen Worte entgegenhalten, die ein Refe¬ 
rent des Cäcilienvereines im Vereinskatalog niedergeschrieben (R. Quadflieg» 
Seite 115): „Nicht mehr das Notenlesen in den alten Schlüsseln, nicht mehr 
die Transposition, nicht mehr der Allabrevetakt sind heutzutage die Haupt¬ 
sache, was von den Sängern gelernt werden muß, sondern der polyphone 
Stil, das heißt die Faktur, die Selbständigkeit der Einzelstimme so¬ 
wohl bezüglich des Textes und seiner Akzente als auch der Taktzeiten, 
die Heraushebung der Themata und der Nachahmungen, die Über¬ 
windung der Taktstriche, beziehungsweise der betonten und unbetonten 
Taktzeiten, die Gewöhnung an die Kirchentonarten, und ich möchte 
noch hinzusetzen und doppelt unterstreichen, die Atemökonomie und Phra¬ 
sierung etc. etc. sind es, was not tut. Sämtliche Neueditionen können näm¬ 
lich allein noch nicht helfen; es muß eine systematische Schulung der 
Sänger im Palestrinastil angestrebt und — erreicht werden." 

Damit sind zugleich schon die Schwierigkeiten der klassischen Poly- 
phonie ausgesprochen, und alle diese einzelnen Momente zusammengenommen 
bilden die Grundbedingungen des geistigen Erfassens. 

Freilich soll nicht geleugnet werden, daß der Palestrinastil anderseits 
Eigenschaften besitzt, die seine Ausführung bedeutend leichter erscheinen 
lassen als die mancher anderen Kirchenkompositionen, und dahin ist vor allem 
das Treffen der Intervalle zu rechnen. Wer sich in das immerwiederkehrende 
Tonmaterial dieser diatonischen Musik einmal eingesungen und eingelebt hat, 
für den bieten neue Messen dieser Stilgattung soviel wie keine Schwierigkeit 
mehr. Ich kann hier aus einer langjährigen Praxis sprechen — zuerst als 
Chorknabe, dann als Gesanglehrer und Kapellmeister — und jeder, der die 
gleichen Erfahrungen hinter sich hat, wird mir das bestätigen. Als wir als 
zehnjährige Sängerknaben des Regensburger Domchors das erste und zweite 
Rekrutenjahr hinter uns hatten, war es uns vollständig gleichgültig, welche 
Messe oder Motette etc. der Kapellmeister auflegte, wir sangen — ganz außer¬ 
ordentliche Fälle ausgenommen — alles vom Blatte. Selbstverständlich wurde 
aber dennoch immer alles genau und sorgfältig studiert und geübt, und so 
ist es noch heute. Und diese ständige Übung und Schulung, bei der diese 
Stilgattung eben sozusagen die tägliche Kost bildet, ermöglicht es auch dem 
Regensburger Domchor alljährlich an die hundert neue Nummern von alten 
Meistern der klassischen Polyphonie zu singen — man denke nur an die Kar¬ 
woche — eine Tatsache, die für die Fremden staunenswert, für die Einge¬ 
weihten etwas ganz Natürliches ist 

Allein das Treffen ist eben noch nicht der Vortrag, mit dem der Pa¬ 
lestrinastil steht oder fällt Würde es nur auf das Treffen ankommen, so 
müßten die Aufführungen der klassischen Polyphonie in den Hofkirchen un¬ 
serer Residenzstädte, wo erstklassige Kräfte, meist Mitglieder der Hoftheater, 
zur Verfügung stehen, auch erstklassige sein. Meist sind dieselben aber sehr 
weit davon entfernt; es fehlt hier an der geistigen Auffassung, an dem Mit¬ 
fühlen, an dem Sichhineinleben, ja in den meisten Fällen schon in der Er¬ 
kenntnis, daß diese Stilgattung sich von der modernen Kirchenmusik unter¬ 
scheidet wie in der Malerei ein Fiesoie von einem Mackart Wie sich dann 
erst eine solche Aufführung gestaltet auf unseren Landchören, denen auch 
noch das technische Können mangelt, wo der Chorregent Palestrina nicht 


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Alte und moderne Kirchenmusik 


einmal den Namen nach kennt und bei irgendeiner Feierlichkeit die nächst¬ 
beste Palestrinamesse aufführt, davon kann sich nur der eine Vorstellung 
machen, der eine solche Aufführung gehört und miterlebt hat Als eine wei¬ 
tere Erfahrungstatsache mag noch ferner angeführt werden, daß sich die 
Werke der klassischen Polyphonie am besten in der Besetzung mit Knaben¬ 
stimmen für Sopran und Alt aufführen lassen. Die Knabenstimmen eignen 
sich hiezu wegen ihres gleichmäßigen Klangcharakters vielmehr als die Frauen¬ 
stimmen, die in diese objektive Stilgattung ein unruhiges, fast möchte ich 
sagen sinnliches Moment hineintragen und mehr für die moderne Musik ge¬ 
schaffen sind. 

Bedeuten nun unsere Ausführungen nicht einen direkten Warnungsruf 
vor dem Palestrinastil? Gewiß nicht; sie legen nur die notwendigen Bedin¬ 
gungen für seine gediegene Ausführung dar und geben den Rat, die klassi¬ 
sche Polyphonie nur da zu singen, wo die Grundlagen hiefür gegeben sind, 
sonst ist der kirchlichen Kunst mehr geschadet als genützt. 

Der Weg zur klassischen Polyphonie ist ja nicht allzuschwer. Man 
suche einen verständnisvollen Chorleiter und beginne nicht mit Werken die¬ 
ser Meister selbst, sondern mit den Kompositionen, welche die Brücke zu 
ihnen schlagen. Dahin gehören die in diesem Stile geschaffenen Werke von 
Haller, Nekes, Auer und anderen; auch die leichteren Schöpfungen der nach¬ 
klassischen Meist«;, besonders aus der Venetianischen Schule, wie sie uns z. B. 
die treffliche Sammlung von Lück im I. Band (Regensburg, Pustet) bietet, 
können herangezogen werden, bis man sich dann an die Originalwerke wagen 
darf. Daß gute Aufführungen im alten Stil erreicht werden können, wenn 
Begeisterung und Fleiß die Triebfedern sind, haben viele Chöre bewiesen; 
ich erinnere z. B. nur an den seinerzeitigen Musterchor in dem abgelegenen 
Gebirgsdörfchen Gaschurn in Tirol. Darum mutig voran; der Palestrinastil 
ist des Schweißes der Edlen wert! 

II. 

Meinen Ausführungen über die moderne Kirchenmusik stelle ich die 
schönen und weitausschauenden Worte des Motu proprio (Absatz II. Ziffer 5) 
voraus, die das ganze Programm für diese Stilgattung künden: 

„Die Kirche hat immer den Fortschritt der Künste anerkannt und be¬ 
günstigt, indem sie zum Gottesdienst all das, was das Genie im Laufe der 
Jahrhunderte Gutes und Schönes zu erfinden wußte, zuließ, immer jedoch 
unter Wahrung der liturgischen Gesetze. Daher ist auch die neuere Musik 
in den Kirchen zugelassen, wenn sie ebenfalls Kompositionen von solcher 
Güte, Ernsthaftigkeit und Würde darbietet, daß dieselben in keiner Weise der 
liturgischen Verrichtung unwürdig sind.“ 

Zwei Momente von hervorragendster Bedeutung sind hier ausgesprochen: 

1. Die katholische Kirche läßt die moderne Kirchenmusik zu; 

2. sie fordert ihre Einfügung in die liturgischen Gesetze. 

Mit hohem Danke muß die klare Ausdrucksweise des Motu proprio in 
bezug auf die Zulassung der modernen Kirchenmusik begrüßt werden; denn 
damit fallen alle jene ungerechten Anklagen, die im Laufe der Zeiten gegen 
die Kirche als angebliche Unterdrückerin und Feindin des künstlerischen Fort¬ 
schrittes geschleudert wurden. Und gerade manche Komponisten konnten 
sich in diesen Vorwürfen nicht genug tun; die so oft wiederholte Anklage: 


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Alte und moderne Kirchenmusik 


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„Warum hat die katholische Kirchenmusik unter den großen modernen Kom¬ 
ponisten keine Vertreter mehr?“ erfuhr immer wieder die stereotype Antwort: 
„Weil sie den modernen Stil in ihrer Liturgie nicht duldet* 

Eigentlich hätte schon die bisherige Praxis der Kirche diese Unzufrie¬ 
denen eines Besseren belehren können; denn einem gesunden Fortschritt hat 
sich die Kirche niemals verschlossen. Sie sah ihre Gotteshäuser im romani¬ 
schen Stil ihre Pracht entfalten; sie sah die gotischen Dome zum Himmel 
streben; sie schaute die Periode der Renaissance, des Rokoko und Barock; 
sie zollt der Architektur der Gegenwart ihre Anerkennung, aberall die weit¬ 
gehendste Forderung. Und so auch in der Musik. 

Als nach dem ersten Jahrtausend dem altehrwardigen Choral die junge 
Polyphonie sich an die Seite stellte, da war es die Kirche, welche ihr die 
Tore öffnete. Man hat zwar die Behauptung gewagt, daß die Kirche „in der 
polyphonen Kunst Ketzertum und Kirchenschändung sah* (Dr. Viktor Lederer 
„Ober Heimat und Ursprung der mehrstimmigen Tonkunst*, Leipzig, 1908, 
Seite 117); man hat besonders das Dekretale Johann XXII. „Docta S. S. Patrum* 
als Beweis hiefQr anführen wollen; mit welchem Rechte oder vielmehr mit 
welchem Unrechte habe ich vor nicht allzulanger Zeit in einer kleinen Studie 
(„Kirchenmusik“, Paderborn, 1908, Nr. 8, Seite 171 ff.) zur Genüge beleuchtet, 
und es wäre nachgerade nicht bloß ein Postulat der Wissenschaft, sondern 
auch ein Akt der Gerechtigkeit, wenn derartige Vorwürfe aus der musikhi¬ 
storischen Forschung für die Zukunft ausscheiden würden; denn keine Kunst 
hat vielleicht der Kirche mehr zu danken als gerade die Musik. 

Und als dann in Florenz, dem Brennpunkt des literarisch-schöngeisti¬ 
gen Lebens, die Monodie, der Einzelngesang seine Auferstehung feierte, hat 
die Kirche der neuen Musikgattung ihre Tore verschlossen? Keineswegs. 
Lodovico da Viadana war es (geb. 1564), der die neue Stilgattung in die 
0 Hallen der Kirche einführte und ihr Heimatsrecht verschaffte. Freilich haben 
dann die späteren Zeiten der Kirche schlechten Dank hiefür gezollt und ihre 
geweihten Räume zum Konzertsaal umgewandelt 

Aber eines wird und muß die Kirche stets verlangen, wenn sie nicht 
selbst dem Verfalle sich weihen will, daß das Wesen, der Geist, der innere 
Kern stets der gleiche bleibe, unberührt von dem Wandel der Jahrhunderte. 
Der Kirche aber das Recht, für ihre Kultformen bestimmte Normen aufzu¬ 
stellen, absprechen zu wollen, wäre gleichbedeutend mjt einer Negierung 
ihrer gesetzgeberischen Gewalt und deswegen kann dieses Moment hier wohl 
vollständig ausscheiden. 

Eine andere Frage ist die, ob bei den von der Kirche gegebenen Vor¬ 
schriften und Einschränkungen ein musikalisches Kunstwerk zustande kom¬ 
men kann, und diese Frage muß unbedingt bejaht werden. Die kirchlichen 
Vorschriften in bezug auf die Musica sacra sind zum großen Teile nega¬ 
tiver Natur, das heißt die Kirche bezeichnet speziell, was sich für das 
Heiligtum nicht eignet, also: die musikalischen Kompositionen modernen Stils 
sollen „nichts Profanes enthalten, nicht an die in Theatern üblichen Motive 
erinnern,* es sollen keine ungeeigneten Instrumente verwendet werden wie 
Pianoforte, Trommel, Glockenspiele etc. Ferner: die Kompositionen sollen 
nicht zu lang sein, speziell das Gloria und Credo, damit die heilige Handlung 
nicht aufgehalten werde, die einzelnen Formen sollen auseinander gehalten 


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Alte und moderne Kirchenmusik 


werden, so daß sich ein Kyrie in der Komposition von einem Hymnus unter¬ 
scheidet, die Texte dürfen nicht verändert oder umgestellt werden, unnötige 
Wiederholungen oder Zerstückelung von Silben müssen vermieden werden etc. 

' Ebenso beziehen sich dann die positiven Vorschriften auf alle jene Mo¬ 
mente, welche die Heiligkeit und die Güte der Formen bedingen. Ich frage: 

„Hindern diese liturgischen Vorschriften das künstlerische Schaffen? Sind 
sie nicht vielmehr Wegweiser für die Komponisten, um sie vor Irr- und Ab¬ 
wegen zu bewahren?“ 

Bestehen innerhalb der weltlichen Musik manchmal nicht noch engere 
Schranken? Denken wir an einen Satz für Männerstimmen, an einen 
Acapella-Chor, an ein Streichquartett! Geht der Komponist über die Eigen¬ 
art und Sphäre dieser spezifischen Formen hinaus, indem er z. B. dem Streich¬ 
quartett orchestrale Effekte zumutet, so steht er nicht mehr auf dem Boden 
der reinen Kammermusik, ebensowenig wie der Tonsetzer, der bei einem 
Acapella-Werk nicht mehr gesangsmäßig, sondern orgel- oder instrumental¬ 
mäßig schreibt. Emanzipiert sich der Kirchenkomponist von dem kirchlich¬ 
liturgischen Text und verwendet Formen und Töne, wie sie nur die Profan¬ 
musik kennt, so trägt er eben ein wesensfremdes Prinzip in die Kirche hinein. 
Denn das ist gerade der ausschlaggebende und leider zu wenig beachtete 
Faktor in der kirchenmusikalischen Kunst, daß sie nicht für sich allein, los¬ 
gelöst von der liturgischen Feier, als musikalisches Kunstwerk be¬ 
trachtet werden darf, sondern nur in Verbindung mit der heiligen 
Handlung, ganz in analogem Sinne — wenn dieser Vergleich gestattet ist 
— wie das Richard Wagnersche Gesamtkunstwerk. 

Gewiß ist die Kunst im allgemeinen und bei allem Dienste und aller 
Unterordnung unter die höchsten Menschheitsideale eine Art höherer Hedo¬ 
nismus, aber die kirchliche Kunst überbietet und überflügelt diesen Egois¬ 
mus. Ästhetischer Genuß, hohe ideale Freude ist ihr noch nicht das 
Höchste; sie strebt die kontemplative Hingabe an, die Verherrlichung des • 
Allerhöchsten; sie will mit einem Worte Gottesdienst sein. Freilich muß 
zugestanden werden, daß es hier nicht immer leicht ist, die Grenzlinie zu 
ziehen, aber ein ästhetisch — ich sage nicht kirchlich — feinfühlender Mu¬ 
siker und Tonschöpfer wird sicher das Richtige treffen; es wird seinem 
künstlerischen Empfinden widerstreben, eine Melodie zu schaffen, die sich 
nicht für das Gotteshaus eignet. Zeitcharakter und nationale Eigenart mögen 
hier kleine Verschiebungen verursachen, aber niemals eine vollständige Aus¬ 
schaltung dieses Prinzips; darum gilt auch hier das Wort der Heiligen Schrift: 
„Gebet dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist* 

Wir haben gesehen: in der mehrstimmigen Kirchenmusik bestehen zwei 
Richtungen nebeneinander, die beide ihre Berechtigung haben und je 
nach den vorhandenen Kräften und Umständen gepflegt werden sollen. Darf 
die moderne Kirchenmusik im allgemeinen vielleicht auf größeres Verständnis 
seitens des gläubigen Volkes, vielleicht auch mehr auf äußere Wirkung rech¬ 
nen, so kommt bei den Werken der alten Meister der Unterschied zwischen 
profaner und kirchlicher Musik zur intensiveren Ausprägung; es liegt auf 
ihnen ein aerugo nobilis, und wenn ich so sagen darf, die ehrwürdige Patina 
der Jahrhunderte. 

Regensburg Dr. Karl Wehmanii 

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Zur Urgeschichte des deutschen Kirchenliedes 

Z ur Geschichte des deutschen Kirchenliedes“ einen kleinen Beitrag für 
diesen Kongreß zu spenden, hatte ich s. Z. versprochen. „Zur Urge¬ 
schichte des deutschen Kirchenliedes“: diese Fassung hatte ich vielleicht 
besser und richtiger dem Thema des heutigen kurzen Vortrages geben sollen. 

Der Ursprung des deutschen Kirchenliedes — so lesen wir in dem hüb¬ 
schen Überblick über das Kirchenlied, den unser verehrter Dr. Weinmann 
seiner Geschichte der Kirchenmusik eingefügt hat — „der Ursprung dieser 
allmählich auftauchenden Lieder mag wohl in dem aus der Liturgie wohlbe¬ 
kannten Rufe „Kyrie eleison“ zu suchen sein, den das Volk bald überall, wo 
es nur immer sein religiöses Gefühl spontan zum Ausdruck bringen konnte, 
ertönen ließ: vor und nach der Predigt, bei Bittgängen und Prozessionen, 
sogar vor dem Kampfe.“ 

Auf die dem Musiker naheliegende Frage, nach welchen Melodien das 
deutsche Volk seine „Kyrie eleison“ gesungen habe, versagen der Regel nach 
die Musikhistoriker ebenso wie die Germanisten. Bäumker schreibt (im ersten 
Bande seines Werkes über das kath. deutsche Kirchenlied, 'S. 7): „Melodien 
dieses Volksrufes sind, wie es scheint, nicht aufgezeichnet worden. Es läßt 
sich aber annehmen, daß die verschiedenen Singweisen des ,Kyrie eleison 1 
im gregorianischen Choral, welche das Volk beim sonn- und feiertägigen 
Gottesdienste in der Kirche singen hörte, die Grundlage seiner Rufe bildeten.“ 
Als ich vor einiger Zeit für das Buchbergersche „Kirchliche Handlexi¬ 
kon“ den Artikel „Kirchenlied" zusammenstellte, hatte ich Veranlassung, die¬ 
ser Frage wenigstens für einen Augenblick die Aufmerksamkeit zuzuwenden. 
„Meist hat man diesen Ruf,“ so faßte ich damals kurz zusammen, „mit dem 
Anfang der hl. Messe in Beziehung gebracht und vermutet, er sei nach einer 
Kyrie-Melodie des Ordinarium gesungen worden. Eher wird indes an die 
,Litanei von allen Heiligen 1 zu denken sein, die mit diesen Rufen beginnt und 
schließt, und deren Melodie allgemein bekannt und zum Massengesang besser 
geeignet war. Übrigens haben die reicheren Formen des Kyrie in der Messe 
erst die früheren einfachen syllabischen Melodien verdrängt, nachdem die 
Sängerschule dem Volke diesen Gesang genommen hatte. Auch das Kyrie 
der Messe war ja ursprünglich Litaneigesang.“ Zu diesen Auffassungen war 
ich gekommen durch mündliche Nachrichten, die mir über diesbezügliche 
Forschungen des Universitätsprofessors Dr. Jostes in Münster (Westfalen) 
zugegangen waren. Inzwischen hat Jostes unter dem Titel „Kyrieleison“ eine 
Studie über den Ursprung des deutschen Verses in den Berichten und Mit¬ 
teilungen der Königlichen Vlämischen Akademie zu Gent, (Jahrgang 1908), ver¬ 
öffentlicht. Wie mir scheinen will, hat diese Studie in den Kreisen der 
Kirchenmusiker nicht die Beachtung gefunden, auf die sie Anspruch machen 
kann. Da es mir möglich ist, bei dieser illustren Gelegenheit eines interna¬ 
tionalen musik-wissenschaftlichen Kongresses ihren Hauptinhalt und ihr 
Hauptergebnis, soweit beides für den Kirchenmusiker von Belang ist, zu skiz¬ 
zieren und etwas zu erläutern, mag die Hoffnung berechtigt sein, das Inter¬ 
esse der Freunde der Kirchenmusik und zumal des deutschen Kirchenliedes 
für diese Forschungen zu erweitern und zu vertiefen. — 

Hoffmann von Fallersleben hat in seiner „Geschichte des deutschen 
Kirchenliedes“ die Bedeutung des uns hier interessierenden Rufes „Kyrie elei- 

Ktrcheammik. Jahrbuch. 23. Jahrg. 8 


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Zur Urgeschichte des deutschen Kirchenliedes 


son“ erörtert. Er behauptet mit großer Entschiedenheit, in dieser frühen Zeit 
sei unter Kyrieleison nur der Anfang der römischen Litanei, seien nur immer 
die bloßen Worte: Kyrie eleison zu verstehen. Er lehnt ausdrücklich ab, daß 
für jene Zeit Kyrie eleison die ganze Litanei bezeichnen könne. Die Hoff- 
mannsche Ansicht ist heute weit, man kann vielleicht sagen, fast ausschlie߬ 
lich verbreitet. Aber sie ist unbegründet, sie ist direkt unrichtig. Sie wird 
schon durch die Tatsache widerlegt, daß im Altfranzösischen ,Kyrielle‘ oder 
,Quirielle‘ „Gott und die Heiligen" (Dieu et la Kyrielle) bezeichnet Es ist 
nicht möglich, sich die Entstehung dieser Bedeutung zu erklären, wenn man 
nicht ,Kyrielle' ursprünglich als die Bezeichnung für den Gesamtinhalt der Li¬ 
tanei faßt Es ging mit dem Worte Kyrieleison ebenso wie mit den Aus¬ 
drücken Pater Noster, Credo, Magnificat usw. Der Anfang eines Textes 
wurde der Name für den ganzen Text. Auch heute ist es ja noch ähnlich 
so mit den päpstlichen Enzykliken. Kyrieleison bezeichnet für die uns hier 
interessierende Zeit und Gegend die mit diesen Worten anfangende Litanei; 
und wo nicht ein positiver Grund diese Auffassung verbieten sollte, müssen 
wir auch unter diesem Wort stets die ganze Litanei verstehen. Die gegen¬ 
teilige Anschauung Hoffmanns könnte nur dann Anspruch auf Annehmbarkeit 
erheben, wenn die dreifache Wiederholung des Kyrie eleison, Christe eleison, 
wie sie in der Meßliturgie noch heute geübt wird, ursprünglich wäre und 
wenn sich aus ihr die Litanei entwickelt hätte. Aber das gerade Gegenteil 
ist der Fall. „Es besaß schon," wie Grisar in der Zeitschrift für kath. Theo¬ 
logie, 1885, S. 567 f. bemerkt, „die kirchliche Liturgie, wie sie in den aposto¬ 
lischen Konstitutionen beschrieben ist, in der Vormesse eine Litanei als 
Wechselgesang zwischen dem vorrezitierenden Diakon und dem Volke. In 
derselben wurde vom Diakon für die verschiedensten Anliegen gebetet und 
vom Volke jedesmal mit Kyrie eleison geantwortet... Unser verkürztes neun¬ 
maliges Kyrie in der Messe . . . erscheint als ein ehrwürdiger Rest jener Li¬ 
tanei der Urkirche.“ Der ursprüngliche Wechselgesang blieb in der Kar- 
samstagsliturgie und in den Bittprozessionen bis auf unsere Zeit bestehen, 
und zwar mit derselben Bezeichnung, die er bereits vor mehr als tausend 
Jahren trug. 

In der ersten Periode des Mittelalters, die hier allein in Betracht kom¬ 
men kann, wurden die Bittprozessionen nicht nur regelmäßig an bestimmten 
Tagen des Kirchenjahres gehalten, sondern auch bei sonstigen Anlässen, so 
oft König und Volk sich einen besonderen Schutz und Segen des Himmels 
erflehen wollten. Diese Rogationsprozessionen bekamen ebenfalls den Namen 
„litaniae“. „Notandum autem," so heißt es bei Walafried Strabo (de rebus 
ecclesiasticis, cap. 28), „letanias non tantum dici illam recitationem nominum, 
qua sancti in adjutorium vocantur infirmitatis humanae, sed etiam cuncta, 
quae supplicationibus fiunt, orationes (al. rogationes) appellari." So kam es, 
daß cum letaniis oder letanice procedere die Bedeutung gewann: eine Pro¬ 
zession halten, wobei die Litanei gesungen wurde. Zuweilen wurden vom 
Kaiser oder König mit Vorbedacht außergewöhnliche Prozessionen für das 
ganze Land angesetzt, denen hie und da ein Fasten voraufging. So heißt es 
in einer Bestimmung Pipins aus dem Jahre 764: „Et ob hoc atque pro aliis 
causis nostris opus est nobis illi gratias agere ... Sic nobis videtur, ut abs- 
que jejunio indicto unusquisque episcopus in sua parrochia letanias faciat, 
non cum jejunio nisi tantum in laude dei." Ähnlich bei Karl d. Gr. „Nos 


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Zur Urgeschichte des deutschen Kirchenliedes 115 

autem domino adjuvante, tribus diebus litaniam facimus, id est, Nonis Sep- 
tembris quod fuit Lunis die, incipientes et Martis et Mercoris, dei misericor- 
diam deprecantes, ut nobis pacem et sanitatem atque victoriam et prospe- 
rum iter tribuere dignetur ... Et a vino et carne ordinaverunt sacerdotes 
nostri, qui propter infirmitatem aut senectudinem aut juventudinem abstinere 
poterant, ut abstinuissent ... et interim quod ipsas litanias faciebant, dis- 
calceati ambulassent.“ In solchen Litaneien kamen gewöhnlich auch Gebets¬ 
anrufungen für den König vor; z. B. „pro summo pontifice Nicolao, Ludovico 
rege, Hemma regina, prole regia, judicibus et exercitu Francorum et Aleman- 
norum.* Aus dieser Verbindung des religiösen und weltlichen Momentes er¬ 
klärt es sich, warum man auch bei politischen Ereignissen so gern zur Li¬ 
tanei die Zuflucht nahm, und warum man sie auch vor und nach der Schlacht 
sang. Im Berichte vom Siege Arnulfs über die Normannen (891 bei Löwen) 
heißt es: „Eodem in loco (auf dem Schlachtfeld) letanias celebrare rex prae- 
cipit; ipse cum omni exercitu laudes (Akklamationen!) deo canendo proces- 
sit, qui talem victoriam suis tribuit, ut uno homine tantum occiso de parte 
christianorum, compertum est, tanta millia hominum ex altera parte perie- 
runt“ Arnulf sang also (allein oder unterstützt von einigen Sängern) vor, 
und das ganze Lager antwortete. Das war die allgemeine Gewohnheit. So 
berichtet auch das Ludwigslied von Ludwig III. nach dem Siege über die Nor¬ 
mannen im Jahre 881. Aus dieser Gewohnheit fällt übrigens auch Licht auf 
eine Stelle, die m. E. nicht selten falsch gedeutet wird. Cosmas Pragensis 
berichtet uns (irrig zum Jahre 967; es war im Jahre 973): Als der Mönch 
Dethmar zum Bischöfe von Prag eingesetzt wurde, „juxta altare sancti Viti 
intronizatur ab omnibus, clero modulante: Te Deum laudamus. Dux autem 
et primates resonabant: Christe kinado, kyrie eleison und die heiligen alle 
helfant uns, kyrie eleison et caetera; simpliciores autem et idiotae clamabant 
kyrieleison.* Die Geistlichkeit singt das Te Deum. Nachher stimmt Herzog 
Boleslaus II. von Böhmen, auf dessen Wunsch hin Dethmar Bischof gewor¬ 
den war, mit seinen Großen an** Christe kinado, kyrie eleison und die hei¬ 
ligen alle helfant uns kyrie eleison et caetera. Die Worte „und die heiligen 
alle helfant uns* wurden wohl nicht so, wie sie dastehen, gesungen. Sie 
sind vielmehr wahrscheinlich eine kurze Zusammenfassung der verschiedenen 
Heiligen, die angerufen werden. Das „et caetera* des Cosmas Pragensis 
scheint ebenfalls anzudeuten, daß hier von der allbekannten Litanei die Rede 
ist Die einfachen und gewöhnlichen Leute (simpliciores et idiotae), die den 
lateinischen Text der Litanei nicht kannten, clamabant kyrieleison, „fielen, so 
würden wir heute sagen, jedesmal bei den Responsorien der Litanei mit ihrem 
Gesänge ein.“ 

Die Worte „Litaniae* und „Kyrieleison“ waren von altersher in den 
deutschen Landen Synonyma. Daran ändern auch die paar Stellen nichts, 
die Hoffmann für seine gegenteilige Meinung anführt, z. B. aus der Regel des 
hl. Benedikt, aus den Capitula monachorum Sangallensium, aus der Ur¬ 
kunde des Papstes Sergius III. von 910. Zu den Erwägungen des Professors 
Jostes möchte ich hier vom Standpunkte des praktischen Musikers aus bei 
fügen, daß eine Reihe von Texten, die über das Kyrieleison handelt, geradezu 
als unverständlich erscheint, wenn man sie von einem in einfacher Melodie 
oft und oft wiederholten Kyrieleison bezw. Christeleison verstehen soll. Die 
Sache liegt vollständig anders, wenn es sich um ganze Litaneien handelt. 

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Zur Urgeschichte des deutschen Kirchenliedes 


Hier ist Abwechslung in Text und Melodie, in Wort und Stimmung. Dazu 
erinnere man sich der psychologisch und kulturhistorisch interessanten Vor¬ 
liebe des breiten Volkes für Litaneiformularien bei Gebet und Gesang. 

Jostes macht übrigens darauf aufmerksam, daß man bei der Gleichung 
Kyrieleison-Litaniae nicht ohne weiteres annehmen dürfe, es sei als Kyrielei- 
son immer die ganze Litanei gesungen worden. Man mag sie, zumal wenn 
sie improvisiert werden mußte, zuweilen gekürzt haben, wie man den Gesang 
der Volkslieder auf eine oder wenige Strophen beschränkt, wenn man den 
Text nicht weiter kennt. Jedenfalls waren aber die charakteristischen Stich¬ 
worte wie z. B. Sancta Maria, Peccatores, Agnus Dei allgemein bekannt. Der 
Einwand Hoffmanns, obschon das Kyrie eleison nur zwei Worte seien, so 
seien diese doch dem Volke fremd und unverständlich gewesen und es habe 
gewiß lange Zeit schwer gehalten, ihm das Singen oder vielmehr Rufen der¬ 
selben beizubringen, dieser Einwand wird von Jostes mit Recht zurückge¬ 
wiesen. Jostes betont, daß auch heute noch katholische Bauern, ohne Latein 
und Griechisch studiert zu haben, den Inhalt der Litanei verstehen und, auch 
ohne in der Schule viel Singen gelernt zu haben, frisch am Litaneigesang sich 
beteiligen. Bei der Häufigkeit des Litaneigesanges lag die Sache im frühen 
Mittelalter noch leichter wie heute. 

Hier sei nun als Schlußfolgerung der Satz ausgesprochen, der dem Kirchen¬ 
musiker sehr wertvoll ist, obwohl der Germanist Jostes ihn nicht ausdrücklich 
formuliert: Das „Kyrieleison“, das als Vorbote und Vater des deutschen Kirchen¬ 
liedes zu gelten hat, ist die Allerheiligenlitanei mit der damals übli¬ 
chen, vielleicht gegen die heutige Weise noch einfacheren Choral¬ 
melodie. Die Litanei war der populärste, beliebteste, meist gebrauchte Ge¬ 
sang des 9. Jahrhunderts. Wer auch nur etwas singen konnte, konnte we¬ 
nigstens die Litaneiresponsorien singen. Jetzt verstehen wir, weshalb man 
für jene Kyrieleison kaum Gesangweisen aufgezeichnet findet: die Melodie 
der Litanei war so bekannt, — damals noch mehr wie heute — daß man 
sie wirklich nicht aufzuzeichnen brauchte. 

Mit ein paar Sätzen, meine verehrten Herren, lassen Sie mich nun noch 
auf die sog. »Leisen“ zu sprechen kommen. Man hat wohl meistenteils als 
die erste Phase in dem mit unseren Kyrieleison beginnenden Entwicklungs¬ 
prozeß des deutschen Kirchenliedes den in der zweiten Hälfte des 9. Jahr¬ 
hunderts auftretenden Versuch bezeichnet, unter die Jubilationen dieser Ky¬ 
rieleison deutsche Texte zu legen, ein ganz ähnliches Verfahren wie bei den 
Sequenzen Notkers; von dem am Schluß beibehaltenen und immer wieder¬ 
kehrenden „Kyrieleis“ hätten dann diese Gesänge den Namen »Leisen“ er¬ 
halten. Die Beziehung der »Leisen“ zum Kyrieleison oder, was dasselbe sagt, 
zur Allerheiligenlitanei ist aber noch viel enger, sie ist geradezu organisch. 
In bezug auf die Metrik haben wir in den ältesten Leisen wie im Otfrieds- 
liede die Kurzverse mit den je vier Hebungen, die wir in den Responsorien 
der Litanei vorfinden: T& rogämus aüdi nös. Oder Mlseröre nöbis. Oder 
Christe aüdl nös. Schließlich ist ja das Kyriö elölsön und Christa eleisön 
selbst jedesmal ein Otfriedscher Kurzvers, wie ja schon durch das dem 
Kirchenmusiker geläufige Petruslied bekannt ist. 

Ein zweites. Wie sich das Kyrie der Messe auswächst zu den Tropen, 
in ähnlicherWeise entfaltet sich um die gleiche Zeit die Allerheiligenlitanei 


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in deutscher Sprache zu den „Leisen“. Es ist wohl kein Zufall, daß Otfricds 
Lehrer Rhabanus Maurus die Allerheiligenlitanei in lateinische Distichen um- 
goß. Die ältesten Kyrietropen der Messe, des Rhabanus Maurus Distichen 
zur Litanei und die ältesten Leisen stehen in derselben Reihe. 

Und endlich drittens. Die Vermutung ist vielleicht nicht zu gewagt, 
daß die Melodie der ältesten Leisen keine andere war als die der Respon- 
sorien aus der Allerheiligenlitanei. Es ist wahr, das älteste uns mit der 
Neumenschrift erhaltene deutsche Kirchenlied, das bereits erwähnte St. Petrus¬ 
lied, hat schon eine andere, etwas reichere Melodie. Die historische Ver¬ 
kettung der Zusammenhänge zwingt uns fast dazu, in den uns erhaltenen 
Kyrietropen nach Ähnlichkeiten mit den Neumen des Petrusliedes zu for¬ 
schen und aus dem melodischen Material eines Kyrietropus heraus eine 
Transskription dieser Neumen zu versuchen. Vielleicht kommt man so zu 
sichereren Resultaten, als die sind, die Böhme und später Mathias mit ihren 
Entzifferungen des Petrusliedes erreichen konnten. 

Ich mag diese anspruchslosen Bemerkungen zur Urgeschichte des deut¬ 
schen Kirchenliedes nicht zu Ende führen, ohne dem Gefühle lebhafter Freude 
darüber Ausdruck zu geben, daß durch die eindringenden, jahrelangen Stu¬ 
dien eines Germanisten die Musikwissenschaft in einem wichtigen Punkte 
ihrer gelehrten Arbeit so wesentliche Förderung gewonnen hat. Wenn ich 
recht sehe, sind die Forschungen von Jostes geeignet, uns für die Aufklärung 
der ersten Zeiten des deutschen religiösen Volksgesanges neue Wege zu zei¬ 
gen. Jedenfalls stellen sie uns neue Probleme. Wir haben Grund, die bis¬ 
her landläufigen Urteile über die Entstehungsgeschichte des deutschen Kirchen¬ 
liedes zu revidieren. 

Paderborn Dr. Hermann Müller 


Ober gregorianischen Choral 

E s war ein glücklicher Gedanke des vorbereitenden Komitees für die Haydn¬ 
feier, unter die künstlerischen Darbietungen dieser Tage eine Vorführung 
gregorianischer Choräle aufzunehmen. 

Haydns Beziehungen zum liturgischen Gesang der Kirche sind bisher 
noch nicht untersucht worden. Ohne Zweifel hat der Knabe beim Schul¬ 
meister Frankh in Hainburg die erste Bekanntschaft mit ihm gemacht; das 
gesangliche Repertorium der Stadtkirche wird nicht ausschließlich aus Figural- 
musik bestanden haben. Wir erfahren von Haydn selbst, daß er schon „in 
seinem sechsten Jahre ganz dreist einige Messen auf dem Chor herabsang". 1 ) 
Jedenfalls hat Haydn mit sechs Jahren auch schon Choral gesungen. Im 
Kapellhaus zu St. Stephan war der musikalische Betrieb ein ungleich inten¬ 
siverer und reichhaltigerer. Der tägliche Chordienst war auch auf chorali- 
sche Leistungen angewiesen und Haydn mußte da mithelfen. Inwiefern er in 
den späteren Jahren, welche die Früchte seines Genies und unermüdlicher 
Arbeit reifen sahen, mit dem Choral in Verbindung blieb, wird sich dann am 
sichersten feststellen lassen, wenn einmal seine gesamten Kirchenwerke ih 
kritischer Neuausgabe vorliegen. Der kindlich fromme Sinn des großen Man- 


>) Vgl. C. F. Pohl, Jos. Haydn, Berlin 1875, Band 1, S. 21. 


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nes berechtigt uns zur Annahme, daß der Knabe seinen Choral andächtig ge¬ 
sungen hat. Ohne Zweifel ist daher eine ChoralaufFahrung bei einer Haydn¬ 
feier am rechten Platze und wäre es nur, um die Erinnerung an seine Knaben¬ 
zeit zu wecken. 

Indem wir solcherart das Andenken Haydns ehren, verfolgen wir noch 
einen anderen Zweck. Wir tagen unter den Auspizien der internationalen 
Musikgesellschaft, welche vorzüglich der wissenschaftlichen Pflege der musika¬ 
lischen Kunst dienen will. Unter den Arbeitsgebieten der Musikwissenschaft 
ist aber keines, das sich an Umfang, Bedeutung und Sicherheit der Resultate 
mit der musikgeschichtlichen Forschung messen kann. Wie die Dinge liegen, 
wird die Historie noch für lange Zeit die führende Rolle in der Wissenschaft 
von der Musik einnehmen; die Verhandlungen unseres Kongresses illustrieren 
dies Verhältnis zur Genüge. Unter diesem Gesichtspunkte möge die heutige 
Vorführung als eine historische Demonstration gelten. Sie soll die interes¬ 
sante und ruhmreiche Kunst des liturgischen Chorals in alter Zeit Ihrem Ver¬ 
ständnis und, wie wir hoffen, auch Ihrer Wertschätzung näher bringen. 

Ein hochherziger Entschluß des gegenwärtigen Oberhauptes der katho¬ 
lischen Kirche hat diese Kunst nach langer Vergessenheit der Übung der Ge¬ 
genwart wiedergeschenkt. Die vatikanische Ausgabe des traditionellen Cho¬ 
rals, obschon noch nicht in allen Teilen vollendet, schickt sich zum Einzug 
auf unsere Kirchenchöre an. Sie wird eine Umgestaltung des Choralunter¬ 
richts und der Choralpraxis zur Folge haben, und wenn verständnisvoll 
durchgeführt, wird diese Reform der Liturgie und der musikalischen Kunst 
zum großen Nutzen gereichen. Für diese Reform möchten wir werben und 
in Ihnen die Überzeugung befestigen, daß das Choralwerk Pius X. uns eine 
eigenartige Welt von hoher Schönheit und künstlerischer Weisheit vermittelt. 
So möge unsere Aufführung auch eine Huldigung sein für die verehrungs¬ 
würdige Person des Gesetzgebers der gregorianischen Restauration. 

Wer die erstaunlich große Zahl liturgischer Melodien des Mittelalters 
mit kritischem Blick überschaut, wird sogleich von einem Reichtum an For¬ 
men überrascht, wie ihn weder die Zeit der Polyphonie noch eine andere 
Periode kirchlicher Gesangskunst zu Tage gefördert hat. Wenn man einen 
Maßstab für die Wertung einer Kunst aus der Fähigkeit ableitet, innerhalb 
der durch ihre Grundlagen gezogenen Grenzen — in unserem Falle der Ein¬ 
stimmigkeit — das ganze Gebiet möglicher Ausdrucksformen zu durchlaufen, 
dann muß dem gregorianischen Gesänge eine Palme zuerkannt werden. 

Unter den einfachen Formen sind diejenigen die bekanntesten, die noch 
heute vom Altäre her aus dem Munde des Priesters erklingen. Trotz aller 
Wandlungen der musikalischen Kunst hat die Kirche sie nicht abgeschafft, 
so daß niemand im Zweifel sein kann, welches der eigentliche liturgische 
Gesang ist. Der amtierende Geistliche singt niemals eine andere Weise als 
eine gregorianische. Von solchen Formen geht die Stufenleiter der Choral¬ 
melodien weiter, alle Grade der Verbindung von liturgischem Wort und Ton 
durchmessend, bis zu den höchsten Inspirationen solistischer Lyrik und für 
alle Formen hat die Kirche einen unbestrittenen Platz in ihrer Liturgie ge¬ 
schaffen. 

Halten wir uns an die Stücke, die nur für unsere Kirchensänger in Be¬ 
tracht kommen, so lassen sich alle Choralformen einteilen in solche, die der 
gregorianischen Ordnung des Kirchengesanges angehören und solche, die 


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Ober gregorianischen Choral 

außerhalb dieser Ordnung stehen. Diese Teilung haben wir unserer Vor¬ 
führung zu Grunde gelegt. Gern hatten wir alle Stile der Reihe nach zu 
Worte kommen lassen; die Kürze der Zeit’zwingt uns mit einigen Proben 
uns zu bescheiden. 

Außerhalb der gregorianischen Ordnung befinden sich diejenigen Stücke, 
die wir heute als Ordinarium Missae zusammenfassen und die im Kyriale Va¬ 
ticanum enthalten sind. Manche darunter sind sehr alt, andere aber sind 
jüngeren Datums. Sie wechseln bekanntlich in keiner Messe ihren Text und 
haben daher ihren Namen. Bei ihrer Auswahl für die Editio Vaticana ist 
der reiche Schatz von Gesängen mitherangezogen worden, den die Hand¬ 
schriften des Mittelalters überliefern. Unsere ältesten Aufzeichnungen stammen 
aus dem 9. Jahrhundert. Schon die Dokumente seit dem 10. Jahrhundert ent¬ 
halten eine nicht geringe Zahl von Stücken des Ordinarium Miss«, von denen 
manche in den Gemeinbesitz unseres Volkes eingehen könnten, wenn man 
schon in der Volkschule ihre Einführung betreiben wollte. Diejenigen, die 
Sie sogleich hören werden, sind so ausgewählt, daß das Kyrie, dasjenige der 
Ostermesse, im 10. Jahrhundert überliefert ist; das Sanctus stammt aus dem 
12. Jahrhundert, das Agnus aus dem 13., das Gloria aus dem 16. Jahrhundert 

Das Osterkyrie erfreute sich im Mittelalter einer großen Beliebtheit, die 
sein heller, aufstrebender Charakter hinreichend erklärt In kleinem Rahmen 
bietet es eine interessante Modulation vom dritten Kirchenton, in dem es be¬ 
ginnt (wohl im Anschluß an die vorausgehende Allerheiligenlitanei am Kar- 
samstage), zum achten Kirchenton, der im Christe angeschlagen wird, im 
letzten Kyrie sieghaft zum Ausdruck kommt und fast wie Dur klingt Dieses 
letzte Kyrie legt gewissermaßen dem Zelebranten die alte Intonation des Oster¬ 
gloria in den Mund. Es war das ein beliebtes Mittel zu einer Zeit, in wel¬ 
cher der Zelebrant noch nicht den Ton von der Orgel empfing. 

(Vortrag des Kyrie der Missa I. des Graduale Vaticanum) 

Das Sanctus der Missa V. ist von einem anderen Charakter; weniger 
aufstrebend, mehr in sich gekehrt, atmet es eine stille Andacht, der nur beim 
Hosanna ein kurzer Aufschwung sich zugesellt. Im ganzen ist es ein prächtiges 
Beispiel des IV. hypophrygischen Kirchentones. 

(Sanctus der Missa V.) 

Ein merkwürdiges Choralstück ist das Agnus Dei der Fastenzeit. Im 
V. lydischen Kirchenton geschrieben, ist es eine rechte Durmelodie mit seiner 
Vorliebe für die Stufen des Dreiklangs und seinen Ruhepunkten auf der Do¬ 
minante. Wer sich daran stoßen möchte, daß eine so helle Melodie für die 
Fastenzeit bestimmt ist, den möchte ich an das Wort des Herrn erinnern: Cum 
jejunatis, nolite fieri sicut hypocritae, tristes. 

(Agnus Del der Missa XVD.) 

Das Gloria, auf welches unsere Wahl fiel, gehört zu den jüngsten Be¬ 
standteilen des ganzen Ordinarium Missae der Editio Vaticana; es stammt, 
wie bemerkt, aus dem 16. Jahrhundert Am Ende des Mittelalters hat die 
Choralkomposition nicht geruht, wie man meist glaubt Jüngst sind eine 
Reihe solcher Stücke aus dem 15. Jahrhundert veröffentlicht worden. 1 ) Süd¬ 
deutsche Bibliotheken, wie München und Stuttgart, jedenfalls auch solche in 

*) Vgl. Dr. Marxer: Zur spätmittelalterlichen Choralgeschichte St Gallens, 1908. 
(Heft IO der Publikationen der gregorianischen Akademie zu Freiburg i. d. Schweiz,) 


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Ober gregorianischen Choral 

Österreich, sind nicht arm an spatmittelalterlichen Choralwerken. Ihre Rehabili¬ 
tierung in der heutigen Liturgie empfiehlt sich jedoch nicht Sie sind voll 
von großen und kleinen Sprüngen, die uns unnatürlich klingen, von wenig 
bedeutenden Gängen in die Höhe und Tiefe und mischen mensurale und cho- 
ralische Elemente bunt durcheinander, gehören also der Gattung der Cantus 
fractus an. Eines der wenigen brauchbaren Stücke dieser Periode bildet aber 
das Gloria der Missa VIII. im Graduale Vaticanum. Seine Tonart ist wieder 
lydisch, merkwürdigerweise mit konsequenter Vermeidung der vierten Stufe 
der Tonleiter (h respektive b ); nur das Amen bringt einmal den Ton b. 
Ebenso hat seine einfache syllabische Faktur, wie der Aufbau ausschließlich 
aus Gängen von Tonika zur Dominante und umgekehrt, ihm eine große Sym¬ 
pathie überall da erworben, wo man es unseren Kirchensängem zu kosten 
gab. Ein interessantes Gegenstück dazu ist das Gloria der Missa XV. (in 
festis simplicibus), die älteste Gloriamelodie, wie unser Gloria die jüngste ist 
Beide ähneln sich in der Faktur, sie sind aber in bezug auf die Entwicklung 
der Tonarten Antipoden. Zwischen beiden liegt eine ganze Welt musikali¬ 
scher Arbeit von vielleicht acht Jahrhunderten. Hören Sie die jüngere Weise. 

(Gloria der Missa VIII.) 

Von einer Credomelodie müssen wir leider absehen, doch möge das 
tonartliche Verhalten der Choralmesse mit einem Worte berührt werden. Die 
mehrstimmige Messe mit und ohne Instrumentalbegleitung aus alter und neuer 
Zeit wahrt in der Regel für alle ihre Teile die Einheit der Tonart. Diese 
Regel ist im 15. Jahrhundert aufgekommen, als die Komponisten alle Teile 
einer Messe über dasselbe Thema zu komponieren begannen. Die Identität 
des Themas führte die Gleichheit der Tonart für alle Meßteile herbei. Vor¬ 
her war man um eine derartige Einheit nicht besorgt. Im Choralordinarium 
herrscht eine tonartliche Verwandtschaft höchstens für Kyrie und Gloria, die 
in der Liturgie unmittelbar aufeinanderfolgen und auch in den ältesten Bo¬ 
chern meist hintereinander geschrieben sind. Die Stocke des Ordinarium 
Missae sind auch zu verschiedenen Zeiten der Liturgie eingefügt worden und 
Gloria und Credo fehlen noch heute in manchen Messen. Die Erkenntnis, 
daß aus den fünf Gesangstücken der Messe, deren Text sich gleich bleibt, 
eine zyklische musikalische Form sich bauen ließe, ist eine Errungenschaft 
der Polyphonie des 15. Jahrhunderts. 

An melodischer und konstruktiver Einfachheit mit dem soeben gehörten 
Gloria verwandt ist die Sequenz Veni Sancte Spiritus. Sie stammt aus der 
Zeit um 1200 und ist ein treffendes Beispiel für die zweite Periode der Se¬ 
quenzkomposition, die durch Gleichbau der Strophen, Reime, überhaupt 
durch Annäherung an die Liedform gekennzeichnet ist. 

(Sequenz Venl Sancte Spiritus) 

Die Ordnung des römischen Kirchengesanges, welche die Voraussetzung 
der Choralübung der lateinischen Welt im Mittelalter und in der Neuzeit 
bildet, muß, solange nicht neue Funde die bisherigen Forschungen Umstürzen, 
immer noch in den Pontifikat Gregor I. des Großen, also in die Zeit um 600 
gesetzt werden. Ihre Aufgabe war, die berufliche Arbeit der liturgischen 
Sänger zu fixieren und zu normieren, der Solisten wie des Chores. Die Chor¬ 
partien, das heißt die Stücke, welche ausschließlich dem Chor oberantwortet 
sind, heißen auch Antiphonen. In der Messe gehören dazu der Introitus und 


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die Comimmio; sie werden in der liturgischen Sprache Antiphona ad Introitum 
und ad Communionem genannt Die Solostocke stellen in der Regel größere 
Anforderungen, wie sich das von selbst versteht 

Da sie auf der Wechselwirkung von Solo und Chor beruhen, heißen 
sie auch responsoriale Stocke. Dahin gehören das Gradualresponsorium, 
meist Graduale genannt, das Alleluja mit seinem Vers und der Tractus. Das 
Offertorium steht in der Mitte zwischen beiden Gruppen, es heißt Antiphona 
ad Offertorium, bewegt sich aber aus Gründen, die ich hier nicht darlegen 
will, manchmal in der Ausdruckssphäre des Sologesanges, kann daher heute 
noch im Notfälle von einem Solisten gesungen werden. 

Der Introitus Exsurge Domine vom Sonntag Sexagesimae und die Pfingst- 
communio Factus est repente mögen Ihnen einen Einblick in die musikalische 
Eigenart dieser antiphonischen Meßgesänge vermitteln. Ihre melodische Fak¬ 
tur fließt aus ihrer Bestimmung als Chorgesang hervor; niemals stellen sie 
Aufgaben, die unsere Kirchenchöre nicht bewältigen können, wenn sie nur 
ordentlich angeleitet sind. Ich muß mir versagen, die hervorragend geist¬ 
volle Interpretation des liturgischen Textes in beiden Stücken zu beleuchten. 
Der Introitus ist eine flehende Bitte um den Schutz des Herrn, innig und 
warm und doch bescheiden und zurückhaltend. Im Gegensatz dazu ist die 
Communio voll von Feierklängen und freudig gehobener Stimmung. Beachten 
Sie auch den Unterschied der Tonarten 1 

(Introitus Exsurge and Communio Factus est repente) 

Diejenigen Meßgesänge, welche unter wesentlicher Mitwirkung des So¬ 
listen zustande kommen, hatten das Schicksal, am ehesten und am längsten 
verkannt und unbillig behandelt zu werden. Die historische Grundlage der 
für sie charakteristischen Melismen, Vokalisen, ruht in den Beziehungen, 
welche den römischen Kirchengesang der alten Zeit mit dem liturgischen Ge¬ 
sang der orientalischen Kirchen verbinden, der Griechen, Syrer, Kopten und 
Armenier, und indirekt mit dem jüdischen Synagogalgesang. Vielfach ent¬ 
halten die gregorianischen Solostücke altchristliches Gut. Dies Resultat der 
neueren Forschungen ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was lange Zeit 
unseren guten Kirchensängern immer wiederholt wurde, um sie mit Schrecken 
vor den ausgedehnten Tonverbindungen über einem Vokal zu erfüllen. Das 
Mißtrauen gegen die tonreiche Melodieführung solcher Lieder, an denen sich 
im ganzen Mittelalter kein Mensch gestoßen hat, entsprang derselben Wurzel, 
die am Ende des 16. Jahrhunderts den Kampf gegen den Kontrapunkt aus 
sich hervorgehen ließ, der infolge der Bekanntschaft mit der Antike verän¬ 
derten Auffassung des Verhältnisses von Wort und Ton in der Gesangs¬ 
melodie. Die Abneigung gegen die Polyphonie ist längst überwunden, die¬ 
jenige gegen die Choralmelismatik noch nicht. Und doch hat die neuere 
Forschung dargetan, daß die römischen Kantoren der alten Zeit einen 
feinen Sinn für melodische Schönheit und kunstgerechten Aufbau längerer 
melodischer Entwicklungen besaßen. Gerade darin überragten sie ihre Kol¬ 
legen im Orient und bis zur Stunde hat die hochausgebildete melismatische 
Praxis der orientalischen Liturgien nichts aufzuweisen, was sich an geistvoller 
Struktur, maßvoller und doch wirksamer Melodik mit den Schöpfungen oder 
Bearbeitungen der römischen Meister vergleichen ließe. Die gregorianischen 
Sololieder sind durchaus nicht arm an Wendungen, die zu den schönsten 


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Ober gregorianischen Choral 

Eingebungen des Genius gehören. Wo aber aus einem vernünftigen Grunde 
diese Solostacke sich nicht regelrecht auffahren lassen, da gestattet die Kirche, 
die gütige und nachsichtige Mutter, daß man mit der Rezitation ihrer Texte 
sich begnüge. Wer also über die Länge mancher Melismen in Klagen aus¬ 
brechen möchte, der täte besser daran, der kirchlichen Behörde für diese be¬ 
queme Lösung aller Schwierigkeiten zu danken. Wenn manche aber Dinge 
tadeln, die zu studieren sie zu bequem sind oder zu deren Verständnis ihre 
Bildung nicht ausreicht, so sollte man dafür nicht die Kirche oder ihr Ge¬ 
sangbuch verantwortlich machen. Es ist auch keine unbillige Forderung, daß 
diejenigen Sänger, die das ehrenvolle Amt des liturgischen Vorsängers be¬ 
kleiden, sich auf ihre Leistung gehörig vorbereiten. 

Wir haben aus der reichen Menge prachtvoller Solostücke drei ausge- 
wählt, die Ihnen als Muster ihrer Gattung gelten können. 

(Offertorium Flliae regtun, Graduate Benedictas, Allelula f. Adorabo) 

Die von der Leogesellschaft herausgegebene Zeitschrift „Die Kultur“ 
hat jüngst in einem an goldenen Gedanken reichen Aufsatz der liturgischen 
Renaissance unter Gebildeten und Volk das Wort gesprochen. Das Verständ¬ 
nis des Wunderbaues der katholischen Liturgie solle in weitere Kreise ge¬ 
tragen werden, die meist die erhabensten und schönsten Riten ahnungslos 
an sich vorüberziehen lassen. Es ist eine oft gemachte Erfahrung, daß der 
traditionelle Choral sich am ehesten die Sympathien unserer Kirchensänger 
erobert und bewahrt, wenn sein Studium von Darlegungen liturgiegeschicht¬ 
licher Art begleitet wird. Auch einfache, von hoher Gelehrsamkeit wenig be¬ 
rührte Kirchensänger nehmen die Erklärung der Entstehung der Choralfor¬ 
men aus der Liturgie mit großem Interesse entgegen. Daß die Kirche allen 
musikalischen Stilen von ernster und würdiger Haltung wohlwollend gegen¬ 
übersteht, hat das Motu proprio Pius X. vom 22. November 1903 wieder aufs 
klarste betont Daß sie aber außerdem eine Gesangsart besitzen muß, die 
nicht auf den Geschmack dieses oder jenen Volkes, dieser oder jener Zeit 
zugeschnitten ist, sondern über den Nationalitäten und Generationen hinaus 
wahrhaft katholischen Charakter aufweist, die geographische und historische 
Einheit der Kirche symbolisiert, und zwar diejenige, welche das Ineinander¬ 
greifen von Liturgie und Gesang noch heute in bewunderungswürdiger Weise 
zur Anschauung bringt, solchen Gedanken wird kein katholisch fühlender 
Mann seine Zustimmung versagen. Auf den Besitz und die Pflege einer ge¬ 
sanglichen Form, die sich verklärend neben die Einheit in Lehre und Leben 
stellt, kann die Kirche nicht verzichten, solange sie dem Gesang eine Heim¬ 
stätte bei sich gewährt Man möge von dem hohen Wert dieser Idee des 
einen liturgischen Gesanges nicht zu gering denken. Und wenn auch einmal 
die zentrale Behörde auf diesen einheitlichen liturgischen Gesang verzichtete, 
was ausgeschlossen ist, dann wäre ein erhabenes Band zerrissen, das die 
Mitglieder der Kirche aneinanderschließt. Ich schätze die Empfindungen eines 
kirchenmusikalischen Patrioten; ich gestehe aber, wenn man von Wien nach 
Paris kommt, und von da nach Amerika, Asien und Afrika und überall die¬ 
selben liturgischen Lieder hören kann, dann überkommt auch den harten 
Mann jene unaussprechliche Stimmung, die zu Tränen der Freude führt 
Diese Einheit läßt sich aber nur durch den lateinischen Choral hersteilen. 

Das ist gerade einer der Ruhmestitel des Chorals, daß er nicht die 
Empfindungen dessen widerspiegelt, der ihn zufällig ausführt; seine musika- 


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Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges 


123 


lische Sprache ist eine objektive, unpersönliche; sie hat als Ausdruck der gan¬ 
zen Christenheit zu gelten, für die an demselben Feste dieselben Gesänge vor¬ 
gesehen sind. 

Papst Pius X. hat in dem erwähnten Motu proprio den Satz ausge¬ 
sprochen, daß eine Kirchenmusik des Heiligtums um so würdiger sei, je mehr 
sie sich dem Choral nähert Dieses Wort hat mancherorts befremdet. Und 
doch birgt es eine bedeutsame geschichtliche Wahrheit. Die kunstgerechte 
Pflege des Chorals im Sinne der Kirche und ihrer Liturgie ist das wirksamste 
Schutzmittel gegen die Verweltlichung der Kirchenmusik. Der andächtig aus- 
geführte Choral enthält eine kräftige Einladung zur inneren Sammlung, zu 
derjenigen Gesinnung, mit welcher man den Geheimnissen der Liturgie folgen 
soll. Für nervöse Leute ist er freilich nicht geschaffen, auch nicht für solche, 
die in der Kirche nur künstlerische Anregungen suchen oder gar eine per¬ 
sönliche Eitelkeit irgend welcher Art befriedigen möchten. Wir alle aber 
wissen, dab seine tausendjährigen Klänge Millionen von Christen erfreut und 
zur Andacht gestimmt haben und dab er noch seine ungeschwächte Kraft 
dann beweisen wird, wenn unsere Nachkommen längst uns mit all unseren 
Werken zu Grabe getragen haben. Sein unlösbarer Zusammenhang mit der 
Liturgie bietet ihm die Gewähr der irdischen Unsterblichkeit; der Choral ist 
die einzige musikalische Form, die gewissermaben sich sub specie aeternitatis 
betrachten läbt. 

Wenn Sie mich aber fragen, wie die Pianische Choralform am wirk¬ 
samsten eingeleitet und durchgeführt werde, so kann ich Ihnen hier nur das 
eine sagen: Lassen Sie überall Choralkurse abhalten, damit die Chorregenten 
den rechten Choralvortrag lernen und ihren Sängern vermitteln können. Diese 
Aufgabe ist durchaus nicht so schwer, wie manche glauben, aber sie lohnt 
reichlich die darauf verwandte Mühe. 

Möchte doch ein jeder von uns in aufrichtiger Hingabe am groben Re¬ 
formwerke des Vaters der Christenheit mitwirken! Warum stehen so viele 
abseits und sind mübig? Gilt es nicht der Wiedererweckung und der Be¬ 
festigung der Musica perennis der Kirche? Sie führt uns ja nicht auf reiz¬ 
lose Einöden, sondern zu lichten Höhen, in denen die Kunst und die himm¬ 
lischen Gnaden zusammenflieben. 

Freiburg (Schweiz) Dr. Peter Wagner 


Zur Geschichte des allrussischen Kirchengesanges 1 ) 

I rre ich nicht, so war es J. Thibaut, der in seiner Schrift: Origine byzantine 
de la notation neumatique de l’Eglise latine (Paris 1907) zum erstenmal die 
alte Tonschrift der Russen für einen Zweig der groben Familie an Gesangston¬ 
schriften in Anspruch nahm, die wir als Neumen bezeichnen. Er betonte 
(S. 35 ff.) den byzantinischen Ursprung des russischen Kirchengesanges und 
führte in gleicher Weise seine Tonschrift auf die byzantinischen Neumen zu¬ 
rück. Unter den photographischen Abbildungen, die er seinem Buche beigab, 
figurieren drei Proben russischer liturgischer Schrift aus alter und neuer Zeit. 

‘) Oskar von Riesemann, Die Notationen des Alt-Russischen Kirchen¬ 
gesanges. (Publikationen der Internationalen Musikgesellschaft. Beihefte. Zweite Folge 
VIII. Leipzig, Breitkopf und Härtel. 1909. 108 Seiten mit 12 photograph. Beilagen. Preis 
5 Mark.) 


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124 Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges 

Eine detaillierte Untersuchung derselben lag freilich nicht in Thibauts Ab¬ 
sicht. Nur mit neueren gesanglichen Verhältnissen der russischen Liturgie 
befaßt sich Rebours’ Werk: Trait£ de Psaltique, thdorie et pratique du chant 
dans l’Eglise grecque, Paris 1906 in Appendice II. Dasselbe tut die Abhand¬ 
lung von L. Sacchetti: Le chant religieux de l’lglise orthodoxe russe, im Be¬ 
richte des internationalen musikhistorischen Kongresses zu Paris 1900 S. 134 ff. 
Sacchetti konstatiert Analogien zwischen altrussischer, byzantinischer und 
lateinischer neumatischer Schrift, weist jedoch der altrussischen Notierung 
einen eigenen Charakter zu. 

Unabhängig von diesen Gelehrten, deren Schriften ihm Oberhaupt un¬ 
bekannt geblieben sind, legt O. von Riesemann 1 ) eine dankenswerte Abhand¬ 
lung Ober den Gegenstand vor. Er erklärt, nicht auf selbständige Neuforschun¬ 
gen das Hauptgewicht zu legen, sondern auf eine Zusammenstellung und Bear¬ 
beitung der russischen Literatur, die sich namentlich seit der Mitte des 19. Jahr¬ 
hunderts dem Gegenstand mit Eifer zugewendet hat; er zählt die wichtigsten 
Schriften und Abhandlungen auf, aus denen er schöpfte. Auch wer, wie der 
Unterzeichnete, außerstande ist, in russischer Sprache verfaßten Werken 
näherzutreten und die Darstellung Riesemanns auf ihr Verhältnis zu den Quel¬ 
len hin zu prüfen, gewinnt von ihr einen günstigen Eindruck. Sie hält sich 
von Voreingenommenheit frei, ist ruhig und sachlich geschrieben. Zuweilen 
ist sie etwas breit geraten und Wiederholungen sind nicht selten.*) Aber 
Riesemann beherrscht seinen Stoff und je weiter die altrussische Kirchen¬ 
musik und ihre Notierung vom augenblicklichen Betriebe der Musikforschung 
abseits liegt, um so dankbarer wird man ihm sein, daß er den in mancher 
Beziehung interessanten Gegenstand in den Ergebnissen der bisherigen For¬ 
schung uns zugänglich macht. 

Wenn ich im folgenden aus Riesemanns Schrift diejenigen Tatsachen 
herausziehe, die unser Wissen um die Geschichte des liturgischen Gesanges 
und der Neumen bereichern, so will ich auf die ganz merkwürdigen Parallelen 
zu Vorgängen der lateinischen Choralgeschichte und Notierung aufmerksam 
machen, die dem Kenner der älteren abendländischen Musikgeschichte auf 
Schritt und Tritt bei der Lektüre der interessanten Abhandlung aufstoßen. 
Ich möchte damit das Interesse bekunden, mit dem ich die Schrift durchge¬ 
arbeitet habe. Ich berücksichtige auch noch einen wichtigen Aufsatz, den 
Riesemann selbst jüngst in der Riemann-Festschrift (S. 189 ff.) veröffentlicht 
hat und der über die Funde einer Expedition einen vorläufigen Bericht bringt, 
die im Sommer 1906 besonders in den Klöstern auf dem Berge Athos For¬ 
schungen nach altrussischen Gesangsdenkmälern veranstaltet hat. 

Die Geschichte der russischen Kirchenmusik beginnt mit dem Jahre 988, 
der Annahme des Christentums durch Großfürst Wladimir. Griechische Bi¬ 
schöfe tauften sein Volk. Wie aber die Frage nach dem Ursprung des lateini¬ 
schen Chorals noch bis in die letzte Zeit mannigfache Antworten erfahren 
hat, so haben die russischen Gelehrten die Wiege ihrer liturgischen Lieder 
bald in Byzanz, bald im griechischen Syrien, bald in Rußland selbst gesucht 


’) Wohl ein Verwandter desjenigen Trägers des Namens, dem Spitta in seinen 
Aufsätzen „Zur Musik“ S. 449 ff. so schöne Worte gewidmet hat 

*) In der Reihenfolge der Anmerkungen zu den Seiten 101 bis 103 herrscht Un¬ 
ordnung. Druckfehler sind stehen geblieben auf den Seiten 10, 21, 41, 62 u. a. 


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Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges 


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Eine gewisse Verwandtschaft mit dem byzantinischen Kirchengesang wurde 
allgemein zugestanden; die verbindenden Fäden sind zu zahlreich, um über¬ 
sehen zu werden. Bis ins 13. Jahrhundert kannte die russische Liturgie Ge¬ 
sangsstücke in griechischer Sprache, neben denjenigen in slavonischem Text 
(Vergleiche über Ähnliches in der lateinischen Liturgie meine Einführung 
2. Aufl. I. S. 51 ff.) Auch das Kyrie eleison ist als Volksruf bezeugt und er¬ 
hielt sich in der russischen Liturgie bis heute. (Vergl. ebenda S. 75 ff.) Ganz 
alte liturgische Handschriften enthalten sogar griechische Gesangsstücke in 
slavonischen Lettern aufgeschrieben. (Vergl. ebenda S. 105 Anm.) Zahlreiche 
tonschriftliche Zeichen haben die Form griechischer Neumen oder griechische 
Namen und zwar ältere Zeichen wie jüngere. (Vergl. meine Neumenkunde pas¬ 
sim.) Der griechisch-byzantinische Gesang muß also immer wieder auf den russi¬ 
schen eingewirkt haben. Dennoch hat es nicht an solchen gefehlt, die die 
Abhängigkeit von Byzanz bedeutend einschränkten oder überhaupt leugneten; 
Metallow vertrat die Auffassung, daß die Russen ihren liturgischen Gesang 
von den syrischen Griechen erhalten hätten, und Smolenski erklärte ihn für 
ein der Hauptsache nach autochthones Produkt (Vergl. dazu die heute wohl 
allgemein aufgegebene Hypothese des römischen Ursprunges des lateinischen 
Chorals.) Ein derartiger Widerstreit der Meinungen war möglich, solange 
nur eine geringe Zahl authentischer Gesangsdokumente alter Zeit der For¬ 
schung zugänglich war. Je mehr aber die alten Gesangbücher dem Staub 
der Vergessenheit entzogen wurden, um so eher lichtete sich das Dunkel, 
das die Urgeschichte des russischen Chorals einhüllte. Mußten die erwähnten 
Tatsachen, wie der allgemeine Gang der altrussischen Kirchengeschichte immer 
wieder die Blicke auf die byzantinische Liturgie und ihre Musik lenken, so 
scheinen die in der Riemann-Festschrift angedeuteten Funde die Frage zu 
Gunsten dieser Auffassung abzuschließen. Preosbashenski hat zahlreiche ganz 
alte Hss. byzantinischer und russischer Herkunft mit einander verglichen und 
dabei nicht nur eine überraschende Ähnlichkeit, oft auch Identität der Ton¬ 
zeichen festgestellt, sondern sogar eine direkte Übernahme altbyzantinischer 
Gesänge durch die russische Liturgie. Dabei wurde der griechische Text na¬ 
turgemäß durch den slavonischen ersetzt, die Führung der Melodie blieb aber 
dieselbe, nur daß die Betonungs- und syntaktischen Verhältnisse des griechi¬ 
schen Originals bei der Übertragung des Textes in das Slavonische häufig 
Akzentverschiebungen und Abweichungen von der gewöhnlichen Aussprache 
und Verbindung der Worte im Gefolge hatten. Wenn der slavonische Text 
silbenreicher war als der griechische, aus dem er übersetzt ist, so sind die 
überzähligen Silben durchweg mit bloßen Rezitationszeichen versehen, die by¬ 
zantinische Originalmelodie ist also nur erweitert, nicht substantiell modifiziert 
(Auch dieser Vorgang findet im gregorianischen Gesang seine Analogien.) 
Jedenfalls darf man die Abstammung des russischen liturgischen Gesanges 
aus dem byzantinischen für eine ausgemachte Tatsache halten. Daß dabei 
slavischen Elementen der Zutritt nicht prinzipiell verweigert wurde, ist ebenso 
verständlich. Immer aber müssen die griechischen Anklänge die Oberhand 
behalten haben. 

Die ältesten liturgischen Gesangbücher des russischen Ritus, Minaen, Trio¬ 
den, Sticherarien, Hirmologien u. a., ungefähr dreißig an der Zahl, gehören noch 
der Urzeit russischen Christentums an, dem 10. und 11. Jahrhundert Merk¬ 
würdigerweise entbehren sie der Tonzeichen. (Dasselbe ist von den lateini- 


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Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges 


sehen Büchern des 8. und 9. Jahrhunderts zu sagen. Das Cantatorium von 
Monza und das Graduale von Rheinau, beide aus dem 8. Jahrhundert, haben 
von den Gesängen nur den Text Vergl. Einführung I, S. 202.) Die ersten Hss» 
mit Tonzeichen sind aus dem Ende des 11. Jahrhunderts überliefert. Sie sind 
in einer Neumenschrift notiert, die nach Riesemann, der darin der Ansicht 
Metallows beipflichtet, aus den byzantinisch-athontischen Neumen herausge¬ 
wachsen ist, einem derjenigen tonschriftlichen Systeme, die in Vervollkomm¬ 
nung der prosodischen Zeichen des 4.-7. Jahrh. (von andern „ekphonetische 
Zeichen“ genannt) aus den griechisch-syrischen Umeumen des 7.—8. Jahrh. 
sich herausgebildet haben. Die letzteren führten in anderen Ländern zu ähn¬ 
lichen Neumensystemen; auch die lateinischen Neumen gehen nach Metallow- 
Riesemann auf die cheironomische Urneumenschrift der griechisch-syrischen 
Kirche zurück. Manches spricht dafür, daß die Klöster auf dem Berge Athos 
bei der Übeiigabe der Neumen an die russische Kirche beteiligt waren. Sie 
waren der Hauptverkehrsstation zwischen dem griechischen Orient und 
Rußland. Es gab daselbst im 11. Jahrhundert auch zahlreiche russische 
Mönche. Die Resultate der jüngst daselbst unternommenen Forschungen, 
von denen Riesemann in der Riemann-Festschrift berichtet, unterstützen die 
Annahme einer führenden Tätigkeit dieser Klöster. (Man ist versucht, hier 
das Kloster St. Gallen zum Vergleiche heranzuziehen, dessen Choralpflege für 
viele nordische Kirchen vorbildlich wurde. Daß übrigens St. Gallen und 
die Athontischen Klöster Beziehungen miteinander unterhielten, ist nicht 
unwahrscheinlich.) 

Die liturgischen Gesangbücher der Russen kennen drei Typen von Ge¬ 
sängen, denen auch drei verschiedene Notierungen entsprechen: 1. den 
Oktoechos, den nach den acht Tonarten in seinen Einzelheiten rituell 
(durch das Typikon) geordneten eigentlichen liturgischen Gesang. Seinen 
Grundstock bildet der Snamennji Rospiew, der in der ältesten Form russi¬ 
scher Neumen aufgezeichnet ist, der sogenannten Sematischen oder Krjukino- 
tierung; 2. den dreifältigen Gesang, den Metallow-Riesemann mit dem 
ebenfalls ganz alten Kondakariengesang identifizieren, der aber schon im 
14. Jahrhundert verschollen war. Dieser Kondakariengesang wurde so notiert, 
daß zu einer Reihe Text zwei Reihen Neunten gehörten, daher (nach Metallow- 
Riesemann) die Bezeichnung .dreireihig“ = .dreifältig“. Die Abhängigkeit der 
Kondakarienneumen von den frühbyzantinischen Neumen ist unleugbar und 
ergibt sich besonders aus den großen Hypostasen; 3. den demestischen 
Gesang, den jüngsten Bestandteil, der besonders um 1600 beliebt war. Die 
demestischen Hss. verwenden eine doppelte Notierung, kleine Neumen und 
große Hypostasen, dazu die byzantinischen Martyrien. 

Was der Kondakarien- und der demestische Gesang eigentlich war, ist 
bisher noch nicht gelungen festzustellen. Die Zahl der Kondakarien- 
handschriften ist sehr gering; nur fünf sind bisher bekannt geworden, sie stam¬ 
men aus der Mitte des 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Die älteren darunter 
gehören zu den ältesten neumierten Hss. russischer Herkunft überhaupt Seit dem 
Ende des 13. Jahrhunderts ist der Kondakariengesang verschwunden. Riesemann 
glaubt, daß er mit seiner Notierung in den athontischen Klöstern seine Heimat 
hat, da die Neumen der Kondakarienhandschriften in byzantinischen Gesang¬ 
büchern noch nicht angetroffen worden seien. Daran kann aber ebensogut 
unsere sehr lückenhafte Kenntnis der byzantinischen Choraldokumente schuld 


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Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges 


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sein. Eine energische Einwirkung byzantinischen Gesanges auf die Konda- 
karienmusik nimmt auch er an; sie äußert sich namentlich in den zahlreichen 
griechischen Textworten und Sätzen, die in slavonischem Alphabet nieder¬ 
geschrieben sind, in den byzantinischen Solmisationssilben und Tonarten¬ 
bezeichnungen. Von den beiden Tonzeichenreihen verwendet die untere 
Zeichen, die den ekphonetischen Lectionszeichen ähnlich sind, die obere die 
fuyaXa or/paSia der griechischen Neumen. An eine Entzifferung dieser Neumie- 
rung kann vorläufig noch nicht gedacht werden; ebensowenig geht dasjenige, 
was aber die künstlerische Eigenart des Kondakariengesanges gesagt wurde, 
Ober bloße Vermutungen hinaus. 

Etwas besser ist es um den demestischen Gesang bestellt. Um 1569 
erscheinen seine ersten Notierungen, die mit den Kondakarienzeichen keinerlei 
Ähnlichkeit aufweisen. Die Etymologie des Wortes „demestisch“ ist nicht 
unbestritten. Die demestischen Neumen lassen sich aber deshalb der Haupt¬ 
sache nach entziffern, weil die Sekten der Altgläubigen, die sich infolge der 
Reformen des Patriarchen Nikon (2. Hälfte des 17. Jahrh.) bildeten, den deme¬ 
stischen Gesang und seine Notierung weiterfahren. Auch ist diese in einigen 
alten Schriften erklärt Sie hat sich manche der gleich zu erwähnenden Fort¬ 
schritte der sematischen Neumen zu eigen gemacht, die Merkzeichen des 
Schaidurow und des Mezenez, die der Bezeichnung der Tonhöhe dienen. Me¬ 
lodisch sind diese Gesänge sehr reich entwickelt, weit mehr als die des 
Snamennji Rospiew; sie entwickeln sich nicht selten gegenüber der Betonung 
der Textworte ziemlich selbständig und werden vornehmlich in feierlichen 
Gottesdiensten gebraucht 

Die wichtigste der russischen Neumenfamilien ist aber die sogenannte 
sematische Notation, die vom 11. bis zum 17. Jahrh., bis zur Einführung 
des europäischen Liniensystems, die liturgischen Gesangbücher beherrschte 
und deren Dokumente aus allen Jahrhunderten zahlreich auf uns gekommen 
sind, mit Ausnahme des 13. und 14. Jahrhunderts, in welchen Mongolenhor¬ 
den Rußland mehrfach überschwemmten und verwüsteten. Da aus dem 15. 
bis 17. Jahrh. theoretische Erklärungen der Krjukineumen in genügender Zahl 
sich erhalten haben, kann man rückwärtsgehend auch die älteren Krjukihss. 
der Hauptsache nach entziffern. (Ähnlich ist bekanntlich die lateinische Neu¬ 
menforschung vorgegangen. Wir schließen von den Hss. mit Guidos Linien¬ 
system zurück auf diejenigen ohne Linien; eine andere Methode hat bisher 
immer noch versagt.) Dabei sind jedoch die zirka 40 Zeichen auszunehmen, 
die nur bis zum 15. Jahrh. üblich waren, nachher verschwanden; sie lassen 
sich durch die komparative Methode nicht enträtseln. (Auch die Geschichte 
der lateinischen Neumen kennt eine Anzahl Zeichen, die nur in den ältesten 
Hss. stehen, in den spätem durch gewöhnliche Neumen ersetzt sind; vermut¬ 
lich ist die Beseitigung der Hälfte der russischen Zeichen durch dieselben 
Verhältnisse veranlaßt worden, welche zur Vereinfachung des lateinischen 
Chorals in Tonfolge und Rhythmus führten.) 

Die weiteren Schicksale der russischen Neumen knüpfen sich vornehm¬ 
lich an die Namen zweier Kirchensänger, Schaidurow und Mesenez. Da die Krju- 
kizeichen die Tonhöhe nicht in allem genau angaben, so sann man auf Mittel, 
sie dergestalt zu vervollkommnen, daß über den tonalen Verlauf der Ge¬ 
sänge in keinem Falle ein Zweifel obwalten konnte. Es ist das Verdienst des 


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128 Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges 

Nowgoroder „Meistersängers“ Schaidurow (Ende des 16. Jahrh.) 1 ), durch 
Beifügung von roten Tonbuchstaben die tonale Bestimmtheit der Zeichen 
sichergestellt zu haben. Zu jeder Neume tritt hier ein rot geschriebener Buch* 
stabe des slavonischen Alphabets, meist der Anfangsbuchstabe eines musika¬ 
lischen technischen Ausdruckes. Andere Buchstaben oder Zeichen dienten 
zur Angabe dynamischer und wohl auch rhythmischer Nüancen. (Diese Schai- 
durowschen Buchstaben erinnern an die St. Gallischen sog. Romanusbuch¬ 
staben, die ähnliche Zwecke erfüllen sollten, sowie an die Handschrift von 
Montpellier. In der Auswahl der Buchstaben für die 12 Stufen der russischen 
Tonleiter ist Schaidurow ähnlich verfahren, wie der Erfinder der sog. Dasia- 
schrift, nur daß er neue Zeichen nicht durch Umlegung und Umstülpung, 
sondern durch Punktierung und Strichelung vorhandener Buchstaben gewann.) 
Ende des 17. Jahrhunderts lebte der Mönch Alexander Mesenez. Seine ton¬ 
schriftliche Neuerung steht in Zusammenhang mit der im 12. Jahrh. in Kon¬ 
stantinopel aufgekommenen und bald in Rußland verbreiteten Unsitte, tonreiche 
Vokalisen derart mit Text zu versehen, daß auf jeden Ton eine Silbe kam. 
Man wählte dazu merkwürdigerweise Silbenverbindungen, wie tetetererim, 
titititiremterirem, anena u. a., denen ein logischer Inhalt nicht innewohnte. 
(Die lateinischen Gegenstücke zu diesen Einschiebseln bilden die Tropen und 
Sequenzen, deren außerlateinische Herkunft damit eine interessante Stütze 
erhält Nur haben die Sequenzen- und Tropendichter ihre Aufgabe mit un¬ 
gleich mehr Geschmack gelöst, als ihre slavischen Kunstgenossen, da sie 
den jedesmaligen lateinischen Text so interpretierten und erweiterten, wie es 
dem Charakter des Tages angemessen war). Eine noch merkwürdigere Manier 
bestand darin, die Teile eines ausgedehnten Melisma nicht hintereinander, 
sondern um Zeit zu sparen, zu gleicher Zeit von verschiedenen Sängern vor¬ 
tragen zu lassen, eine barbarische Gewohnheit, der erst gegen die Mitte des 
17. Jahrh. von seiten der Behörden energisch entgegengearbeitet wurde. Eine 
durch den Zar Alexei Michailowitsch eingesetzte Kommission mit Alex. Mesenez 
an der Spitze, säuberte die liturgischen Gesangbücher von den genannten 
Auswüchsen in Text und Singweise. Für die geplante Drucklegung der ver¬ 
besserten Bücher werden die Schaidurowschen roten Buchstaben durch kleine 
Merkzeichen ersetzt, die an jeder Neume angebracht werden. Da aber nach 
wie vor Bücher geschrieben wurden, waren die Mesenezschen Zeichen neben 
den Buchstaben des Schaidurow ein Pleonasmus. Als es zum ersten Drucke 
der russischen Choräle kam, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh., war 
durch das siegreiche Vordringen des Liniensystems die ursprüngliche Krjuki- 
schrift längst in den Hintergrund gedrängt worden. 

Die Einführung des mehrstimmigen Gesanges in Rußland seit der Mitte 
des 17. Jahrh. hatte die Annahme des Liniensystems im Gefolge. Zuerst 
schrieb man die verschiedenen Stimmen in sematischen oder demestischen 
Neumen übereinander in zwei, drei oder vier Zeilen und meist mit verschie¬ 
denfarbiger Tinte. (Dasselbe Verfahren war den Polyphonisten des 16. Jahrh. 
bekannt; vergleiche die Notierung eines vierstimmigen Satzes des Heinr. Isaac 
in einer Berliner Hs. bei Bellermann „Kontrapunkt“ 3. Auf!., S. 64.) Die eigent¬ 
liche Melodie (der lateinische Cantus firmus) ist meist dem Snamennji Rospiew 


*) Ich entnehme dem Zusammenhang der Darstellung Riesemanns, daß die Angabe 
„XII. Jahrh.“, S. 42, Zeile 15 ein Druckfehler ist. 


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Zur Geschichte des altrussischen Kirchengesanges 


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entnommen, die andern Stimmen liefern primitive Akkorde dazu, wobei es 
weder an parallelen Quinten und Oktaven noch an Sekunden und Septimen 
mangelt. Bald aber adoptierte man das europäische Fünfliniensystem, das 
sich dann überraschend schnell eingebürgert hat Die älteren russischen 
Neumen wurden dabei verdrängt, sie machten einer neuen Form von qua¬ 
dratischen Noten Platz, die den europäischen nicht ganz entsprechen. 

Der größte Teil von Riesemanns Schrift (Kap. 3—5) ist der Erklärung 
der Krjukineumen gewidmet, deren Studium und Entzifferung weniger 
Schwierigkeiten gegenüberstehen, weil die altgläubigen Sekten bis auf die 
Gegenwart nach ihnen singen. Außerdem gibt es neuere Hss. mit Doppelnotie¬ 
rung, mit sematischen Neumen und der neueren Linienschrift; solche Hss. sind 
seit dem Ende des 17. Jahrh. vorhanden. Es fehlt auch nicht an theoretischen 
Lehrbüchern und Traktaten zum Schulgebrauch, welche die Krjukizeichen 
erklären. Das wichtigste dieser Bücher ist das Buch Kokisy (erste Hälfte 
des 17. Jahrh.), das alle Figuren und Melismen (Thetas und Lizas), aus 
denen viele russische Kirchenlieder mosaikartig zusammengesetzt sind (nach 
Art also vieler gregorianischer Gradualien, die mit beliebten melismatischen 
Tonreihen operieren) in einfache Zeichen auflOst Oft steht auch in den Hss. 
die Auflösung der melismatischen Figuren am Rande. (Das Analogon dazu lie¬ 
fert die Notierung der ältesten St Gallischen Sequenzenbücher, nur daß bei 
ihnen die Vokalisen am Rande stehen, der Text sie aber in ihre Einzelbestand¬ 
teile auflöst.) Besonders wichtig zum Studium der Krjukineumen ist endlich 
das Alphabet des Mesenez, dessen Zeichen ganz bestimmte Töne angeben. 

Die russischen Tonzeichen beziehen sich auf ein Tonsystem von 12 Stufen, 
das sich aus vier getrennten Trichorden zusammensetzt; wenn ich die Folge 
Ganzton + Ganzton zugrunde lege, läßt sich dasselbe also darstellen: 

G a J i c d t [ g j t ^ c j l 

einfaches Gebiet tiefe« Gebiet helles Gebiet dreifech helle« Gebiet 

Außer der Intervallfolge 1+1 kennt die Theorie und Praxis in gleicher 
Weise Trichorde mit der Folge 1+ 1 /« und */*+l. Manche Tonzeichen entspre¬ 
chen nun der ersten Stufe eines Gebietes, andere der zweiten, andere der 
dritten. Die Gebiete selbst werden durch besondere Zusätze zum Grund¬ 
zeichen unterschieden. 

Für den einzelnen Ton zählt Riesemann nicht weniger als sieben Zei¬ 
chen auf, die sich meist durch verschiedene rhythmische Geltung unterscheiden, 
die sich freilich mathematisch nicht bestimmen läßt 1 ) Das wichtigste dar¬ 
unter ist der Krjuk, der der Tonschrift den Namen gegeben hat Besondere 
Zeichen deuten die Verlängerung und Verkürzung der rhythmischen Werte 

0 Der russische Kirchengesang ist von lebendigem, abwechslungsreichem rhyth¬ 
mischem Fluß, der sich mit den modernen regelmäßigen Verbindungen von zwei- und 
dreiteiligen Gruppen nicht messen läßt. (Anm. S. 39.) Oberhaupt ist nach Riesemann 
eine Obertragung russischer Neumen in unsere Mensuralschrift nur möglich, wenn 
man dem heutigen Rhythmus die weitgehendsten Konzessionen macht Nicht anders 
steht es um die lateinische liturgische Melodie. Die kurze Zeit, während welcher Um¬ 
schriften in moderne Noten gebräuchlich sind, hat genügt, um bei einigen die Grund¬ 
lagen des gregorianischen Rhythmus vollständig zu verschieben. Mögen die Befürch¬ 
tungen nicht eintreffen, welche die mensurierten Übertragungen der alten Choräle lei¬ 
der zu erwecken imstande sind! 

Ktrcbonaafc. Jahrbuch. 23. Jahrg. 9 


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130 


Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien 


an; auch der Punkt erscheint als Verlängerungszeichen. Die zweitönigen 
Zeichen sind fallend und steigend; dabei können auch einstufige Neumen 
durch Verbindung mit anderen zu zweistufigen werden. Dasselbe gilt von 
den Zeichen für drei und mehr Töne. (Hier erblicken wir das Kon¬ 
struktionsprinzip der lateinischen Neumen, die aus wenigen Grundzeichen 
eine große Zahl zusammengesetzter Zeichen for mehrere Töne bilden.) Einige 
Zeichenverbindungen werden je nach den verschiedenen Tonarten verschie¬ 
den ausgefahrt. Andere deuten längere Tonreihen an, Vokalisen, Melismen, 
die sogenannten Popjewki (Tropen), Figuren (Lixa) und Thetas. Auch bei 
ihnen bestimmt die Tonart vielfach die besondere melodische Geltung. Ein¬ 
zelne dieser Figuren weisen auf ein überreiches Melisma hin, von mehr wie 
zwanzig Tönen. (Es ist nicht unmöglich, daß auch der lateinische Choral 
solche stenographische Aufzeichnungen einmal gekannt hat Die so häufig 
wiederkehrenden Vokalisen der Gradualien und Tractus würden sich jeden¬ 
falls leicht mit solchen konventionellen Zeichen andeuten lassen. Einige alte 
lateinische Hss., z. B. Cod. St Gallen 339, schreiben von solchen Vokalisen 
oft nur die ersten Zeichen. Vergl. meine Neumenkunde S. 274 ff.). 

Riesemann veranschaulicht die verschiedenen Stadien der russischen 
liturgischen Schrift durch Faksimiles. Für die zahlreichen in den Text aufge¬ 
nommenen Neumenzeichen hat die Moskauer Synodal-Typographie die Typen 
geliefert, wie dem Schlüsse des Vorwortes zu entnehmen ist Diese quellen¬ 
gemäße Ausstattung der Arbeit erhöht ihren wissenschaftlichen Wert Wenn 
das Referat darüber so ausführlich geraten ist, so möge man es dem 
Umstande zugute halten, daß hier zum ersten Male in ein den Freunden 
alter Musik bisher verschlossenes, aber an neuen und wichtigen Tatsachen 
reiches Gebiet hineingeleuchtet worden ist. Ob die Parallelen zur lateinischen 
Choralgeschichte auf Einwirkungen des Westens zurückgehen, läßt sich heute 
noch nicht sagen. Möglich wäre ebensogut, daß griechisch-byzantinische 
Vorbilder die lateinische wie die russische Praxis bestimmt haben. Mit großem 
Interesse darf man aber dem angekündigten ausführlichen Bericht über die 
Forschungen auf dem Berge Athos entgegensehen, und ich möchte die Bitte 
an den Verfasser unserer Schrift nicht zurückhalten, davon uns möglichst 
bald Kenntnis geben zu wollen. 

Freiburg (Schweiz) Dr. Peter Wegner 


Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien 

I m letzten Jahrgang des Kirchenmusikalischen Jahrbuches (1909, S. 83 ff.) 

habe ich mich über „Schule und Volkslied“ verbreitet und dabei die Frage 
aufgeworfen, ob denn unsere heutigen Volksschullehrer durch den Seminar¬ 
unterricht genügend als Gesangslehrer vorgebildet seien, um den an sie zu 
stellenden Anforderungen entsprechen zu können. Die verneinende Antwort 
habe ich andere geben lassen und u. a. das Urteil Karl Storcks zitiert: „In 
Wirklichkeit wird an der Volksschule nicht in Musik unterrichtet, 
sondern es werden einige Lieder durch ewiges Wiederkäuen eingedrillt. Der 
Gesangunterricht fällt ganz aus dem Charakter des übrigen Schulunterrichts. 
Er ist unsystematisch, sinn- und zwecklos. Man darf überhaupt nicht von 
einer Methode dieses Gesangunterrichts sprechen, ist aber dennoch eine 


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vorhanden, so ist sie grundfalsch: es werden Lieder so lange vorgedu- 
delt, bis die Kinder sie nachsingen können. Was uns also not tut, 
ist eine völlig neue Methode des Gesangunterrichts an unsern 
Volksschulen!“ 

Das ganze damalige Ergebnis reizte mich, selbst einmal an verschiedenen 
deutschen Lehrerbildungsanstalten Besuche zu machen in der Absicht, mich 
von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Resultate selbst zu überzeugen. 
Diesen Plan habe ich unterdessen ausgeführt und möchte im folgenden über 
meine Eindrücke und Erfahrungen Bericht erstatten. Ich bin so ziemlich 
überall gut aufgenommen und auch (mit Ausnahme des Seminars in Würzburg!) 
zu den von mir gewünschten musikalischen Lektionen zugelassen worden. 
Freilich glaubten die Seminardirektoren und Musiklehrer anfangs gewöhnlich, 
ich bemühe mich vor allem um musikalische Produktionen des Seminarchors 
und -Orchesters, wie man es eben bei sonstigen Besuchern der Anstalten 
gewohnt ist, und die meisten waren erstaunt, oder etwas verblüfft, wenn sie 
von meiner Absicht hörten, ganz bescheiden und ohne alle Störung dem 
Musikunterricht in den einzelnen Fächern, namentlich in Gesang und Gesang¬ 
methode, sowie dem Gesangunterricht in der Obungsschule beiwohnen zu 
dürfen. Ich bekam immer den Eindruck, als ob ich mit dieser Forderung 
schon einen wunden Punkt berührt hätte und als ob die betreffenden Lehrer 
selbst die Überzeugung oder wenigstens eine Ahnung von ihrer schwachen 
Position hätten. Wenn ich eine Schule besuche, so wird mir im allgemeinen 
der Lehrer auch viel lieber eine Produktion einiger eingepaukter Lieder vor¬ 
führen als seine Methode, weil er eben meistens keine hat. So ähnlich war 
es dort, denn von eigentlicher Gesangsmethode war sowohl im Unterricht 
der Seminaristen als auch in dem der Elementarschüler gar wenig zu ver¬ 
spüren und ich dachte mir oft, wie wahr hat doch Storck geschrieben: „Man 
darf überhaupt nicht von einer Methode dieses Gesangunterrichts sprechen, 
ist aber dennoch eine vorhanden, so ist sie grundfalsch . . . was uns also 
not tut, ist eine völlig neue Methode des Gesangunterrichts an unsern Volks¬ 
schulen“ und — füge ich bei — dementsprechend zuerst an unsern Semina- 
rien; zuerst müssen die angehenden Lehrer an den Seminarien nach einer 
brauchbaren Methode im Gesang unterrichtet und zu Solosängern (cum grano 
salis) herangebildet und dann in eine taugliche Gesangunterrichtsmethode 
eingeführt werden, nach welcher sie in der Übungsschule und später die 
Schulkinder unterrichten sollen und können, sie müssen Gesangsmethodiker 
insoweit werden, daß sie in den Besitz einer bewährten und überall brauch¬ 
baren und ausführbaren Gesangsmethode gelangen. Ist das vielleicht bisher 
so gewesen? Tun wir jemand unrecht, wenn wir ernste Klage führen? Man 
überzeuge sich doch selbst von den „herrlichen“ Methoden in unseren Volks¬ 
schulen und wie herrlich weit man damit bisher gekommen ist! Man braucht 
ja nur die Tatsachen sprechen zu lassen und man muß uns recht geben. 
Sehen wir uns einmal die bisherigen und gegenwärtig in unsern Seminarien 
und Schulen gelehrten und geübten Methoden etwas genauer an. 

Das verhältnismäßig Beste, was ich hier kennen lernte, bot ein Ober¬ 
lehrer einer Seminarübungsschule, der, selbst ein guter Musiker und Metho¬ 
diker, auch den Musikunterricht und die methodische Einführung der Semina¬ 
risten an der Übungsschule leitete, im Unterschied von andern Lehrerbildungs¬ 
anstalten, an welchen gewöhnlich dem Seminarmusiklehrer obige Aufgabe zu- 

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fällt. Nicht als ob jener Oberlehrer eine neue bisher ungekannte und unbe- 
nützte Methode angewandt hätte, aber darin unterschied er sich von vielen 
andern, daß er Oberhaupt eine brauchbare Methode mit Geschick und Erfolg 
konsequent in den verschiedenen Klassen durchführte; wie er die Methode 
den Seminaristen zu eigen machte, konnte ich leider nicht beobachten, da er 
sie mir persönlich vorführte, ich zweifle aber bei dem auch in den übrigen 
Fächern bekannten vorzüglichen und praktischen Methodiker nicht, daß er 
auch den angehenden Lehrern einen methodischen Fonds beizubringen wissen 
wird. Er geht von der bekannten Stufenleiter aus und entwickelt einmal die 
ersten 5 Töne der C-dur-Tonleiter (mit der absoluten Tonhöhe zwischen d und e); 
ähnliche Übungen werden an das Bild einer Staffel mit 5 Treppen ange¬ 
schlossen und endlich erscheinen die Stufen und Treppen frei als wagrechter 
längerer oder kürzerer Strich (Tondauer) in größerem oder kleinerem senk¬ 
rechtem Abstande (ganze und halbe Tonstufe), woraus dann leicht vollends 
die Form der Note und Notenlinie entwickelt werden kann, die auch beizeiten 
zur Anwendung kommen. Später wird die Quint zur Oktav erweitert, stets 
am Bild der Stufenleiter und aus ihr wurden dann in der Oberklasse noch 
die Tonleitern mit einem Vorzeichen (F und G) vordemonstriert; dabei werden 
die vorgeschriebenen weltlichen und kirchlichen Volkslieder geübt und gesungen, 
es wird auf richtigen, sinngemäßen, schönen Vortrag im Einzel-Gruppen- und 
Chorgesang gedrungen, auch Stimm- und Tonbildung (Kopfstimme), soweit 
es die gewöhnlichen Notennamen (c d e etc.) zulassen, verbunden, auf 
rhythmische Übung und Ausbildung aber auffallenderweise kein besonderes 
Gewicht gelegt. Ich konnte mich überzeugen, daß die musikalisch begabten 
Schüler am Ende der Schulzeit die Befähigung erreichten, eine ihnen neue, 
aber in den einfachsten Tonarten (C, F, G) und Rhythmen aufgezeichnete, 
leicht singbare Melodie annähernd richtig aus dem Notenbiid ins Klangbild 
zu übertragen, wie es z. B. der württembergische Normallehrplan wünscht. Ob 
freilich die Schüler auch in den Lehrproben der Seminaristen soweit gefördert 
werden, weiß ich nicht, habe aber später in andern Anstalten von diesen tasten¬ 
den Versuchen dieser jungen Leute einen recht unbefriedigenden Eindruck 
erhalten; ich habe gefunden, in einem so schwierigen Fach wie es der Gesang¬ 
unterricht ist, taugt ein derartiges vielfach planloses Herumtappen noch 
weniger als in anderen Fächern, da rächt es sich noch viel mehr, wenn 
eine gediegene Methode fehlt und die Sicherheit und Vertrautheit damit, und 
R. Heuler sagt nicht mit Unrecht: „Der Gesangunterricht bleibt nach wie vor 
wohl die schwierigste Unterrichtsdisziplin, in der die Persönlich¬ 
keit des Lehrers von höchster Bedeutung ist.“ Immerhin habe ich 
eine ähnliche gut durchgeführte mathematische Trefflehrmethode fast in keiner 
der von mir besuchten Anstalten mehr getroffen, in den meisten sah es trostlos 
aus. Meistens traf ich die Ziffermethode und konnte mich recht gründlich 
davon überzeugen, was für ein schlechtes und schwerfälliges Silbenmaterial 
gerade die Ziffern eins, zwei, drei etc. zum Singen abgeben, noch viel schlechter 
und plumper als die gewöhnlichen Tonsilben (c, d, e etc.); da fällt für Stimm- 
und Tonbildung gar nichts mehr ab, im Gegenteil, zumal wenn die Aus¬ 
sprache noch recht schlecht und ungenügend ist wie ich sie vielfach gehört 
habe. Dazu kommt, daß auch die Ziffemmethode nicht einheitlich ist, der 
eine benützt die Ziffer allein, der andere verbindet damit die Note mit und 
ohne Linien, der eine bezeichnet die Oktave mit 8, der andere wieder mit 1 usw., 


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kurz ich fand, daß die Schaler daraus nicht klug wurden und nur mühsam 
zumal im Einzelgesang die Tonvorstellung damit verbanden. Dazu kamen 
aber noch alle mögliche andere methodische Fehler: meist sangen die Kinder 
überlaut, d. h., sie schrieen nach Belieben, ohne daß sie korrigiert wurden, ein 
Hauptfehler; sie taktierten meistens nicht mit, oder aber, was fast noch 
schlimmer, sie taktierten falsch, ungenau, unpünktlich, — wie sollen denn da 
exakte rhythmische Vorstellungen entwickelt werden? Mit Anfängern bemühte 
sich ein Lehrer gerade den Anfang der C-dur-Tonleiter einzupauken mittels 
des Merkverses „in dem Gras sitzt der Has" (ähnlich wie es z. B. J. Osten¬ 
dorf „über das bewußte Singen nach Noten“, Düsseldorf, 1908, vorschlagt); 
ich hätte nur die übrigen geistreichen Merkverse noch hören und ihren Erfolg 
kennen lernen mögen! Doch der Erfolg: in den nächsthöheren Klassen stan¬ 
den schon Lieder mit Noten an der Tafel: „Christus ist erstanden“ in A-dur, 
„Freu dich erlöste Christenheit“ in B-dur, während die Schüler natürlich 
weder von A- noch B-dur eine Ahnung haben; sie werden wohl mit den 
Vorzeichen überhaupt nicht vertraut, singen eben aufs Geradewohl ab- und 
aufwärts meist von der Violine unterstützt, ein trostloses „Gehörsingen“. 
Mich hat das in dieser Anstalt um so mehr verwundert, als der Musiklehrer 
im übrigen ein äußerst tüchtiger und gewissenhafter Praktiker ist, was vom 
folgenden keineswegs gesagt werden kann. In der obersten Klasse seiner 
Übungsschule doktert (vom Seminarlehrer stets schmeichelhaft mit Herr Lehrer 
angeredet!) ein Seminarist höchst unbeholfen und tappig an einem an die 
Tafel geschriebenen 2-stimmigen Lied herum, kann die Notenwerte anschei¬ 
nend selbst kaum richtig lesen und führt die Kinder mit seinem Herumtasten 
und Zeigen vielfach in die Irre, kurz es war ein klägliches Unterrichten. Ich 
hatte auch vom übrigen Musikunterricht in dieser Anstalt einen ziemlich 
schlechten Eindruck bekommen, es fehlte vielfach Plan und Einteilung und 
Disziplin, man arbeitete auf Konzertproduktionen und bildete sich viel darauf 
ein, anstatt ruhige, gediegene und solide Arbeit zu leisten und den einzelnen 
Zögling für seinen späteren Beruf tüchtig zu machen. So war auch bei diesem 
Unterricht kein Ernst, keine Energie, kein zielbewußtes Arbeiten, keine Me¬ 
thode und ich bemerkte in meine Notizen: der Gesangunterricht an dieser 
Übungsschule ist schon das Allermindeste, was ich hier gesehen und gehört 
habe! Der betreffende Seminarlehrer suchte mich auch wohl im Bewußtsein 
seiner schwachen Position (von der er allerdings im übrigen nicht überzeugt 
zu sein schien!) rasch von Klasse zu Klasse zu führen; wenn ich Notizheft 
und Bleistift herauszog, begannen die Herren mitunter etwas nervös zu wer¬ 
den. Wie soll übrigens bei einem Unterricht etwas Vernünftiges geleistet 
werden, wenn ein Seminarlehrer innerhalb einer Stunde in 3—4 Klassen 
herumrennen soll, um den Gesangunterricht der Seminaristen zu überwachen, 
der gleichzeitig stattfindet 1 Da weiß man kaum, wer schlechter wegkommt, 
die Unterrichtenden oder die zu Unterrichtenden! 

Wahrend in unseren Seminarien und Schulen meist mit den gewöhn¬ 
lichen Notennamen (c, d, e etc) gearbeitet wird, fand ich nun noch an einigen 
Anstalten die Guidonischen Solmisations-Silben im Gebrauch, die sich wenig¬ 
stens für Ton- und Stimmbildung entschieden besser eignen. In einer dieser 
Schulen benützen alle Kinder ein sogenanntes Tastenbild, einen Karton¬ 
ausschnitt aus der Klaviertastatur mit etwa 2 Oktaven mit Aufschrift der 
gewöhnlichen Tonnamen und der Solmisationssilben; auf dieser Klaviatur 


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greifen die Kinder die Grundakkorde der gesungenen Lieder, wobei freilich 
nicht überall kontrolliert werden kann, ob die Finger auf den richtigen Tasten 
sitzen. Die Klaviatur soll eben der Veranschaulichung der Tonvorstellungen 
dienen, mitunter müssen die Kinder die Akkorde auch auf dem Klavier spielen. 
Dazu führen sämtliche Schülerinnen (es ist eine Mädchenübungsschule eines 
Lehrerinnenseminars) noch ein Notenheft, in welches die Übungen und Lieder 
eingetragen werden. Die Kinder singen allein und im Chor, wenn auch im 
ganzen zu stark, so doch mit dynamischer Schattierung; daß die Kinder der 
Oberklasse aber die Melodietöne des Liedes nicht selbständig suchten, sondern 
sie von der Violine vorgespielt erhielten, war ein großer Fehler, wie auch, 
daß sie nicht dazu taktierten, ln der Mittelklasse dieser Übungsschule fand 
ich übrigens ganz hübsche rhythmische Übungen, an ästhetisierenden Erklä¬ 
rungen wird freilich den Kindern gegenüber des Guten zu viel getan, so wenn 
vom halben Ton gesagt wird, er sei traurig, passe nicht in unsere Frühlings¬ 
zeit und Frühlingslieder, man meine dabei man müsse weinen; das Wort 
„Leid“ müsse man leise singen, denn es sei traurig u. a.1 

Auf die Lektion Gesangsmethodik für den obersten Kurs der Semina- 
ristinnen war ich natürlich besonders gespannt und erfuhr keine geringe 
Enttäuschung, als da von der Musiklehrerin der „protest Choral“ und „Luther 
als Retter der Kirchenmusik“ behandelt wurde: der protest Choral sei der 
Repräsentant der deutschen Musik im Gegensatz zur katholischen Kirchen¬ 
musik, die lateinisch seil Aber wo bleibt denn da das katholische 
deutsche Kirchenlied? Fest und steif wird da noch voigetragen, Luther 
habe eigene Choralmelodien erfunden, er habe den Gesang verdeutscht, in 
der katholischen Kirche sei der Gemeindegesang nur geduldet gewesen, Luther 
sei der Schöpfer eines neuen Choraltypus, das „Ein feste Burg“ sei so ein¬ 
fach und volkstümlich, das brauche man eigentlich gar nicht zu lernen, jedes 
Kind könne es leicht merken und singen. Solche und ähnliche ganz falsche oder 
äußerst schiefe und mißverständliche Behauptungen einer Musiklehrerin eines 
protest. Lehrerinnenseminars, die nebenbei von einem „cantabile“ und in 
unbewußter Selbstpersiflage von einem „diabölus *) in musica“ sprach, muteten 
mich, zumal aus dem Munde einer Schriftstellerin (Musik in Schule und Hausl) 
etwas eigentümlich an und ich erlaubte mir, ihr beim Abschied die Lektüre 
meiner Musikgeschichte zu empfehlen. In der Einklassenübungsschule eines 
außerdeutschen Seminars wird von dem Seminar-Musiklehrer ein langatmiger 
gelehrter musikalischer Krimskrams vorgetragen, mindestens eine halbe Stunde 
lang an einem einfachen Lied herumdisputiert über Tonnamen und Intervalle, 
große und kleine Sekunden und Terzen (dabei heißt es beständig: re steht 
in der 1. Linie, von do bis re ist ein ganzer Ton! u. a.). Dann nach all 
diesen unnötigen und deplacierten Umschweifen wird endlich gesungen, aber 
wie! Nicht etwa von einzelnen oder in Gruppen, nein gleich von allen unter 
meist sogar 2stimmiger Begleitung der Violine! Also keine Ahnung von 
Gesangsmethode — und es klang daher um so drolliger als mir der Musik¬ 
lehrer am Schluß der Stunde stolz bemerkte: „Sie sehen, man muß überall 
Methode haben, auch bei den Kleinen, wenn sie*) es auch nicht merken 1“ 

*) Diese falschen Betonungen erinnerten mich an den „Musfker" und das 
„choraliter“ vieler unserer Lehrer! 

*) Ich weiß nicht, meinte er das ,sie‘ mit großem oder kleinem S; ich merkte 
allerdings nichts von Methode und die ,KIeinen‘ wahrscheinlich noch weniger! 


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Auch bei den „Großen“ (Seminaristen) war es ähnlich: viel Erklärungen 
Ober einen lateinischen Männerchor, seine Akkorde mit der umständlichen 
Benennung in Solmisationssilben, seine Transposition mit entsprechender 
Änderung der Schlosset usw., dann endlich die bezeichnende Aufforderung: 
„nun aber tüchtig drauf losgesungen !*, worauf mit aufdringlicher mehrstim¬ 
miger Violinbegleitung des Lehrers der ganze Chor von A—Z herunterge¬ 
schrieen wird I Und das heißt man in Lehrerseminarien Gesang und Gesangs¬ 
schulung und Methode und Ästhetik? 

Man darf wohl sagen: Am Musikunterricht in unseren heutigen Lehrer¬ 
seminarien ist wohl der Unterricht im Gesang und in Gesangsmethodik das 
Schwächste, und es war mir in dieser Hinsicht mehr als bezeichnend, daß 
von diesen Seminarmusiklehrern und Unterlehrern nur ein einziger und außer¬ 
dem eine Lehrerin von der Existenz der Eitzschen Tonwortmethode 
wußten. Und doch gehört sie nicht eigentlich mehr zu den neuesten Erschei¬ 
nungen und Erfindungen, denn ihre Geburt fällt schon in den Anfang der 
neunziger Jahre. Um so mehr sollte man doch meinen, würden sich wenig¬ 
stens vor allem jene Männer dafür interessieren, die berufen sind, auf diesem 
Gebiete so viele andere zu unterrichten und ihnen nach bestem Gewissen das 
Beste zu bieten, die also berufen sind, sich über alle Neuerungen zuerst sich 
selbst zu unterrichten, alles zu prüfen, um das Beste zu wählen und zu be¬ 
halten und zu empfehlen, und zu verbreiten. Ich hätte nicht gedacht, so viel Igno¬ 
ranz und Gleichgültigkeit gerade bei diesen tonangebenden Männern zu finden 
einer epochemachenden Neuerung gegenüber, die, wie R. Heuler mit Recht 
schreibt, berufen ist, „auf gesangsmethodischem Gebiete eine gänzliche Neu¬ 
ordnung der Dinge zu bewirken; nach dem Tonwort benennt sich ein neues 
Unterrichtsverfahren, das an Originalität und Vollkommenheit in jeder Be¬ 
ziehung alles Dagewesene weit übertrifft, die Tonwortmethode. 41 Das klingt 
fast wie eine marktschreierische Reklame, und doch ist es keine Übertreibung. 
Heuler, der seit Jahren an seiner Schulklasse und an der Zentralsingschule 
in Würzburg darnach unterrichtet, hat genug Erfahrung hinter sich, um das 
zu wissen und sagen zu können und wer es trotzdem nicht glauben will, 
dem empfehle ich eine Wallfahrt nach Würzburg und er wird gleich Heuler 
„aus einem ungläubigen Saulus ein überzeugter Paulus“ werden. Und nun 
nur noch kurz die Grundlinien dieses Systems: Es knüpft an Guidos Solmi¬ 
sationssilben an und was dort zufällig und unlogisch und unpsychologisch 
ist, das wird abgestreift oder vielmehr ein ganz neues streng logisches und 
psychologisches System entwickelt, Tonsilben, Tonworte, die in schönster 
Harmonie der gesangstechnischen Ausbildung, der Ton- und Stimmbildung 
dienen. — Soviel steht ja von vornherein fest, daß die Guidonischen Silben 
nur zufällige, nicht logisch geordnete Bildungen sind und ähnlich den Ziffern 
nur die diatonischen Tonstufen benennen ohne Rücksicht auf Chromatik 
und Enharmonik. Die Tonworte dagegen sind fein logisch ausgedachte abso¬ 
lute Tonbezeichnungen, ähnlich unsem gewöhnlichen Tonnamen, aber auch 
für jede chromatische resp. enharmonische Stufe vorgesehen, demnach zu¬ 
sammen 21 Tonworte, je aus einem anlautenden Konsonanten mit nachfol¬ 
gendem Vokal bestehend. Aus 6 Moment- und 6 Dauerlauten und den 5 Vo¬ 
kalen ist das ganze System in schönster Ordnung gebildet. Die 6 Moment¬ 
laute b t g p d k kommen zur Anwendung für die Ganztonstufen von c aus, 
die 6 Dauerlaute r m s 1 f n für die dazwischenliegenden Halbtonstufen, die 


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Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien 


Vokale a e i o u folgen sich z. B. in der G*Durtonleiter in dieser Reihen* 
folge: la fe ni bi to gu pa la. Unsere C-Durtonleiter lautet beispielshalber: 
bi to gu su la fe ni bi. Wir sehen schon hieraus: bei der großen Halbton¬ 
stufe haben wir den gleichen Vokal (ni bi — h c, gu su — e f, und pa la = 
fis g). So wird es bei allen Halbtönen gehalten: wissen wir also z. B. daß 
c = bi ist, so wissen wir auch, daß des im Tonwort den Vokal i bringen 
muß, weil bi (c) der Leitton zu des ist; tatsächlich ist des — ri, c des = bi ri. 
Ebenso muß der Leitton zu to (d), nämlich cis, im Tonwort den Vokal o 
bringen und da cis enharmonisch mit des ist, so behält es den Konsonanten r 
bei, heißt also ro, cis d — ro to, cis des ist demnach — ro ri, wobei in ein¬ 
facher und feiner Weise durch Wechsel des Vokals nebenbei noch der Komma¬ 
unterschied ausgedrückt wird. Die Vorzüge dieser Anordnung sind ohne 
weiteres einleuchtend, sie sind aber nicht die einzigen des Systems. Wir 
lernen sie am besten kennen, wenn wir die neue Methode mit den alten ver¬ 
gleichen, die ja doch heute noch vorherrschen und von welchen die meisten 
nicht lassen wollen, weil sie das Alte für gut und erprobt halten, dem Neuen 
aber skeptisch gegenüber treten, eben weil sie seine Vorzüge nicht kennen 
und es um den Preis von viel Zeit und Mühe zu teuer erkauft halten. Es ist 
aber bei näherer Betrachtung leicht zu sagen, wo der größere Erfolg ist und 
wo sich Zeit und Arbeit besser rentieren. Das vielbeliebte Ziffernsingen gibt 
ja allerdings eine gewisse Vorstellung der gesungenen Intervallengrößen oder 
regt dieselbe wenigstens an, aber im übrigen sind die Ziffern nur Stufen* 
nicht Tonnamen und als Stufennamen drücken sie nicht einmal den Unter¬ 
schied der kleinen und großen Stufen, der Ganz- und Halbtöne, noch viel 
weniger die veränderten und übermäßigen Intervalle, die chromatischen und 
enharmonischen Tonverhältnisse aus, womit wiederum die Schwierigkeit ihrer 
Übersetzung in Noten und des Verständnisses der Notenschrift und der durch 
sie bezeichneten Tonverhältnisse von selbst gegeben ist Modulation mit 
Ziffern führt zu Künsteleien, die Ziffernmethode dient eigentlich nur der Dia- 
tonik. Auf den nicht geringen Nachteil des Ziffernsingens für Ton- und Stimm¬ 
bildung wurde schon früher hingewiesen; e, i, ü, ei ist alles, was man an Vo¬ 
kalen zu hören bekommt. In letzterem Punkte wenigstens bietet die Solmi- 
sationsmethode mehr: außer dem Vorteil der stets anlautenden Konsonanten 
(wenn do statt ut gebraucht wird) hat sie noch den angenehmen Wechsel 
von wenigstens vier (in Frankreich fünf) Vokalen: a, e, i, o, wenn wir von 
der wenig geschmackvollen Bezeichnung der erniedrigten Stufen mit dö rö 
mö fö schö lö sö und der erhöhten mit dä rä mä fä schä lä sä u. a. Altera¬ 
tionen absehen. Im übrigen teilt aber auch die Solmisation alle Nachteile der 
Ziffernmethode. Was endlich das Singen mit unsern gewöhnlichen Noten¬ 
namen anlangt, so haben wir in letztem allerdings zugleich Ton- und Ton¬ 
höhenbezeichnungen, die neben der Diatonik zugleich die Chromatik und En- 
harmonik berücksichtigen; aber zur Veranschaulichung des Leittons oder des 
Höhenunterschieds enharmonischer Töne u. a. lassen sie sich doch nicht herbei 
und der Ton- und Stimmbildung bieten sie ebenfalls viel zu wenig, wenn man 
sieht, wie willkürlich die Silben mit Konsonanten oder Vokalen anlauten, wie 
willkürlich letztere aufeinanderfolgen, wie z. B. Cdur gleich fünfmal den Vokal 
e und nur zweimal a, F- und Gesdur siebenmal e, und Cisdur siebenmal i 
bringt! Keiner dieser teilweise bedeutenden Nachteile findet sich bei der Ton¬ 
wortmethode, vielmehr bietet sie außer den schon genannten noch geradezu 


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Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien 137 

ideale Vorzüge: Die mathematische Berechnung der Intervalle, die bisherigen 
systematischen Vorübungen und alle andern Hilfsmittel werden entbehrlich, 
da sich mit dem Tonwort und den Tonwortreihen allmählich ganz von selbst 
die Ton- und Tonreihenvorstellungen, Sprachlaut und Tonbegriff im Wort¬ 
symbol verschmelzen, das so die Einheit zwischen Schriftzeichen und Ton 
vermittelt und das Gefühl für absolute Tonhöhe und Treffsicherheit und nicht 
weniger das harmonische Gefühl in einer bisher ungewohnten Weise ent¬ 
wickelt. Größere Anforderungen können wir an eine moderne wissenschaft¬ 
lich begründete Gesangsmethode gar nicht stellen und glänzender hat sich 
noch gar keine bewährt, das kann man dort sehen, wo nach derselben unter¬ 
richtet wird: ich habe in Würzburg z. B. bei sechs- und siebenjährigen Kin¬ 
dern Resultate beobachtet, wie wir sie bei uns nach sechs- und siebenjährigem 
Schulbesuch oft vergeblich suchen; das sind Erfolge, das sind Tatsachen, die 
sich nicht einfach wegdisputieren und noch viel weniger totschweigen lassen. 
„Wir haben im Tonwortsystem Eitz das erste und bisher einzige Ton¬ 
namensystem, das den Eigentümlichkeiten unseres modernen Tonsystems an¬ 
gepaßt ist 4 * (Borchers) und „so stellt sich das Tonwort als die gewaltigste 
Neuerung auf gesang-methodischem Gebiete seit den Tagen Guidos von Arezzo 
dar. Auf die Dauer kann die Gesangspädagogik diesen Markstein nicht um¬ 
gehen, mögen auch Arroganz und Ignoranz noch so geschäftig am Werke 
sein, hier wie überall, wo es gilt, wahrhaft Großes zu verkleinern" (Heuler). 
Es mutet einen sonderbar an, wie man bei diesem Tatbestand noch gegen 
das Eitzsche System für die „rationelle Solmisationsmethode“ eine Lanze bre¬ 
chen mag, wie das neuerdings im „Kirchenchor“ (1909, Nr. 6, 7 und 8) ver¬ 
sucht wird. Wer das Eitzsche System verstanden hat, der sieht alle andern 
Methoden mit vollem Grund als veraltet und rückständig an. 

Also in die Zukunft schauen, die neue Methode ergreifen und nach' ihr 
arbeiten, muß die Parole sein. Es ist die höchste Zeit Erst jüngst ist von 
berufener Seite (die ersten deutschen Musiker und Musikgelehrten haben unter¬ 
zeichnet) ein für jedermann, namentlich für alle Interessenten höchst lesens- 
und beherzigenswerter, offener Brief unter dem Titel „Das Elend des deutschen 
Volksgesangs“ an den deutschen Reichstag, die deutschen Landtage, an die 
deutschen Kultus- und Unterrichtsministerien und die kirchlichen Oberbehör¬ 
den beider Konfessionen gesandt worden. Darin wird u. a. geklagt, das Gros 
der deutschen Volksschulgesanglehrer bediene sich in dem auf bloßer Nach¬ 
ahmung beruhenden Gehör- resp. Gedächtnissingen heute noch eines Unter¬ 
richtsverfahrens, das allen logischen und psychologischen Gesetzen der mo¬ 
dernen Unterrichtskunst Hohn spreche; mit der gänzlichen Ausschaltung von 
Solmisationsmitteln habe man dem Gesangsunterricht die formal bildende 
Kraft genommen. Vorbedingung zu besseren Leistungen, so heißt es, wäre 
vor allem eine grundstürzende Revision der gesetzlichen Bestimmungen über 
die Ausbildung der Seminarmusiklehrer, sowie über die Art des an Lehrer¬ 
seminarien zu erteilenden Musikunterrichts; ein Seminarlehrer müßte doch in 
erster Linie ein ganz hervorragender Gesangsmethodiker und ein guter Stimm¬ 
bildner sein. Nur so sei eine sichere Gewähr gegeben, daß der angehende 
Volksschullehrer die nötigen Qualitäten als Volksschulgesanglehrer mitbringt; 
nur so könne dem Unheil, das heute Tausende fleißiger, aber ungenügend vor¬ 
gebildeter Gesanglehrer am Stimm material des Volkes anrichten und das nicht 
selten zu schweren körperlichen Schädigungen führt, wirksam begegnet wer- 


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138 Ein musikalischer Besuch in deutschen Lehrerseminarien 

den. Leider gebe es heute noch deutsche Schullehrerseminarien, denen Volks- 
schulgesangmethodik ein gänzlich unbekanntes Unterrichtsfach sei, Semi- 
narien, die jahraus jahrein nur schulgesangmethodische Pfuscher in die Praxis 
schicken, die keine blasse Ahnung haben von dem, was ein angehender Ge* 
.sanglehrer wissen und können müsse. Zum Schluß stellt der Brief als For* 
derungen einer zeitgemäßen Umgestaltung des Volksschulgesangunterrichts 
u. a.: Ausschluß des reinen Gedächtnissingens; Einführung eines einheitlichen, 
dem modernen Tonsystem angepaßten lautsprachlichen Symbols zum Zweck 
der Vorstellungsverknüpfung zwischen Tonzeichen und Ton; Singenlernen nach 
Noten (alle andern Tonzeichen sind zeitraubende Umwege) unter allen Um¬ 
ständen auch in der letzten Dorfschule; für das ganze deutsche Reich, soweit 
dies nicht bereits der Fall ist, zwei wöchentliche Unterrichtsstunden für Ge¬ 
sang; täglicher Gesangunterricht von zwanzig Minuten; Einübung der Choräle 
in den Religionsstunden; einheitliche Reorganisation des Prüfungsverfahrens 
im Gesang mit gesteigerten Ansprüchen an geteilte Schulen; Ausbildung der 
Seminarmusiklehrer im Sologesang und in der Geschichte der Schulgesang¬ 
methoden; bessere Ausbildung der angehenden Volksschullehrer im Lehrer¬ 
seminar sowohl im Sologesang als besonders in der Schulgesangmethodik. 

Wir sehen, der Brief führt eine ernste und praktische Sprache und wir 
können nur wünschen, daß ihm Gehör geschenkt würde. Was der Brief unter 
dem „lautsprachlichen Symbol* verstanden wissen will, sagt R. Heuler in 
seinem „Gesangunterricht“, wo er ähnliche Forderungen bringt, deutlicher: 
„eine einheitliche Unterrichtsmethode an der Hand des Tonworts.“ Nur 
um diese Methode kann es sich natürlich handeln, und da könnten viele in 
ihrer Sphäre und ihrem Wirkungskreise schon jetzt beitragen, daß diese For¬ 
derung beachtet und durchgeführt würde. Die meisten Volksschullehrpläne 
schreiben keine bestimmte Gesangmethode vor, sondern lassen dem Lehrer 
hierin im allgemeinen ganz freie Hand. Darnach stände es in der Kompetenz 
des Einzelnen, gerade mit der Tonwortmethode auf eigene Faust einmal einen 
Versuch zu machen; eine diesbezügliche Anfrage um Erlaubnis beim Bezirks¬ 
schulinspektor dürfte kaum einen abschlägigen Bescheid erhalten, vielleicht 
im Gegenteil eine Aufmunterung. Ebenso könnte ohne alles weitere die Ver¬ 
teilung der vorgeschriebenen Gesangunterrichtszeit auf täglich 10—20 Minuten 
erfolgen. Die Bezirksschulinspektoren hätten es in der Hand, einigen tüchtigen 
Lehrern ihres Bezirks den Unterricht nach der Tonwortmethode nicht nur zu 
erlauben, sondern nahezulegen oder zu befehlen, zumal wenn das Unterrichts¬ 
ministerium der Neuerung nicht abgeneigt ist Unter den übrigen Mitteln und 
Wegen wären zumal für die Übergangszeit noch Ferien- und sonstige Instruk¬ 
tionskurse für die Volksschulgesanglehrer zur Erlernung der Tonwortmethode *) 
zu empfehlen und da könnten sich die Diözesan-Cäcilienvereine recht ver¬ 
dienstlich machen, wenn sie sich solcher Kurse annehmen würden: das brächte 
der musica sacra, einer gediegenen Kirchenmusik, mehr Nutzen, als die oft 

‘) Zur näheren Orientierung über das System nenne ich: die bei Breitkopf und 
Härtel verlegten Eitzschen Schriften „Deutsche Singfibel", „das Tonwortsystem und 
sein Verhältnis zu den in der Musik bestehenden 3 Stimmungsarten“, „die Schul¬ 
gesangsmethoden der Gegenwart“ u. a.; R. Heuler: der Gesangunterricht in den 
unteren Klassen der Volksschule, Würzburg 1908, und der Gesangunterricht an der 
Würzburger Zentralsingschule, in 3 Teilen, wie auch ein neues Liederbuch nach der 
Tonwortmethode, beide Würzburg 1909. 


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Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins 139 

planlos und nutzlos verlaufenden Cäcilienvereins-Versammlungen mit den be¬ 
kannten Produktionen aller möglichen Kirchenchöre mit Kompositionen, die 
gewöhnlich nicht für sie geschrieben sind. Das Obel auch hier an der Wurzel 
fassen: den Dirigenten das Unwflrdige und Nutzlose der geistlosen Einpauk- 
methode darlegen und zum Bewußtsein bringen, sie zur Gründung kleiner 
Chorsingschulen, in denen methodisch gearbeitet würde, anleiten, sie als Lehrer 
zur entsprechenden notwendigen methodischen Vorarbeit in der Schule auf- 
muntern, das wäre des Schweißes der Cäcilienvereine und aller Edlen wert! 
Steinhausen (bei Scbußenried) Dr. A. MShler 

-- 

Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins 

D er Cäcilienverein hat sich zur Aufgabe gestellt, die in den vorausgegan¬ 
genen Jahrhunderten tief gesunkene und entartete katholische Kirchen¬ 
musik emporzuheben und ihrem ursprünglichen Zwecke wieder zurückzu¬ 
geben. Hierzu bedient sich der Verein mannigfacher Mittel, unter denen be¬ 
sonders einem große Bedeutung zukommt: »Abhaltung von Versammlungen, 
verbunden mit belehrenden Vorträgen und musikalischen Auffüh¬ 
rungen.“ (Statuten des Cäcilienvereins). 1 ) Unter diesen Versammlungen 
nehmen naturgemäß die Generalversammlungen (G.-Vn.) die hervorragendste 
Stellung ein. Nach dem Wortlaute der Statuten sind sie vornehmlich 
nach zwei Richtungen hin zu betrachten und zu bewerten: Belehrung — 
Wissenschaft, und musikalische Aufführungen — Kunst, beides unter steter 
Beachtung des Kulminationspunktes: der hl. Liturgie. Das Bereich der G.-Vn. 
ist demnach groß, so groß, daß eine Dauer derselben von zwei Tagen und 
einem halben kaum genügt, um den Teilnehmern ein Bild von der Univer¬ 
salität der Kirchenmusik zu geben, zumal noch andere, mehr der tech¬ 
nischen Seite und der Verwaltung des Vereines dienende Aufgaben zu erle¬ 
digen sind. Die G.-Vn. sind eine Heerschau über den Verein, über seine 
Ausdehnung, über sein Wirken und seine Erfolge; sie haben Rechenschaft 
abzulegen über die Leistungen des Vereines im großen und im kleinen; sie 
sollen reformatorisch wirken, belehren, begeistern und erbauen, die außerhalb 
des Vereines Stehenden anziehen, die Mitglieder desselben aber in ihren 
musikalischen Grundsätzen festigen. Dies ist nur zu erreichen durch die an¬ 
geführten zwei Punkte: a) Belehrung — Wissenschaft, und b) Aufführun¬ 
gen — Kunst. 

a) Diese beiden wichtigsten Seiten der G.-Vn. stehen in reziprokem Ver¬ 
hältnisse zueinander. Was die Belehrung durch Worte demonstriert, wird 
bei den Aufführungen durch die Tat gezeigt, die Theorie wird durch die Praxis 
erläutert Man wendet vielleicht ein, die Belehrung habe bei G.-Vn. keinen 
Platz, sondern sei Sache der Kirchenmusikschulen, kleineren Diözesanver- 
sammlungen, oder der Instruktionskurse, einer Art musikalischer Wanderver¬ 
sammlungen. Zugegeben, aber nur zum Teil! Einen Leitfaden für Musikwissen¬ 
schaft oder eine Musikfibel geben die G.-Vn. allerdings nicht ab, obwohl sie 
gerade der „misera contribuens plebs“, den unteren Schichten des Musik- 

') Es bleibe dahingestellt, ob es nicht am Platze wäre, diesem Paragraphen 
der Vereinsstatuten das Wörtchen .alljährliche“ voranzustellen, analog den alljähr¬ 
lichen Tagungen weltlicher Musikvereinigungen und -Kongresse. 


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Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins 


volkes, vieles bieten sollen, wovon später. Die Besucher sind musikalisch 
gebildete, der groben Mehrzahl nach ausübende Berufsmusiker oder Dilettanten, 
d. i. Musikliebhaber im guten Sinne, die entweder „ganz allein mit Frau 
Musika sinnige Zwiesprache pflegen“ oder mit „gleichgesinnten Freunden aus- 
führend oder zuhörend sich vereinigen.“*) Die Tatsachen beweisen aber, dab 
viele tüchtige, wohlgesinnte Musiker, Sänger, Lehrer und Chorregenten, zwi¬ 
schen weltlicher und kirchlicher Kunst nicht recht zu unterscheiden wissen, 
dab sie sich nicht im klaren sind, was eigentlich unter liturgischer Musik, 
einer Musik „im Geiste der Kirche* zu verstehen ist. Gar viele, vielleicht 
die meisten Besucher der G.-Vn. hatten ja keine Gelegenheit, Kirchenmusik¬ 
schulen, deren Anzahl zurzeit noch nicht zu grob ist, oder Instruktions¬ 
kurse etc. zu besuchen, während in ihrer Heimat die Pflege wahrer Kirchen¬ 
musik noch keine Stätte gefunden hat. Die G.-Vn. haben nicht lokalen Cha¬ 
rakter, sondern sind für den die weitesten Lande umspannenden Verein ein 
Sammelpunkt, wo sich Gelegenheit ergibt, die Koryphäen des kirchenmusikali¬ 
schen Lebens zu hören und ihren auf solidem Wissen und Können beruhenden 
Belehrungen zu lauschen. Es bedarf also mehrerer Vorträge, die nicht nur 
die in der Kirche zulässigen Musikzweige, sondern auch Geschichte, Ästhetik 
und Theorie (vide Dr. Widmanns Vortrag über Phrasierung in Passau) zum 
Gegenstände haben. Dabei könnten die Ergebnisse mitgeteilt und besprochen 
werden, welche sich aus den Forschungen und Arbeiten der „Kommission 
für Musikwissenschaft“, deren Konstituierung als „ständiger Ausschub für 
Musikwissenschaft“ bei der 19. G.-V. beschlossen wurde, ergaben. Von Wich¬ 
tigkeit ist die möglichst populäre Form dieser Belehrungen, um das allge¬ 
meine Interesse zu wecken, da ja die G.-Vn. nicht nur für Fachleute, 
Künstler und Gelehrte abgehalten werden, sondern auch für solche, die mit 
musikalischer Kleinarbeit sich zu beschäftigen haben. Und diese bilden die 
grobe Majorität der G.-Vn. Es sind dies, im musikalischen Sinne gesprochen, 
die „Kleinen“, die voll Lernlust und Streben, ihren musikalischen Gesichts¬ 
kreis zu erweitern, zu den G.-Vn. wie zu einer Art von Hochschulkursen 
herbeiströmen. Ihnen — und auch anderen 1 — kann nicht eindringlich und 
oft genug bedeutet werden, dab nicht jede Art von Musik, die an sich schön 
ist, auch für die Liturgie pabt; ihnen mub von Männern, deren Darlegungen 
infolge ihres Ansehens, ihrer Stellung, ihrer Gelehrsamkeit und Tatkraft be¬ 
sonderes Gewicht beizulegen ist, aufe bestimmteste nahegelegt werden, dab 
es Gesetze gibt, welche die Musik zwar nicht in ein Prokrustesbett legen, 
wohl aber nach einer bestimmten, für den Gottesdienst tauglichen Richtung 
leiten und heiligen wollen, und dab es Pflicht des Seelsorgers, Chorregenten 
und Kirchenmusikers ist, diese Gesetze zu kennen. 

Eine andere, mehr volkstümliche Art der Belehrung sind die instruk¬ 
tiven Proben, die, von einem kundigen Dirigenten geleitet, sich zu den 
interessantesten Programmpunkten gestalten und eine Fülle von Anregungen 
und Aufschlüssen in künstlerischer, ästhetischer, praktischer, technischer, 
historischer, liturgischer und sprachlicher Beziehung geben; sie weisen auf 
so viele landläufige Fehler und Mängel hin und zeigen in Wort und Beispiel 
das Richtige; sie regen den Fleib an, und „die Hauptsache ist der Fleib“ 
(Schiller); sie leisten Kleinarbeit, die wichtigste Vorbedingung für tüchtige, 

*) Storck, Vorwort zur 2. Auflage der Geschichte der Musik. 


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Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins 141 

künstlerische Erfolge; sie geben den Hörern Gelegenheit, ihr musikalisches 
Gewissen zu erforschen und zu prüfen, ob ihre Arbeiten zu Hause mit den 
allgemein gültigen, ihnen hier vorgezeigten Normen übereinstimmen oder nicht, 
kurz ob sie sich am richtigen oder falschen Wege befinden, und damit ist 
ein grober Schritt nach vorwärts gemacht. 

b) Hand in Hand mit diesen Belehrungen gehen die musikalischen Auf¬ 
führungen. Jetzt kommt die Praxis zur Geltung. Der Teilnehmer nimmt 
wahr, wie die in die Praxis umgesetzte Theorie sich darstellt, und jetzt läßt 
er die hl. Kunst auf seine Seele einwirken; hier schöpft er Begeisterung, 
die Triebfeder des Fleißes; hier schleicht sich unvermerkt die Erbauung, der 
Tau der Gnade, in sein Herz; hier kommt ihm so recht zum Bewußtsein die 
Hoheit und Würde der hl. Kunst, die sich bei den G.-Vn. in ihrer ganzen 
Schöne und Erhabenheit entfaltet Möchten doch die grollend abseits stehen¬ 
den Größen, die Dirigenten und Mitglieder der weltlichen Konzertvereinigungen, 
sich entschließen, einmal eine andere Rolle als die des musikalischen Feld¬ 
herrn und siegreichen Kämpen zu spielen, ihren glänzenden Fürstenmantel 
nur auf einige Tage mit dem schmucklosen Kleide der Demut und Bescheiden¬ 
heit zu vertauschen und als Hörer den musikalischen Darbietungen einer 
G.-V. beizuwohnenI Sie würden die Muse, der sie sich geweiht haben, in 
einer Metamorphose erblicken, die ihnen Bewunderung abringen müßte, wie 
ja umgekehrt die Verehrer der kirchlichen Kunst mit Eifer und Verständnis 
den weltlichen musikalischen Unternehmungen sich anschließen, wofür die 
Musikkongresse etc. ein beredtes Zeugnis ablegen. Sie würden die Wahrneh¬ 
mung machen, daß auch der Cäcilienverein ausgezeichnete Dirigenten aufzu¬ 
weisen hat, die es zustande bringen, Musikliebhaber und musikalisch veran¬ 
lagte Kinder zu vorzüglichen, ja künstlerischen Leistungen zu erziehen, die 
es verstehen, aus dem reichen Schatze kirchlicher Musik mit hohem Kunst¬ 
verständnisse das Interesse der Kunstkenner und -Freunde wachrufende Pro¬ 
gramme auszuwählen und diese kunstgerecht durchzuführen. 

Die Programme der G.-Vn. haben die Aufgabe, die Universalität der 
K.-M. zu zeigen, und zwar innerlich und äußerlich. Innerlich: Alle Zweige 
der K.-M. sind vertreten: Choral, Palestrina-Stil, moderner Stil, Orgel, deutsches 
Kirchenlied und — Rezitation. Besonderes Glück wäre den Dirigenten zu 
wünschen in der Auswahl von Instrumentalwerken. Dieses Feld ist inner¬ 
halb des Cäcilien-Vereins relativ noch wenig bebaüt, obwohl auch hierin 
schon Achtungserfolge zu verzeichnen sind. Und vielleicht eröffnet sich in 
nicht allzuferner Zeit eine ungeahnt reiche Fülle von edler, kirchlich würdiger 
Instrumentalmusik, wenn, wie zu hoffen ist, die Resolution Weinmann auf 
dem III. Kongresse der Intern. Musikgesellschaft zu Wien Erfolg hat, die 
lautet: »In der Erwägung, daß der Verfall der kirchlichen Instrumentalmusik 
erst im 18. Jahrhundert eingerissen ist und daß andererseits im 17. Jahrhun¬ 
dert kirchenmusikalische Werke mit Instrumentalbegleitung existiert haben, 
die, soweit man bisher zu beurteilen vermag, dem Geiste und dem Ernste 
der Liturgie nicht widersprechen, erklärt die Sektion, daß eine wissenschaft¬ 
liche Untersuchung dieser Periode der K.-M. nach den Quellen eine drin¬ 
gende Aufgabe der Gegenwart ist." 

Zur Erzielung einer ästhetisch befriedigenden Wirkung der Instrumen¬ 
talmusik gehören jedoch Berufsmusiker oder doch gut geschulte Musiklieb¬ 
haber, die wohl in größeren Städten, niemals aber auf dem Lande zu finden 


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142 Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins 

sind. Zudem verlangen die Instrumente einen größeren Gesangschor, an dem 
es auf dem Lande ebenfalls fehlt Die Hausmusik, die ehedem in Städten 
und Märkten, ja in Dörfern so liebevolle Pflege fand, ist nahezu verschwunden, 
und das musikalische Leben und Treiben fast ausschließlich in die großen 
Konzertsäle verlegt. Auf dem Lande also, wo die Instrumente, besonders 
Blasinstrumente, nur schlecht oder mangelhaft besetzt werden können, möge 
Instrumentalmusik ganz beiseite gelassen und nur Gesangsmusik gepflegt 
werden. Und hierin haben die General-Versammlungen eine große er¬ 
ziehliche Aufgabe. Ist der Gesang an und für sich das Ideal der K.-M., 
— »Und das Schöne blüht nur im Gesang“ (Schiller) — weil nur durch 
ihn der erhabene Inhalt des liturgischen Textes am besten zum Ausdruck 
gebracht wird, so soll dem Gros der Teilnehmer, den Chorregenten und 
Sängern der kleineren Chöre, etwas in möglichst musterhafter Aus¬ 
führung geboten werden, was auch sie in ihrem kleinen Kirchlein zustande 
bringen. Nicht nur in den Domen, sondern auch im bescheidenen Dorfkirch¬ 
lein erklinge das Lob Gottes in würdiger, möglichst kunstgemäßer Art! Und 
das gehört zur äußeren Universalität der K.-M. Viele mögen von den G.-Vn. 
schon nach Hause .zurückgekehrt sein mit dem traurigen Empfinden: ja, schön 
war es, aber das übersteigt meine Kräfte, so etwas bringe ich auch nicht 
annähernd zusammen. Darum wird der Mut und Fleiß auch des Kleinen 
angeregt durch Absingung eines vollständigen liturgischen Amtes mit durchaus 
leichteren, keineswegs aber völlig kunstlosen Gesangsstücken mit und ohne 
Orgel, in den alten und modernen Tonarten. Bei den Choralgesängen mag 
der eine oder andere Vers rezitiert werden. Schön rezitieren ist nicht leicht; 
wer aber nicht richtig rezitiert, kann auch nicht richtig den Text deklamieren 
beim Gesänge. Auch dieses scheinbar so einfache, bisweilen von der Not 
diktierte Hilfsmittel muß gezeigt und gehört, und ebendadurch gelernt werden. 
Einzelne Verse, von einem Chore mezza voce unter leiser Begleitung rezitiert, 
üben eine erhebende Wirkung aus. 

Eine „reformatorische Tat“ (Dr. Haberl) bot die 19. G.-V. in Passau 
durch den liturgischen Kindergesang beim einfachen Amte. Die Gesänge, 
nach Art der syllabischen Gesangsstücke des gregorianischen Chorales kompo¬ 
niert, wurden von einer so großen Kinderschar ausgeführt, daß ihr Gesang 
in den Riesenräumen des Domes voll und gesättigt erklang. Die Kleinen 
sangen unerschrocken und begeistert in rührender Einfalt ohne jede Künstelei, 
aber nicht ohne gewisse Kunstfertigkeit. Auch die Responsorien erfolgten 
präzise, ein Beweis gespannter Aufmerksamkeit und guter Disziplin. Das war 
ein Vorbild für den in bescheidenen musikalischen Verhältnissen lebenden 
Chorregenten, ein Fingerzeig, wie er zu Hause die Reform einleiten könne. 

„Wißt ihr, wie auch der Kleine was ist? Er mache das Kleine 

Recht; der Große begehrt just so das Große zu tun.“ (Göthe.) 

Der Cäcilien-Verein ist für die Länder deutscher Zunge gegründet. 
Und mit Recht sehnt sich das Volk nach dem deutschen Liede, nach dem 
Gesänge in der Muttersprache, nach jenen empfindungsreichen und altehr¬ 
würdigen Gesängen, die in vielen Gesangsbüchern bereits gesammelt, aber 
nicht, oder doch nur selten gesungen werden. Es fehlt den an sich guten 
Gesangsbüchem die einheitliche Redaktion an Melodie und Text, ein Mangel, 
der die allgemeine Einbürgerung der Lieder behindert. Auch hierin bedeutet 
ein Antrag Müller bei der 19. G.-V. einen Fortschritt: „Der Allgemeine 


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Die Generalversammlungen des Cäcilienvereins 


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Cäcilienverein wird ersucht, die wissenschaftliche Kommission zu beauftragen, 
sich mit dem Hochw. Episkopat des deutschen Sprachgebietes in Verbindung 
zu setzen, damit die Schaffung einer kleinen Sammlung von vielleicht 
52 deutschen Kirchenliedern ermöglicht werde, die überall in demselben 
Texte und nach derselben Melodie gesungen werden können.* Wenn 
man aber weiß, wie die deutschen Lieder, zuweilen durch die Schuld der 
Organisten, vom Volke verschleppt, infolge dessen nach Text und Melodie 
zerrissen werden, so resultiert für die G.-Vn. die Gelegenheit und Pflicht, 
diese Lieder im richtigen Tempo, und die Begleitung in der angeme$ßenen 
Stärke vorzuführen. Mögen die G.-Vn. das deutsche Kirchenlied nicht als 
Stiefkind, sondern als Liebkind behandelnI 

Hat die Orgel bei der Begleitung der lateinischen und deutschen Ge¬ 
sänge schon eine bedeutende Aufgabe geleistet, so bieten die G.-Vn. Gelegen¬ 
heit genug, daß der Meister den Meister uns zeige, daß der Organist aus der 
älteren und neueren Orgelliteratur das eine oder andere bedeutende Werk 
vortrage. Vor und nach den Hochämtern, beim Ein- und Auszuge des Bi- 
schofes, während oder nach dem Nachmittagsgottesdienste kann der Organist 
seine Kunstfertigkeit und seinen Geschmack zeigen. Sein eigenes Können, 
das „von Gottes Gnaden“, das nicht erlernt werden kann, sondern der Künst¬ 
lerseele eingeboren ist, kann er entfalten beim Einspielen der Musikstücke, 
beim Verbinden derselben, beim Fortspinnen des melodischen Fadens eines 
bereits vollendeten, und beim Ergreifen des Hauptthemas des folgenden Stük- 
kes. Es ist hier nicht der Platz, Personen und Orte zu nennen; es genügt 
festzustellen, daß auch hierin die G.-Vn. wahre und große Kunst an den 
Tag legen. 

Mit all dem Gesagten ist schon angedeutet, daß bei den G.-Vn. der 
Gottesdienst in möglichst feierlicher Weise abgehalten wird, daß die Li¬ 
turgie in voller Herrlichkeit erstrahlt Die G.-Vn. bieten ein religiöses Gesamt¬ 
kunstwerk, das den ganzen Menschen erfaßt und an sich zieht. Exempla 
trahunt. Die Träger der höchsten kirchlichen Würden geben schon durch 
ihr Erscheinen, noch mehr durch ihre aktive Beteiligung ihr Interesse für 
kirchliche Kunst, für genaue Befolgung der kirchlichen Gesetze, wie über¬ 
haupt für reges kirchliches Leben kund. Und hat die 19. G.-V., wie schon 
erwähnt, eine „reformatorische Tat“ geboten, so erglänzte sie in noch hel¬ 
lerem Lichte durch die apostolische Tat des kirchlichen Oberhirten der 
Passauer Diözese. Exempla trahunt. Die G.-V. stand unter den liebevoll 
schirmenden Fittichen des kunstbegeisterten Bischofes, der kein Opfer scheute, 
um die Festtage für religiöse Kunst zu verherrlichen, der mit beredten Worten 
die Tagung einbegleitete, sich selbst in den Mittelpunkt der G.-V. versetzte 
durch zwei von ihm unter Aufwand aller kirchlichen Pracht zelebrierte Ponti¬ 
fikalämter, und der zum Schlüsse abermals eindringliche, Mut und Begeisterung 
zusprechende Worte fand und den versammelten Männern und Jüngern kirch¬ 
licher Kunst seinen Segen mit nach Hause gab. Das ist eine echte und 
wirksame Reform, das ist eine wahrhaft apostolische Tat. Exempla trahunt. 
Es lebe die Tatl 

Stift Göttweig P. Kob. Johaadl O.8.B. 


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Was tut unserer Kirchenmusik vor allem not? 

Der I. Vizepräses des Allgemeinen Deutschen Cäcilienvereins, Prof. Müller- 
Paderborn hat auf dem III. Musikgelehrten-Kongreß in Wien in der Sektion für 
Kirchenmusik anläßlich einer Debatte, die sich an die Vorträge Dr. Schnerichs 
knüpfte, offene Worte von so weittragender Bedeutung für das Wesen unse¬ 
rer Kirchenmusik gesprochen, daß eine Wiedergabe derselben — wenigstens 
soweit sie allgemeiner Natur sind — nur von größtem Nutzen sein kann. 
Der Redner führte unter anderem aus: 

Der Kirchenkomponist muß die liturgischen Formen und Normen 
wahren. Das erfordert schon die Stellung der Kirchenmusik, die sich als 
Teil eingliedem muß in das liturgische Gesamtwerk. Keine gesunde Ästhetik 
wird den Kirchenmusiker von dieser Forderung dispensieren können. Diese litur¬ 
gischen Vorschriften sind indes nicht so enge und nicht so schlimm, als man 
hie und da zu glauben scheint. In Bezug auf die Betonung dieser Gesetze 
ist freilich von manchen gefehlt worden durch ein zu wenig, von manchen 
durch ein zu viel. Es soll gar nicht geleugnet werden, daß im Cäcilien¬ 
verein zuweilen eine Art liturgischer Hyperkasuistik getrieben worden ist 
Diese übertriebene und egoistische Auslegung und Anwendung 
liturgischer Regeln hat man im Anfang der auf die Reformation 
der Kirchenmusik abzielenden Bewegung, die sich jetzt im Cäci- 
lienvereine organisiert hat, nicht gekannt. Sie wird auch inner¬ 
halb des Cäcilienveines von vielen einflußreichen Persönlichkei¬ 
ten nicht gebilligt. Und die Statuten des Vereines wissen nichts 
von ihr. Wo man in der Diskussion über das Wesen kirchlicher Musik das 
ästhetische Feinempfinden, die historische Schulung und die besonnene Pasto- 
ralklugheit zu ihrem Rechte kommen läßt, wird es kaum jemals zu ernsten 
Kollisionen bezüglich der liturgischen Gesetze kommen. Das zeigt sich auch 
in der vielerörterten Frage der Wiederholung der Intonationsworte. 

Die Beachtung der recht verstandenen und besonnen angewendeten litur¬ 
gischen Formen und Normen ist eine conditio sine qua non — nicht weniger 
und nicht mehr — für die Kirchenmusik. Es ist nicht so schwer, in Bezug 
hierauf eine Verständigung zwischen den verschiedenen Richtungen der katho¬ 
lischen Kirchenmusiker mit der Zeit zu erreichen. 

Was uns allen, die wir an der Hebung und Förderung der religiösen 
Musik arbeiten, am Herzen liegt, was wir gerade in unseren Zeitläuften 
anstreben müssen mit Klugheit und Energie, was uns nottut an allen 
Ecken und Enden der katholischen Kirchenmusik, das ist die kon¬ 
sequente und praktische Anerkennung des Grundsatzes: Die Kirchenmusik 
ist eine Kunst. Die Kirchenmusik ist ein Teil, wahrhaftig nicht der schlech¬ 
teste Teil der Tonkunst. Wo keine Kunst, da keine Kirchenmusik. Und in 
demselben Maße, in dem die wahre Kunst zurücktritt, in demselben Maße wird 
die Kirchenmusik inferior. Im einfachsten und schlichtesten Tonsatze kann 
ein wahrer Goldbarren tiefer, lauterer Kunst geboren sein: die Haydnsche 
Volkshymne ist ein echtes Juwel profaner Tonkunst. 

Aber es ist ein verhängnisvoller Irrtum, Tonreihen und Akkordfolgen, 
die vom Zauberstabe innerlichen Kunstempfindens unberührt blieben, deshalb 
zur Kirchenmusik zu zählen, weil sie den liturgischen Text in einer liturgi¬ 
schen Form herunterdeklamieren, ohne mit dem Wortlaute eines liturgischen 


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Der kirchenmusikalische Kurs in Pilsen 1909 


145 


Gesetzes äußerlich in Konflikt zu geraten. Gerade diese allgemein künstle¬ 
rischen Erwägungen sind es, die wir nachdrücklich betonen möchten — nach 
rechts und nach links. 

Wir sind uns anderseits der Verpflichtung bewußt, jener 
Dutzendware, die die Produktion unserer Tage an den Strand 
wirft, mehr und mehr, soweit es die jeweiligen Umstände und 
Verhältnisse möglich machen, den Zugang zu jenem Tempel zu 
verwehren, wo nur echte Kunst in den Dienst des Allerheiligsten 
gerufen wird. Es ist kein Zweifel: im Cäcilienvereine ist man 
auch hier nicht immer auf dem rechten Wege geblieben. Man hat 
kleinliche und unkünstlerische Maßstäbe zuweilen bei der Beurtei¬ 
lung wirklich künstlerischer Leistungen angelegt; man hat noch 
öfter die künstlerischen Erwägungen zurücktreten lassen hinter 
die Markierungslinie leichter Verwendbarkeit oder „schulgerechter“ 
Handwerkerweisheit Es ist dem Cäcilienvereine ergangen, wie es jeder 
geistigen Bewegung im Anfang ergehen wird, die zu früh auf unmittelbar 
praktische Aufgaben gedrängt wird und dabei hauptsächlich die Dienste der 
Vertreter der Praxis für sich zu gewinnen bestrebt sein muß. Der künst¬ 
lerischen Beurteilung unserer Kirchenmusik wollen wir eine Gasse 
zu bahnen suchen. Welches Maß von Vorkenntnissen, Kenntnissen und 
Erkenntnissen diese Beurteilung von Werken kirchlicher Tonkunst erfordert, 
ist hier nicht näher zu untersuchen. Es sollte nur hingewiesen werden auf die 
dringende Notwendigkeit, — in unseren Tagen wieder die künstleri¬ 
sche Bedeutung und den künstlerischen Charakter der Kirchenmusik mit 
besonderem Akzent zu betonen. 

(„Kongreß-Bericht“ S. 548ff.) 


Der kirchenmusikalische Kurs in Pilsen 1909. 

D er Präses der kirchenmusikalischen Vereine und intellektuelle Urheber 
aller kirchenmusikalischen Reform in Böhmen, Mons. Ferd. Lehner, 
welcher im Sinne von Dr. Witt und Dr. Haberl 34 Jahre lang seine kirchen¬ 
musikalische Monatschrift „Cyrill“ leitete, kann am Abende seines Lebens mit 
Freude die vielen Früchte seiner langjährigen Arbeit begrüßen. Die von ihm 
gegründeten Vereine „Jednoty cyrillskä“ entfalten überall ein sehr reges Leben 
und veranstalten in den Städten oder Klöstern alljährlich instruktive Kurse. 

Sehr bemerkenswert war besonders der heurige, von mehr als 200 Chor¬ 
regenten, Kirchenmusikern und Priestern besuchte Kurs in Pilsen am 9. und 
10. September. Man wählte mit Vorliebe diese Stadt, weil hier durch den 
unermüdlichen Eifer des weit über die Grenzen Österreichs bekannten Chor¬ 
direktors Norbert Kubät ein vorzüglich geschulter Sängerchor zu Gebote stand. 

Am 9. September um 8 Uhr früh hielt der Vizepräses der „jednota 
cyrillskä" Mons. A. Wünsch in der Erzdekanalkirche eine treffliche Predigt 
über die Worte „Lobet den Herrn und singet Ihm,“ an die sich das Ponti¬ 
fikalamt, zelebriert vom Erzdechant von Pilsen, Joh. Öerny, schloß, wobei 
die prächtige „Missa jubilaei“ von Jos. Förster unter der Leitung des Direktors 
N. Kubät gesungen wurde; darnach spielte der Organist von Pilsen Sychra jun. 
meisterhaft den dritten Satz der Orgelsonate von Ed. Tinel, op. 29. 

KlrcbenmiHik. Jahrbuch. 23. Jahrg. 10 


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Der kirchenmusikalische Kurs in Piken 1909 


Um 11 Uhr vormittags eröffnete Mons. Wünsch die Versammlung 
mit einer herzlichen Begrüßung, der ein Vortrag von Prof. V. Müller—Prag 
über „Kunst und Moralität“ folgte. Nachmittags wurden nach einer An¬ 
sprache des Präses der Kirchenmusikvereine von Königgrätz, Dr. J. Mrstlk, 
einige Übungen im Choral nach der Editio Vaticana, gehalten; Herr Chordirektor 
B. Kaspar aus Smichov nahm dieselben sehr praktisch und gründlich vor. 
Daran reihte sich ein Vortrag des Dechant von Tachau, P. Emilian Paukner, 
Ord. Crucig., über die „Instrumentalmusik in der Kirche“ und später ein 
zweiter des gleichen Redners über das „Stabat mater“. Pfarrer Pavlicek gibt 
dann verschiedene Mittel an, wie man auch in den kleinsten Gemeinden eine 
gute Kirchenmusik erreichen könne: ein ständiger Chor, unermüdliche Übung 
und gute Harmonie zwischen dem Seelsorger und dem Chorregenten seien 
die Hauptsache. 

Am Abende des ersten Tages wurden in der Erzdechanalkirche folgendes 
Programm aufgeführt: Ign. Mitterer: „Caligaverunt“, M. Haller: „Tenebrae, 
factae sunt“, M. A. Ingegneri: „Jerusalem surge“, „Plange“, L. Ebner: „Adora- 
mus te“. 

Den Glanzpunkt der Produktion bildete jedoch das prächtige Stabat 
Mater von P. Griesbacher, wobei auch der Dirigent N. Kubät seinen Fleiß 
und sein großes Können an den Tag legte. Nach dem Segen kam als Ab¬ 
schluß der bis jetzt unbekannte 3-stimmige Gesang zu Ehren des hl. Wenzl 
aus dem XV. Jahrhundert, bearbeitet von dem Veranstalter des Kurses, dem 
unermüdlichen Redakteur des „Cyrill“, Prof. D. Orel—Prag, zur Aufführung. 
Die Zusammenstellung eines Informations-Programms und dessen Verteilung 
unter das Volk hat sich als eminent praktisch bewährt; der Kirchenbesuch 
und das Verständnis aller Chöre wurden dadurch wesentlich gefördert. 

Am zweiten Tag früh 8 Uhr hörten wir bei dem Hochamte die einfach 
edle Messe „Stella matutina“ von P. Griesbacher und beim zweiten Hochamte 
um 9 Uhr die interessante „Missa jubilaei“ von N. Kubät für gemischten Chor 
mit Orgel, 2 Trompeten und 2 Posaunen. Nach dem Gottesdienste spielte 
M. Sychra zwei Sätze aus der (als Beilage zum „Cyrill“ erschienenen) Orgel¬ 
sonate von F. Musil. Der Präses Dr. Mrstlk sprach dann über die Auf¬ 
gaben der Kirchenmusiker nach dem „Motu proprio“ und der fürsterz¬ 
bischöfliche Sekretär aus Prag, Dr. Hrubik, „Über die liturgische Bedeutung 
des Kirchenchors.“ 

Nachmittag hielt Ph. C. Sychra einen Vortrag über die Geschichte der 
Orgel und des Orgelspieles in Böhmen.“ Seine gründliche Arbeit, ein Resultat 
langjähriger Forschungen, brachte viel Neues über das Orgelspiel des 17. und 
18. Jahrhunderts. Während des Vortrages beehrten die Herren Dr. Wein¬ 
mann—Regensburg und Bischöfl. Rat Kappenberg — Wesel, von der Ver¬ 
sammlung begeistert begrüßt, den Kurs mit ihrem Besuche. 

Von reicher Erfahrung zeigte der Vortrag des Pfarrers A. Soukup „Uber 
die Hindernisse der kirchenmusikalischen Bewegung in Böhmen und ihre 
Beseitigung“ und die geistreiche Schlußrede von Prof. Orel, in welcher der¬ 
selbe auch mehrere Beratungspunkte für die zukünftigen Diözesansynoden 
vorschlug. 

Um 3 Uhr Nachmittags war Schlußandacht. Es kam zur Aufführung: 
Credo aus der „Missa S. Godehardi“ von P. Griesbacher und „Domine Deus* 
von Haller; bei dem Pontifikalsegen sang das Volk abwechselnd mit den 


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Papst Gregor der Große ein Ire? 


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Priestern am Altäre eine Litanei zum heiligen Joseph von N. Kubät Mit 
dem feierlichen „Te Deum“ 4-stimmig mit Orgel von V. Goller, schloß die 
erhebende Feier und damit der lehrreiche Instruktionskurs, der für die Zu¬ 
kunft der Musica sacra in Böhmen die reichsten Früchte zeitigen möge! 

Stift Tepl V.J. Vacek 


Papst Gregor der Gro&e ein Ire? 

Unter diesem Titel bespricht Dr. Viktor Lederer-Wien im Kirchenmusi¬ 
kalischen Jahrbuch (XXL Jahrgang 1909. S. 172) die Behauptung von 
der irischen Abstammung des heiligen Gregor in meiner „Geschichte der 
Irischen Musik.“ Vielleicht ist es von Interesse, den Stammbaum des berühmten 
Papstes mitzuteilen, wie er in dem Buche von Lecan, einer äußerst vertrauens¬ 
würdigen Hs. des 14. Jahrhunderts erwähnt wird. Bekanntlich hieß der 
Vater des heiligen Gregor Gordianus. Dieser latinisierte Name wird in dem 
irischen Stammbaum mit Crannfoltach gegeben, welche Bezeichnung ein ge¬ 
naues Äquivalent für Gordianus ist. Hinwiederum gibt das Buch von Lecan 
den Großvater des heiligen Gregor mit Femolt, was als gleichbedeutend mit 
Felix IV. gelten kann. Hier ist der irische Stammbaum: 

Cairbre Muse 

I 

Core -Duibhne 

I 

Cormac Finn 

I 

Jorcuinn 

I 

Cor 

I 

Nathi 

I 

Arda 

I 

Connla 

I 

Femolt 

I 

Crannfoltach 

I 

Gregoir “beloir” 

(of the golden mouth) 

Cairbre Muse stattete dem Kontinent mehrere Besuche ab und ist eine 
wohlbekannte historische Persönlichkeit Er ist der Sohn von Conaire II., 
des Oberkönigs von Irland (212—220); sein Stamm hieß Muscraidhe, nun 
bekannt als Muskerry, Co. Cork. Und es darf nicht vergessen werden, daß 
der hl. Columban ein Freund des heiligen Gregor war. 

Enniscorthy (Irland) Dr. W. H. Grattan Flood 


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15 

Kritiken und Referate 

£1 

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I. Musikwerke 


Denkmäler deutscherTonkonst. Erste 
Folge, Band XXXIV. — Newe 
Dendsche Geistliche Gesenge für 
die gemeinen Scholen. Gedrnckt 
zn Wittemberg durch Georgen 
Rhau. 1544. — Heraasgegeben 
von Johannes Wolf. Leipzig, 
Breitkopf & Härtel. 1908. Preis 
20 Mk. 

Rhaws „Neue Deudsche Gesenge“ neh¬ 
men in der Literatur der ersten evangelischen 
Liederbücher einen hervorragenden Platz ein. 
Sie sind nach Walters Wittembergisch Geist¬ 
lich Gesangbüchlein von 1524 das erste Sam¬ 
melwerk, in dem sich eine Reihe der bedeu¬ 
tendsten Tonsetzer der Zeit in der kunstvollen 
Bearbeitung entweder älterer Choralmelodien 
oder weltlicher, in den Schatz des Kirchen¬ 
gesangs aufgenommener Weisen zusammen¬ 
fanden. „Für die gemeinen Schulen“ sind 
sie bestimmt, d. h. zum Absingen für den 
Schulchor, der bis auf weiteres noch statt 
der ungeübten Gemeinde die Funktion des 
Choralgesangs im Gottesdienst übernahm. In¬ 
folgedessen liegen die Choralmelodien nach 
alter niederländischer Art noch im Tenor, 
nicht in der Oberstimme, wie das später seit 
1586 durch Osiander Brauch wurde. Es sind 
ganz köstliche Früchte, die hier der jungen 
Gemeinde in Fülle dargeboten werden als 
Entschädigung für das, was sie an Chormusik 
zugleich mit dem älteren Bekenntnis aufeuge- 
ben im Begriff war. In den Dienst der Sache 
stellten sich Männer wie Arnold de Bruck, 
Sixt Dietrich, Thomas Stoltzer, Benedikt Du- 
cis, Ludwig Senfl, Martin Agricola, Stephan 
Mahu, Balthasar Resinarius, aber auch be¬ 
scheidene Talente wie Johannes Stahl, G. 
Voglhuber, Virg. Hauck u. a., bei denen die 


Begeisterung für die neue Lehre größer war 
als das technische Können. An Vielseitigkeit 
läßt es die Sammlung nicht fehlen: neben 
kleinen, zum Teil im schlichten Satz Note 
gegen Note gehaltenen Bearbeitungen finden 
sich solche mit Aufgebot höchster kontra- 
punktischer Kunst, neben kurzen Stücken mit 
nur einer Durchführung stehen mehrteilige 
große Motetten, und bei einer ganzen Anzahl 
von Melodien hat der Sangmeister Gelegen¬ 
heit, unter vier oder fünf verschiedenen Be¬ 
arbeitungen zu wählen. Mit Prachtstücken 
sind vertreten Senfl, Sixt Dietrich (darunter 
die schöne vierteilige Motette „Vater unser 
im Himmelreich“), Ducis, Stoltzer, dem man 
mit fünf auserlesenen Sätzen (vor allem Nr. 34 
über den 34. Psalm) zu begegnen sich beson¬ 
ders freut. Resinarius wurde von Rhaw mit 
30 Gesängen vor allen andern bevorzugt, 
rühmte er doch von ihm „Magna eius est 
facilitas et suavitas, nihil habet detorti, con- 
fracti et asciti.“ In der Tat fließen seine 
Tonsitze trotz der häufigen kanonischen Füh¬ 
rungen der Oberstimmen ungemein glatt dahin 
und kennzeichnen ihre suavitas schon äußer¬ 
lich durch den Reichtum an Fiorituren und 
lebhaften Durchgängen. Man wünschte ihm 
freilich sehr oft etwas mehr von der Herb¬ 
heit und markigen Kraft eines Senfl oder 
Ducis oder Rhaw selbst, der wohl als Ver¬ 
fasser der zwölf anonymen Stücke angenom¬ 
men werden darf. Ein paar recht tüchtige 
Tonsätze rühren auch von Lupus Hellingk 
her, der sein Leben in Brügge verbrachte, 
schon 1540 gestorben war und wohl nur 
schriftlich mit Rhaw und dem Wittenberger 
Kreise in Verbindung getreten war. Ganz 
ungeschickt und verlegen stellen sich die un¬ 
bekannten Ulrich Bretel, Viig. Hauk, Vogl¬ 
huber an, bei denen es nicht nur freie Quar¬ 
tenparallelen regnet, wie freilich auch noch 


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Kritiken und Referate 


149 


bei vielen anderen des Bandes z. B. Senfl, 
Resinarius, sondern sogar Quintenparallelen. 
Irgendwelche persönliche Verpflichtungen mö¬ 
gen sowohl hier wie bei Weinmann, Stahl, 
Heintz und Nicolaus P. (den der Heraus* 
geber als Nik. Piltz rekognosziert) Rhaw zur 
Aufnahme ihrer bescheidenen Beiträge be¬ 
stimmt haben. 

Der Band ist eingeleitet und mit dan¬ 
kenswerten Angaben der Text- und Melodie¬ 
quellen versehen von Johannes Wolf. Als 
Kunstbeilage ist beigeheftet die Abbildung 
einer aus Schleusingen stammenden, vermut¬ 
lich für die Hochzeit des Grafen Georg Emst 
von Henneberg mit Elisabeth von Württem¬ 
berg 1568 in Plattstickerei angefertigten Lei¬ 
nendecke aus dem Berliner Kunstgewerbe¬ 
museum, die neben allerlei tanzenden und 
spielenden Figuren an jeder ihrer vier Seiten 
ein Notensystem mit je einer Stimme der 
von Martin Agricola herrührenden Bearbei¬ 
tung des Lutherliedes „Ein feste Burg“ trägt, 
derselben, die Rhaw auf|genommen hat. Ein 
kleineres Quadrat enthält in derselben Weise 
die vier Stimmen eines Instrumental-Tanzes 
nebst Proporz. 

Leipzig Dr. A. Schering 


Denkmäler der Tonkunst in Öster¬ 
reich. XVL Jahrgang. Erster Teil. 
Heinrich Isaac, Ghoralis Con- 
stantinus II. Herausgegeben 
von Anton von Webern. Mit ei¬ 
nem Nachtrag zu den weltlichen 
Werken von Heinrich Isaac. 
Herausgegeben von Job. Wolf. 
Wien, 1909. Artaria & Go. Leipzig, 
Breitkopf & Härtel. Preis 21 M.— 

Die allgemeine Bedeutung des berühmten, 
monumentalen Choralmotettenwerkes Isaacs 
ist im Kirchenmusikalischen Jahrbuch bereits 
bei Besprechung des 1898 erschienenen ersten 
Teils kurz gewürdigt worden. (Jahrgang 1905, 
Seite 168 ff.) Der nunmehr veröffentlichte 
zweite Teil, im Original 1555 gedruckt, um¬ 
faßt fünfundzwanzig Offizien für die Haupt¬ 
feste des Kirchenjahrs und für die Feste der 
Heiligen Geberhardus, Martinus, Konradus 
und der Maria Magdalena. Da die drei erst¬ 
genannten Konstanzer Ortsheilige sind, ist 


damit aus dem Werk selbst der sicherste 
Nachweis für Isaacs Aufenthalt in Konstanz 
und die Verwendung eines Konstanzer Gra- 
duales als Vorlage zu führen. In einer präch¬ 
tigen Spezialstudie hat der Herausgeber als 
Einleitung den Stil und die künstlerische Be¬ 
deutung des Werkes und seines Schöpfers 
analysiert. Mit der das Höchste an polyphoner 
Kunst bietenden Stimmführung erweist sich 
Isaac als ächter Sprößling der niederländischen 
Schule: dabei schwebt über dem Ganzen eine 
solche Fülle künstlerischer Phantasie, daß 
man bei aller Kunstfertigkeit doch nirgends 
den peinlichen Eindruck eines musikalischen 
Rechenexempels hat. Besondere Wirkungen 
weiß Isaac dadurch zu erzielen, daß, obwohl 
die Stimmen ganz gleichberechtigt neben¬ 
einander hergehen, doch immer die in ihrer 
Entwicklung jeweils bedeutendste in den Vor¬ 
dergrund tritt. Das ist schon ein Anzeichen 
der nahenden Zeit des Stile nuovo und seiner 
Unterscheidung von Haupt- und Nebenstim¬ 
men. Auch an Kontrasten ist Isaaks Tonsatz 
reich und zwar nicht nur in der feinen Nach¬ 
tönung der verschiedenartigen künstlerischen 
Stimmungen der heiligen Texte, sondern auch 
in dem Wechsel der musikalischen Ausdrucks¬ 
mittel. Dabei ist es namentlich von großer 
Wirkung, wenn dem in reichster Polyphonie 
schwelgenden Ganzen gelegentlich ein kleines 
homophones Sätzchen eingereiht erscheint, 
wie z. B. die schlichten Akkordklänge der 
Prosa „Qui cceli qui terra regit sceptra.“ — 
Die editionstechnische Seite der Ausgabe ver¬ 
dient alle Anerkennung; insbesondere in der 
akzidentalen Frage zeigt der Herausgeber eine 
sehr geschickte Hand und scheint mir den 
rechten Mittelweg zwischen historischer Strenge 
und modernem Empfinden gefunden zu haben. 

Als Anhang sind dem Band Nachträge 
zu Isaacs weltlichen Werken (Denkm. d. T. 
in Österreich, 1907, I. Bd.) beigegeben. Es 
sind einige deutsche, französische und italieni¬ 
sche Lieder, ein lateinischer Gesang und 
diverse Instrumentalstücke, die nach einer 
Reihe neuentdeckter Quellen, namentlich aus 
der Bibliotheca Nazionale in Florenz von Jo¬ 
hannes Wolf in bekannt streng philologisch 
gründlicher Edition vorgelegt werden. 

Starnberg Dr. Eugen Schmitz 


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Kritiken und Referate 


Denkm&ler der Tonkunst in Öster¬ 
reich. XVL Jahrgang. Zweiter Teil. 
Johann Georg Albrechtsberger» 
Instrumentalwerke. Herausge¬ 
geben von Oskar Kapp. Wien» 
1909. Artaria & Go. Leipzig» Breit¬ 
kopf & Härtel. Preis 12 M. 

Der Band bietet einen weiteren Beitrag 
zur Geschichte der Wiener Instrumentalmusik 
in den Anfängen des klassischen Zeitalters. 
Albrechtsberger» dessen Lebenszeit (1736 bis 
1809) beiläufig mit der Haydns zusammen¬ 
fällt». ist mit der Geschichte der klassischen 
Musik ja noch besonders als einer der Lehrer 
Beethovens verknüpft» wie überhaupt die 
Musikgeschichte den Namen des Meisters 
seither hauptsächlich in den Reihen der Theo¬ 
retiker buchte. Der Herausgeber des Bandes 
hat eine in dankenswerter Weise kurz orien¬ 
tierende, biographische Skizze vorgelegt, die 
über den an äußeren Ereignissen nicht sehr 
reichen, in stets ansteigender Linie vom Or¬ 
ganistendienst im Benediktinerstift Melk zum 
Kapellmeisteramt am Wiener Stephansdom 
führenden Lebenslauf Albrechtsbergers Auf¬ 
schluß gibt. Eine Spezialuntersuchung über 
den Instrumentalstil des Meisters wird als 
Separatveröffentlichung für später in Aussicht 
gestellt; sie wird nicht unnötig sein, denn 
die diesbezüglichen dem Band vorläufig bei¬ 
gegebenen Notizen sind nicht nur sehr dürf¬ 
tig, sondern gehen auch vielfach von unklaren 
und historisch unrichtigen Voraussetzungen 
aus. Namentlich Albrechtsbergers entwick¬ 
lungsgeschichtliche Stellung zu Beethoven 
dürfte mit dem Satz: „Seine (Albrechtsber¬ 
gers) höchst kunstvoll gebauten kanonischen 
Kompositionen liegen auf dem Wege, welcher 
von der Instrumentalfüge Seb. Bachs zu der 
Beethovens führt,“ kaum den Tatsachen ent¬ 
sprechende Charakterisierung erfahren haben. 
Mit Recht sagt der Beethovenbiograph Marx: 
„Die Beethovenschen Fugen lassen bei allem 
Geistvollen und künstlerisch, namentlich für 
den jedesmaligen Zweck Bedeutenden gerade 
das vermissen, was das Ergebnis einer tüch¬ 
tigen Schule ist, bald die vollkommene Fugen¬ 
mäßigkeit des Themas, bald die Gediegenheit 
des Baus und seine Gliederung im Sinne der 
Fugenform. M Also gerade das, was Albrechts¬ 
berger ihm hätte vermitteln können, das 
technische Rüstzeug, hat Beethoven nur 
mangelhaft angenommen. „Gehen Sie nicht 


mit dem um, der hat nichts gelernt und wird 
nie etwas Ordentliches machen,“ sagte darum 
Albrechtsberger, als die Quartette opus 18 
erschienen waren, zu einem befreundeten 
jungen Musiker. Und wo sich Beethoven in 
jener früheren Epoche seines Schaffens — 
selten genug — einmal bemühte, etwas Fu- 
giertes oder Kanonisches zu schreiben, wie 
z. B. in den Prometheus-Variationen, opus 35, 
da wird man den Eindruck des „Studien- 
haften“, Gezwungenen, künstlerisch Unfreien 
nicht los. Zu seinem Heil riß der Faden, 
der ihn mit Albrechtsbergers Geisteswelt ver¬ 
knüpfte, ab, ehe er nur zu festem Halt ge¬ 
sponnen war, und als der „letzte Beethoven“, 
der Beethoven der grandiosen Bdur-Quartett- 
fuge dem kontrapunktischen Stil zum ersten¬ 
mal breiteren Raum im Rahmen seines Schaf¬ 
fens gönnte, geschah es in einer Art und 
Weise, für die „verantwortlich“ zu sein, der 
wackere weiland Domkapellmeister von St 
Stephan wohl als erster mit Entsetzen und 
Abscheu abgelehnt hätte. Hier also eine ent¬ 
wicklungsgeschichtliche Linie konstruieren zu 
wollen, muß als durchaus verfehlt abgelehnt 
werden. 

Die praktisch künstlerischen Beispiele 
von Albrechtsbergers Kontrapunkt, die unser 
Denkmälerband mit einer Reihe Präludien 
und Fugen vorlegt, muten im übrigen keines¬ 
wegs „trocken“ an; sie klingen vortrefflich 
und sind teilweise so „unterbaltlich“ (z. B. 
gleich das erste Adur-Präludium) wie man 
es von solch strengen Formen kaum erwarten 
sollte. Allein gerade darin liegt ihr Deka¬ 
denzcharakter; trotz der technisch tadellosen 
Gediegenheit ists geistig, künstlerisch genom¬ 
men, doch recht leichte Ware, was Albrechts¬ 
berger hier bietet. Dem Zeitgeschmack 
hätte dieser Mangel künstlerischer Tiefe zwar 
keineswegs widerstrebt, dagegen tat dies die 
Wahl des fugierten Stils überhaupt; die we¬ 
nigen ernsteren Elemente der Musikwelt 
aber, die den fugierten Stil schätzten, forderten 
andererseits wieder mehr künstlerische Tiefe 
und hielten sich darum lieber, wie der Her¬ 
ausgeber zu Recht bemerkt, an die eben 
damals zu neuem Leben erstehenden Denk¬ 
mäler einer großen Vergangenheit, wie Bachs 
1800 zum ersten Male gedrucktes „Wohltem¬ 
periertes Klavier.“ So konnten Albrechts¬ 
bergers fugierte Stücke also weder bei den dem 
Modegeschmack huldigenden, noch bei den 
ernster veranlagten Musikern und Musik¬ 
freunden rechten Anklang finden, woraus sich 


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Kritiken und Referate 


151 


ihre ziemlich geringe Verbreitung und ihr 
rasches Vergessenverden erkürt 

Interessanter als die fugierten sind die 
Kammermusikwerke und Sinfonien Albrechts¬ 
bergers, deren unser Band einige neu vorlegt. 
Freilich des Meisters konservative Richtung 
ließ ihn auf diesem damals wichtigsten Ge¬ 
biet musikalischen Neulandes nur mit ziem¬ 
lich zager Zurückhaltung sich bewegen; jenen 
frisch vorwärts drängenden Geist, der uns 
bei Künstlern wie Monn und Genossen be¬ 
gegnet — von Haydns sinfonischem Jugend¬ 
schaffen, das nunmehr in den drei ersten 
Bänden der Gesamtausgabe zutage gefordert 
ist, ganz zu schweigen — treffen wir in Al¬ 
brechtsbergers Werken kaum je an, und auch 
formal ist in ihnen der Übergangsstil vom 
Alten zum Neuen stärker ausgeprägt, als sich 
mit einheitlicher künstlerischer Wirkung ver¬ 
trägt. Als Bausteine des klassischen Instru¬ 
mentalstils können diese Werke daher, wie im 
Gegensatz zu den allgemeinen Bemerkungen 
des Herausgebers bemerkt werden muß, nur 
sehr teilweise in Betracht kommen. Das den 
Reigen der Kammermusikwerke eröffnende 
„Quintuor“ in Cdur und die folgende vier¬ 
stimmige Asdur-Sonata gehören nach Form 
und Inhalt noch ganz ausgesprochen der Wel£ 
der alten Sonata da camera an. Namentlich 
die 1792 (!) datierte Sonate mit der Satzfolge 
Adagio-Fuga könnte äußerlich genommen recht 
wohl dem Kreis dal’Abacos entstammen. 
Auch das in der Zusammensetzung Andante- 
Menuetto-Trio-Scherzando ziemlich buntfarbige 
„Quartetto II“ erinnert noch stark an die Zeit 
der Divertimenti, Cassationen etc. In der 
Form entschieden den neuen Bahnen folgen 
dagegen Quartetto I und Quartetto III, die 
beide viersätzig sind, an dritter Stelle Me¬ 
nuett und Trio haben und in einem Finale 
(Quartetto III) die Rondoform bringen. Aber 
der Tonsatz hat sich doch auch hier noch 
nicht ganz von den Banden der alten kontra¬ 
punktischen Schreibweise freigemacht, und 
die thematische Erfindung beruht namentlich 
in den raschen Sätzen, wie etwa im Allegro 
moderato des ersten Quartetts, zu einem gu¬ 
ten Teil auf der inhaltlosen äußerlichen Ak¬ 
kord- und Skalenmelodik der neapolitanischen 
Opernsinfonien. Noch schärfer tritt dieser 
Zug bei den beiden Sinfonien Albrechts¬ 
bergers , deren Kenntnis unser Denkmäler¬ 
band vermittelt, zutage. Gleich das Thema 
des ersten Satzes der Cdur-Sinfonie: 



ist dafür charakteristisch. Im übrigen ent¬ 
spricht der Stil dieser Sinfonie in dem Schwan¬ 
ken zwischen alten und neuen Elementen bei¬ 
läufig der charakterisierten Kammermusik Al¬ 
brechtsbergers, nur daß das Neue doch etwas 
mehr vorwiegt, wobei eine Stelle des ersten 
Satzes als besonders merkwürdig hervorgeho¬ 
ben sei. Nach dem Abschluß der ersten The¬ 
mengruppe auf der Dominante g geht es da 
folgendermaßen weiter: 



Die dynamisch feinsschattierte originelle 
Terzen- und Unisonoüberleitung, die zu dem 
jähen modulatorischen Ruck nach Esdur führt: 
das ist ächter „Stile nuovo“, ein leider nur 
sehr vereinzelter Zug, der an die bevorstehende 
Meisterzeit des Haydnstils (Albrechtsbergers 
Sinfonie ist von 1768 datiert) gemahnt. Die 
zweite Sinfonie, als „Sinfonia concertino“ be¬ 
zeichnet, ist eine jener damals noch häufigen, 


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152 


Kritiken und Referate 


bekanntlich auch in Haydns früherem sinfo¬ 
nischen Schaffen nicht seltenen Erinnerungen 
an das alte Concerto grosso, aus dessen Schoß 
sich ja die neuere Sinfonie entwickelte. Da¬ 
mit ist von vorneherein gesagt, daß auch in 
diesem Werk der ältere Stil noch reichlich 
dominiert. Namentlich die bombastische aber 
nichtssagende Opemsinfonienthematik tritt hier 
im ersten Satz noch ganz besonders deutlich 
hervor: 


Allegro 





auch die für solche Tonstücke stereotype 
Tonart Ddur ist in diesem Sinne charakteri¬ 
stisch. Als konzertierendes Instrument tritt 
ein Violino principale auf; außerdem sind im 
Andante noch Fagott und Horn, im Trio die 
Flöte solistisch behandelt. 

Der Revisionsbericht scheint, soweit sich 
dies ohne Vergleich der Originalquellen be¬ 
urteilen läßt, mit Sorgfalt behandelt. Dagegen 
vermißt man eine Äußerung über die bei allen 
derartigen Publikationen sehr wichtige Con- 
tinuofrage. Es liegen in diesem Punkt die 
Verhältnisse bei Albrechtsberger wohl ähnlich 
wie bei Haydns Jugendsinfonien, bezüglich 
deren Hermann Kretzschmar mit bekannt 
meisterhafter Klarheit die einschlägige Frage 
behandelt hat. Jedenfalls erfordert die Ddur- 
Sinfonie ihrer Herkunft vom Concerto grosso 
halber das Akkompagnement; die Cdur-Sin- 
fonie kann seiner fast durchweg entbehren; 
nur im Andante scheinen es einige leere 
Stellen zu fordern, während die Kammermusik¬ 
stücke wohl durchaus ohne Continuo gemeint 
sind. 

Starnberg Dr. Engen Schmitz 


Orlando di Lasso. Sämtliche 
Werke. 19. Band. Herausgegeben 
von F. X. Haberl. Leipzig, Breit¬ 
kopf & Härtel. Preis 20 Mk. 

Der vorliegende 10. Teil des magnum 
opus bringt die sechsstimmigen Motetten zum 
Ende, enthält alle siebenstimmigen und eine 


Anzahl achtstimmiger Motetten. In meiner 
„Geschichte der Motette“ habe ich die neun 
ersten Bände des magnum opus einer näheren 
Betrachtung unterzogen. Als Ergänzung jenes 
Lasso-Kapitels sei hier der zehnte Band in 
ähnlicherWeise behandelt. Aus Nr.671, Quam 
bonus Israel, sei die Verwendung des nea¬ 
politanischen Sextakkordes angemerkt, b in 
der a-moll Kadenz: 


$ - ^ -^=4 

""rr 

-~a!— 

mo - ti 

12=^- - _-=i 

— 1 —— • 

sunt 


— - 



pe 

des 


Im folgenden Stück Nr. 672, Quia non 
est respectus mortis, fällt wiederum eine 
merkwürdige Verwendung von b in der Cdur- 
Kadenz auf, die Akkordfolge Bdur, Cdur, 
Gdur, Cdur bei den Worten „in plagaeorum.“ 
Nr. 673> Timor et tremor, ist ein alt¬ 
berühmtes Stück, eine der allerwertvollsten 
unter Lassos Motetten. Nicht minder ergrei¬ 
fend und großartig ist der dazu gehörige zweite 
Teil Nr. 674, Exaudi Deus, deprecatio- 
nem meam. Beide Stücke sind im wesent¬ 
lichen homophon, stellen das harmonische 
Element in den Vordergrund, freilich nicht 
rein akkordisch, sondern mit der feinsten ko¬ 
loristischen Abtönung durch immer wech¬ 
selnde Verteilung auf die sechs Stimmen. Die 
Hauptwirkungen werden erzielt durch frap¬ 
pierende Verwendung des Querstandes und 
durch harmonische Sequenzen (s. den Schluß 
von Nr. 674). Dieses Doppelmotett stammt 
aus des Meisters früherer Zeit, als er eine 
Zeitlang stark mit Chromatik experimentierte 
(zuerst 1566 erschienen). Zu vollen Ehren 
kommt die eigentliche polyphone Motetten¬ 
schreibart nach alter niederländischer Weise 
in dem kunstvoll gesetzten Quemadmodum 
desiderat cervus (Nr. 677), mit durchge¬ 
führtem Kanon zwischen Alt und Tenor. 
Hellere Farben, dialogische Schreibart herr- 


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UNIVERSITX0F-MO4JGAN 








Kritiken und Referate 


153 


sehen vor in Nr. 675, Voce tnea ad Domi¬ 
num clamavi und Nr. 676, Cantate Do¬ 
mino canticum novum. Man beachte in 
Nr. 675 die prachtvolle, erhebende Wirkung 
des ersten Eintritts aller sechs Stimmen (in 
der Mitte bei den Worten: „renuit consolari 
anima mea“) und die hochinteressante Durch¬ 
führung des Schlußmotivs (S. 13). Nr. 676 
ist durch zuversichtlichen, glaubensfreudigen 
Ton gekennzeichnet; in dieser Hinsicht von 
großer Stärke und mächtiger Wirkung; um 
nur zwei Einzelheiten hervorzuheben: wie 
packend in der Mitte der Höhepunkt: „Do¬ 
minus autem coelos fecit“ mit dem strahlen¬ 
den Edur und Adur; wie von Ehrfurchts¬ 
schauern durchbebt wirkt dagegen der Bdur 
Eintritt am Schluß, die großartige Phrase: 
„adorate Dominum in atrio sancto;“ man 
sollte die Stelle trotz des tutti aller sechs 
Stimmen, beim Vortrag mehr mezzo-piano 
halten, um ihren starken Gefühlsausdruck 
ganz herauszubringen. Nr. 679 ist eine Kom¬ 
position des gesamten Te Deum laudamus, 
ein sehr umfangreiches Stück in fünfzehn 
kürzeren Abteilungen, in kunstvoller Weise 
mit Einflechtung des gregorianischen cantus 
firmus komponiert, im einzelnen voll von 
feinen Zügen. Damit sind die sechsstimmigen 
Motetten im eigentlichen Sinne zu Ende ge¬ 
bracht. Es folgt noch eine Reihe sechsstim¬ 
miger Stücke über lateinische Gedichte meist 
unbekannter Autoren, die sich ähnlichen 
Stücken in den früheren Bänden der Gesamt¬ 
ausgabe anschließen. Lasso bindet sich ziem¬ 
lich streng an das Metrum des Textes, skan¬ 
diert ihn sozusagen in seiner Musik, bald in 
ziemlich homophoner Weise, bald mehr in 
Motettenart. Es finden sich unter diesen 
„Konzertmotetten,“ wenn man sie so nennen 
darf — für die Kirche kommen sie kaum in 
Betracht — höchst bemerkenswerte Stücke. 
Das genialste darunter ist zweifellos der Chor 
der Verdammten Heu quos dabimus(Nr.687) 
samt seiner Fortsetzung Mens mala con- 
scia terrore labat (Nr. 688). Hier lebt 
eine so finstere Gewalt, etwas dermaßen Gi¬ 
gantisches, machtvoll Tragisches, daß man 
wohl glauben kann, so und nicht anders mü߬ 
ten die Verdammten in Michelangelos Jüng¬ 
stem Gericht sich vernehmen lassen. Sehr 
bedeutend ist auch Nr. 693, Musica Del do- 
num, ein weihevoller Lobgesang auf die 
Musik. Von ein paar anderen interessanten 
Stücken kann man leider keinen vollen Ein¬ 
druck erhalten, weil durch ein bedauerliches 


Versehen beim Druck die Seiten 67 und 68, 
77 und 78 fehlen und dafür die Seiten 57, 58 
dreimal abgedruckt sind. Allen Inhabern des 
Bandes sollten vom Verlag die fehlenden Sei¬ 
ten noch nachträglich geliefert werden. 

Die siebenstimmigen Stücke sind fast 
alle von außerordentlich hohem Werte. Leider 
fehlt auch der Anfang des ersten Stückes, Ne 
reminiscaris Domine, infolge des angege¬ 
benen Versehens. Gerade diese Motette scheint 
eine der erhabensten des ganzen Bandes zu 
sein. Welchem der herrlichen siebenstimmi¬ 
gen Stücke man den Vorzug geben soll, ist 
schwer zu sagen. Für sich allein steht Nr. 712, 
13 Heu quos dabimus miseranda co- 
hors, eine zweite Komposition desselben 
Klagegesanges der Verdammten, von dem oben 
schon die Rede war. Auch das siebenstim¬ 
mige Stück ist voll von genialen Zügen, wie 
z. B. der packende Querstand c—cis gleich 
zu Anfang auf das Wort „gemitus:“ 





mi - tus 

Von großartigem Pathos ist der Dialog 
in Nr. 713 von der Stelle an: Cur haec mi- 
seris invisa parens?, immer je vier hohe und 
tiefe Stimmen abschnittweise gegeneinander, 
bis zum Schluß. Alle anderen siebenstim¬ 
migen Stücke sind kirchliche Motetten, im 
reinsten klassischen Motettenstil geschrieben. 
Meistens handelt es sich um Psalmkomposi¬ 
tionen. Technisch besonders interessant ist 
von diesen Nr. 705 Providete Dominum, 
dialogisch gesetzt für je einen Chor von drei 
hohen und vier tieferen Stimmen. Im Schlu߬ 
abschnitt von den Wörtern an „videre corruptio- 
nem“ brachte man die treffliche Verwendung 
der Sequenz bei der Steigerung. Einfacher 
gehalten sind Nr. 703 und 704. 


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154 


Kritiken und Referate 


Nr. 705, Decantabat populus Israel, 
ist ausgezeichnet durch volkstümliche Melo¬ 
dik, die )a Lasso nicht selten anwendet Man 
verfolge z. B. den Verlauf der ersten Melodie- 


phrase in den b 

Jtl» gV -\ar— 

eiden Sopranen: 

|~pTT~J J 

=j=g=j 


* L Sopn 

Rf 

in. 



y ■' T— 

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'ß m m gm 

Tr fl 

< y f r i ■ — 

) JJ. 


n. Sopran. 


Einfach im Sinne der Durtonleiter har¬ 
monisiert, ergibt diese Phrase ein reizendes 
marschartiges Thema. 

Nr. 704, Laudate pueri Dominum, ist 
von großer Klarheit, schwungvoll, kräftig, hell. 

Vom höchsten Wert sind Nr. 700 und 702. 
Estote ergo misericordes (Nr. 702), ein 
ziemlich einfach, zumeist dialogisch gehaltener 
Gesang, ist von einem kostbar milden Klang, 
dabei aber doch von großer Erhabenheit; ruhige, 
breite Entfaltung. Nr. 700, Vide homo qu® 
pro te patior, auch dialogisch behandelt, ist 
von einer höchst bemerkenswerten Eindring¬ 
lichkeit. Man verfolge z. B. nur den Gang 
der Oberstimme, beachte die Steigerung der 
Rede bis zu den Worten „non est dolor“ in 
der Mitte, die Art, wie die Eindringlichkeit 
des Tons bis zum Schluß nun festgehalten 
wird. 

Eine Anzahl achtstimmiger Motetten 
bildet den Abschluß des Bandes. Zuerst 
stehen Gesänge, die Lasso für festliche Ge¬ 
legenheiten am Münchener Hofe geschrieben 
hat, Nr. 714 Quid vulgo memorant, zur 
Begrüßung des Kaisers Rudolf, ein pracht¬ 
volles pompöses Stück, das sich den besten 
Stücken dieser Art aus den früheren Bänden 
des magnum opus würdig anschließt. Eine 
ganze Reihe ähnlicher Festgesänge folgt. Ganz 
am Ende stehen noch zwei geistliche Stücke, 
Nr. 720 Bone Jesu und 721 Benedic Do¬ 
mine, domum, beides hervorragende Kom¬ 
positionen von herrlichem Klange. Die Schlüsse 
insbesondere sind von gewaltiger Wirkung. 


Die Redaktion dieses Bandes lag in den 
bewährten Händen des Herrn Dr. Haberl. 
Unnötig, zu sagen, daß sie mit der größten 
Sorgfalt und Sachkenntnis durchgeführt ist. 
Eine willkommene Beigabe bilden die von 
Herrn Dr. A. Patin aus Regensburg bewirk¬ 
ten Übersetzungen einiger schwieriger latei¬ 
nischer Texte. 

Berlin Dr. H. Leichteotritt 


Werke von Jakob Obrecht Heraus¬ 
gegeben für die „Vereenigung 
voor Noord-Nederlands Muziek- 
Geschiedenis“ von Prof. Dr. Jo¬ 
hannes Wolf. Amsterdam, Johannes 
Müller. Leipzig, Breitkopf & Härtel. 
Preis 1. Heft 5 M., 2. Heft 5 M. 

Von der Gesamtausgabe der Werke des 
großen niederländischen Meisters Jakob 
Obrecht liegen die ersten beiden Hefte vor. 
Sie enthalten die vierstimmige Messe: Je ne 
demande und vier Motetten. 

Ganz abgesehen von dem hoben künst¬ 
lerischen Wert der Messe ist die vorliegende 
Publikation schon deswegen bedeutsam, weil 
sie einen klareren Einblick gewährt in die 
niederländische Kompositionstechnik, als wir 
bei irgend einer bekannten Messe bis jetzt 
hatten. Dem Herausgeber ist zu danken für 
Beifügung der vollständigen chanson Je ne 
demande von Busnoys, die der Messe 
Obrechts zugrunde liegt. Es ist so die Mög¬ 
lichkeit gegeben, Obrechts technisches Ver¬ 
fahren Schritt für Schritt verfolgen zu können. 
Zumeist wird ein Motiv des Liedes als osti- 
nate Stimme in den Tenor gesetzt, die anderen 
Stimmen kontrapunktieren dagegen thematisch. 
Also im wesentlichen eine kontrapunktische 
Variationstechnik über ein ostinates Motiv im 
Tenor; Zwischenspiele füllen die Pausen des 
Tenors aus. Mit Vorliebe werden strecken¬ 
weise zwei Stimmen in Terzen geführt, sehr 
häufig gehen die Außenstimmen in Decimen 
bisweilen seitenweise miteinander. Als can- 
tus firmus dient zumeist die zweite Stimme 
von oben, der zweite Tenor des Busnoisschen 
Liedes. 

1. Kyrie, vierstimmig. Anfangsmotiv der 
Melodie von Busnois, 5 Töne im Tenor drei¬ 
mal, immer auf F eintretend, das letztemal 
Notenwerte auf die Hälfte verkürzt 


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Kritiken und Referate 


155 


Christe eleison, dreistimmig. Behan¬ 
delt ein nebensächliches Motiv des c. f. in 
freier polyphoner Weise. 

2. Kyrie, vierstimmig. Ober zweite Phrase 
der Melodie, 4 Töne, Motiv des c. f. im Te¬ 
nor, dreimal von c ausgehend, das dritte¬ 
mal Notenwerte auf die Hälfte verkürzt. 

Gloria. Dritte Phrase der Melodie voll¬ 
ständig (16 Töne) im Tenor, dreimal in immer 
kleineren Notenwerten; ziemlich lange Zwi¬ 
schenspiele. 

Qui tollis, vierstimmig. Vierte Phrase 
der Melodie (15 Töne) im Tenor, dreimal in 
wechselnden Notenwerten, das erstemal jede 
Melodienote = 5 Halben, das zweitemal = 
4 Halben, das drittemal = 3 Halben; kurze 
Zwischenspiele. 

Cum Sancto Spiritu, vierstimmig. 
Fünfte Phrase der Melodie, (5 Töne) dreimal 
im Tenor, das letzte Mal in halben Noten¬ 
werten. 

Credo, vierstimmig. Sechste Phrase der 
Melodie, 18 Töne im Tenor, viermal, die ersten 
Male in langen Noten, die beiden folgenden 
Male zweifach, das letztemal vierfach verkürzt. 

Et incarnatus est, vierstimmig. Sie¬ 
bente Phrase der Melodie, 24 Töne, im Tenor 
viermal, in immer kleineren Notenwerten, 
Noteneinheit das erstemal 12 Halbe, das zweite- 
und drittemal 4 Halbe, das letztemal 2 Halbe. 

Et in Spiritum Sanctum, einstimmig. 
Achte Phrase der Melodie, 6 Töne im Tenor, 
fünfmal, gegen das Ende zu in immer kür¬ 
zeren Notenwerten. 

Sanctus vierstimmig. Neunte Phrase 
der Melodie, 23 Töne, viermal im Tenor, in 
immer kürzeren Notenwerten. 

Pleni sunt cceli, dreistimmig. Die noch 
nicht behandelte zehnte Schlußphrase der Me¬ 
lodie (32 Töne) bleibt hier außer acht. Hier 
greift Obrecht wieder auf das allererste Mo¬ 
tiv (s. 1. Kyrie) zurück und behandelt es als 
ostinaten Baß; zwölfmal tritt die Baßphrase 
auf, bald auf f, bald auf c, einmal auf b, bis¬ 
weilen mit ausgezierter Kadenz. 

Osanna. Das am vollsten gesetzte Stück 
der ganzen Messe; durchwegs singen alle 
vier Stimmen, nur ganz kurze Atempausen 
hier und da. Im Tenor die zehnte Phrase 
der Melodie zweimal, das zweitemal stark 
verkürzt in Notenwerten. Die anderen Stim¬ 
men in freier Polyphonie, ohne Nachahmun¬ 
gen bestimmter Motive. 


Benedictus, dreistimmig. Nachdem in 
den früheren Sätzen fast alle Phrasen der 
Melodie des Busnois der Reihe nach behan¬ 
delt waren, die Melodie also ziemlich erschöpft 
ist, greift Obrecht hier auf die dritte Stimme, 
den 1. Baß des Busnois zurück. Obrechts 
Baß ist eine notengetreue Wiederholung der 
1. Baßstimme des Busnois in ihrem gesamten 
Umfang, die Oberstimmen jedoch sind ganz 
neu hinzukomponiert. Gegen Schluß treten 
Quintparallelen in der Sequenz auf, die ich 
hier besonders erwähne, weil merkwürdiger¬ 
weise noch Monteverdi in seinen Madriga¬ 
len eine ganz besondere Vorliebe für diesen 
Effekt hat, der bei ihm fast zur Manie aus¬ 
artet. Die Stelle bei Obrecht lautet: 








Monteverdi hat übrigens solcher altnie¬ 
derländischer Eigentümlichkeiten eine ganze 
Reihe geerbt, wie die Vorliebe für Sequenzen, 
überhaupt für ostinate Bässe. 

Agnus Dei I, vierstimmig. Im Tenor 
die elfte, letzte Phrase der Melodie, dreimal 
in wechselnden Notenwerten. 

Agnus Dei II, vierstimmig. Die vollstän¬ 
dige Liedmelodie des Busnois notengetreu im 
Tenor. 

Agnus Dei III. Eine neue Bearbeitung 
der vollständigen Melodie im Tenor. 

Diese technische Analyse läßt die höchst 
interessanten Gegenstimmen ganz außer Be¬ 
tracht. Sie wird aber vielleicht auch schon 
so einen klareren Einblick in diese keines^ 
wegs leicht zu übersehende Messe gewähren. 

Das zweite Heft der Obrecht-Ausgaben 
bringt vier große Motetten. Die Anmerkun¬ 
gen, die ich zu diesen Stücken hier mache, 
seien aufgefaßt als Ergänzung dessen, was ich 
in meiner „Geschichte der Motette“ (S. 43 
bis 47) über Obrechts Motetten zu sagen hatte. 
Obrecht war bisher in neuen Partiturausgaben 


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Kritiken und Referate 


so unzulänglich berücksichtigt — es gab bis¬ 
her nur drei seiner Motetten in Partitur ge¬ 
druckt — daß die Gesamtausgabe hier noch 
fest alles zu tun übrig hat. 

Am kürzesten und am leichtesten faßlich 
ist Nr. 4* Hsc^Deum cceli, für fünf Stim¬ 
men, ein feierliches, strenges Stück; der gre¬ 
gorianische cantus firmus im Kanon zwischen 
Tenor, Sopran I, auch der Alt nimmt an der 
kanonischen Arbeit teil, wenn schon mit eini¬ 
gen Freiheiten. Diesen drei ganz in breiten 
Noten gehaltenen Stimmen gegenüber zwei 
figurierte, nämlich der 2. Sopran und Baß. 
Insbesondere der Discantus ist nach älterer 
Motettenart rein melodisch figuriert, in immer¬ 
währender Bewegung, ohne thematischen Zu¬ 
sammenhang mit den anderen Stimmen. Die 
übrigen drei Motetten sind sehr ausgedehnt, 
von verwickelter Faktur. Ein Stück vom ersten 
Range ist das große sechsstimmige Salve 
regina. Erstaunlich in Anbetracht der frühen 
Entstehungszeit (Obrecht lebte etwa 1450 bis 
1505) ist der farbenreiche, der wohlklingende, 
durchaus an italienische Kunst gemahnende 
Satz — Obrecht lebte lange in Italien; — keine 
Spur hier von den verzwickten niederländi¬ 
schen Künsten, die in der oben besprochenen 
Messe noch eine große Rolle spielen. An die 
venezianische Doppelchörigkeit findet sich hier 
bei Obrecht, wie auch sonst gelegentlich bei 
Josquin eine deutliche Annäherung. Drei hohe 
Stimmen sind drei tieferen hier öfters plan¬ 
voll gegenübergestellt, und im übrigen sind 
die sechs Stimmen in erstaunlich mannig¬ 
facher Weise gruppiert, so daß eine reiche 
Abwechslung, eine feine Abtönung der Klang¬ 
wirkungen zustande kommt, die durchaus 
an Palestrinas Weise erinnert. Der freien 
Polyphonie hat er in diesem Stück viel mehr 
Raum zugewiesen als der imitatorischen 
Schreibart, die nur stellenweise aufrritt. Ein¬ 
zelne Abschnitte, wie die ersten 30 Takte 
etwa sind gesetzt als Kanon für zwei Stim¬ 
men (Sopran und Tenor), denen die anderen 
ganz frei kontrapunktierend gegenübertreten. 
Homophone, akkordische Stellen, fauxbourdon- 
artige Fortschreitungen treten häufig ein. Der 
künstlerische Wert dieser umfangreichen Mo¬ 
tette ist so groß, daß ich nicht anstehe, sie 
zu den allerbedeutendsten Vertonungen des 
Salve Regina-Textes in der gesamten Litera¬ 
tur überhaupt zu zählen. Ähnlich in der 
Technik ist die zweiteilige, fünfetimmige Mo¬ 
tette Factor orbis. Auch hier überwiegt 
die freie Polyphonie vor der Imitation. Be¬ 


sonders merkwürdig ist hier die altertümliche, 
auf altfranzösische Muster zurückgehende Mi¬ 
schung der Texte; in manchen Abschnitten 
werden nicht weniger als fünf verschiedene 
Texte in den fünf Stimmen gleichzeitig ge¬ 
sungen. Dann gibt es wieder ganz homo¬ 
phone, akkordische Partien („esto refugium 
pauperum“, S. 19), die ganz deklamatorisch, 
fast psalmodisch behandelt sind. Auch dies 
eine hochinteressante, wertvolle Komposition. 
Schließlich ist zu nennen das fünfstimmige 
Salve crux arbor vitae, eine großartige 
Komposition, von der schon Ambros schreibt, 
sie sei „ein völliger riesenhafter gotischer 
Münster aus Tönen.“ Von allen Motetten 
des Bandes ist diese am meisten „niederlän¬ 
disch“ im üblichen Sinne; ein dichtes Ge¬ 
flecht von fünf reich ausgeführten Stimmen, 
in der Klangwirkung viel nordischer, herber, 
strenger als das ganz in Licht getauchte Salve 
Regina, eine Komposition von mächtiger Er¬ 
habenheit. An genialen Zügen kein Mangel. 
Ein solcher findet sich z. B. S. 31 in der Art, 
wie der breite Tenor „O crux lignum trium¬ 
phale“ hindurchstrahlt durch das Dickicht der 
dicht verschlungenen vier Gegenstimmen. 
Ähnlich die Parallele Seite 35, wo die 
Hymnenmelodie im Tenor sich gleichsam ge¬ 
waltsam herausarbeitet aus der Umschlingung 
der Gegenstimmen. Leider verschuldet der 
glatt durchgeführte Taktrhythmus auch hier 
eine Verdunklung des herrlichen Schlusses. 
Daß der Tenor im % Takt gegen den */i Takt 
der anderen Stimmen verschoben ist, davon 
merkt man in der Niederschrift nichts; sie 
lautet, den Sänger durchaus irreführend, fol¬ 
gendermaßen : 



fron-de, flo-re ger 




|wff^ 

mi - ne. 


mi - ne. 


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Kritiken und Referate 


157 


Ich kann mich des Eindrucks nicht er- 
wehren, als wenn wir in manchen Stücken 
die alte Notationsweise, insbesondere den 
alten Taktbegriff ganz gründlich mißverstehen, 
wenn wir glauben, ein Meister wie Obrecht 
hätte (S. 42) mit seiner Vorzeichnung 8 /i Takt 
das folgende gemeint, wie die Neuausgabe 
S. 42 notiert: 


11 >3 




i - 

O crux 

li-gnum tri 

umpha - le, 

tet 

b j-,— 

V- 

m 

jpg 

±± =z 


-2?- 


O crux li-gnum tri- 


-fc-- 



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“ es 



1 J 

mun • di 

ve - ra sa 

lus, va - le 

& ' g --~- 


es ® 

f >W||r — — 

■ ° ^ 



umpba-le, mun-di ve - ra sa- 


Derartig im wahren Sinne des Wortes 
„verrückte“ und sinnlose Rhythmik und De¬ 
klamation kann ein Meister wie Obrecht 
unmöglich gemeint haben. Die Stelle ist offen¬ 
kundig so gemeint: 



um-pha- le mun-di ve - ra sa- 


Warum geht die Ehrfurcht vor einer 
(mißverstandenen) Taktvorzeichnung so weit, 
die Absicht des Meisters zu verdunkeln? Es 
ist dies ein Punkt, in dem ich mich in ent¬ 
schiedenen Gegensatz stelle zu der allgemein 
in den kritischen Neuausgaben gehandhabten 
Praxis. Abgesehen von dieser prinzipiellen 
Verschiedenheit der Ansichten kann ich der 
sorgfältigen text-kritischen Arbeit des Her¬ 


ausgebers Prof. Johannes Wolf nur hohe 
Anerkennung zollen. Die Obrechtschen Mo¬ 
tetten bedeuten nicht nur einen erheblichen 
Zuwachs an bedeutenden Kunstwerken, sie 
sind auch für die Geschichte der Motette 
wichtig, indem sie vollendete Muster eines 
bestimmten, bis jetzt nicht genügend gekann¬ 
ten Motettentyps darstellen, in dem die freie 
Polyphonie vor der Nachahmung bevorzugt 
wird, der klanglich zweifellos den meisten 
der gemeinhin „niederländisch^ genannten 
imitatorischen Motetten erheblich^uvor steht 

Berlin Dr. H. Leichtentritt 


Heinrich Schütz. Historia von der 
Geburt Jesu Christi. Herausgege¬ 
ben von Arnold Schering. Leipzig, 
Breitkopf & Härtel. Preis 6 Mk. 

Vor einiger Zeit überraschte Dr. Ar¬ 
nold Schering die musikalische Welt durch 
die Mitteilung, er habe ein bisher verscholle¬ 
nes Werk von Heinrich Schütz wieder 
aufjgefunden, 1 ) die Historia von der Geburt 
Jesu Christi vom Jahre 1664. Das Werk 
liegt nunmehr im Neudruck vor als Supple¬ 
ment zur Gesamtausgabe Schützscher Werke. 
Es bietet nicht nur ein wertvolles Stück 
Schützscher Kunst dar, sondern hat auch im 
allgemeinen Anspruch auf Beachtung, weil es 
den Typ des italienischen Oratoriums im 
17. Jahrhundert gut darstellt, von dem bisher 
nur sehr wenige Proben uns eine genügende 
Anschauung gewähren; fast nur einige Ora¬ 
torien von Carissimi kommen in Betracht. 
Die Form des Schützschen Werkes, italieni¬ 
schen Mustern entsprechend, ist die folgende: 
Zu Anfang und zum Schluß je ein tutti-Satz 
für 4 Vokal- und 5 Instrumentalstimmen, in 
der Art eines Doppelchors gesetzt; dazwischen 
stehen acht „Intermedien“, abgerundete Stücke 
verschiedener Art, bald für eine Solostimme 
mit Instrumentalbegleitung, bald als Ensemble¬ 
stücke gesetzt. Diese Intermedien werden 
zumeist durch Rezitative des Evangelisten 
miteinander verbunden. Also eine erheblich 
verschiedene Form von der des späteren Ora¬ 
toriums mit seiner Abwechslung von fugen¬ 
artigen Chören, Arien und Rezitativen. „Arien“ 
kommen hier bei Schütz überhaupt noch nicht 

i) f. Zeitschr. d. Internat. Mus.-Geseüsch. 
Dezember 1908. 


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Kritiken und Referate 


vor, obschon um die Zeit der Entstehung 
dieses Weihnachtsoratoriums arienartige Kom¬ 
positionen in der italienischen Oper und Kan¬ 
tate schon eingeführt waren. Bemerkenswert 
ist eine verhältnismäßig reiche und interes¬ 
sante Verwendung der obligaten Instrumente: 
2 Violinen, 3 Violen, Baß, 2 Flöten, Fagott, 
2 Cometti, 2 Posaunen sind vorgeschrieben, 
dazu als Generalbaßinstrumente Orgel, Klavier, 
Kontrabaß. Ober das Werk hat Dr. Schering 
selbst in dem schon genannten Aufsatz ein¬ 
gehend berfentet Es kann hier also genügen, 
auf diese ausführliche Besprechung hinzu¬ 
weisen; sie beschäftigt sich nicht nur mit 
dem musikalischen Gehalt des Oratoriums, 
sondern gibt auch Winke für die geschicht¬ 
liche Einordnung. Einige Bemerkungen über 
die beachtenswertesten Stücke seien hier noch 
beigefügt. Das zweite Intermedium „Chorus 
angelorum“, für sechsstimmigen Chor mit 
Instrumenten ist vielleicht das wertvollste 
Stück des ganzen Werkes, ein Chor, der an 
Carissimische Stücke seiner Gattung erinnert. 
Das fünfte Intermedium, ein Quartett für vier 
Solobässe mit continuo und zwei Posaunen 
ist eines jener jetzt sehr seltenen, früher öfter 
vorkommenden Baßensembles, von denen ein 
Nachzügler noch in Mozarts Don Giovanni 
sich findet. Erinnert sei an Cyprian de Rores 
berühmtes Madrigal: „Calami sonura“, an 
etliche Baßstücke von Job. Kasp. Kerll (in 
der Ausgabe der Denkmäler der Tonkunst in 
Bayern), an einige der Priesterchöre in Mo¬ 
zarts „Zauberflöte.“ Interessant ist die ton¬ 
malerische Verwendung eines ostinaten Ba߬ 
motivs : 



in mehreren Stücken, das ganze Werk hin¬ 
durch zur Veranschaulichung der „Christkind¬ 
leinswiege“, wie Schütz selbst es ausdrückt. 
Auch dieser Gedanke des ostinaten Basses 
läßt sich in Wiegenliedern und ähnlichen 
Scblummerstücken in Oper, Kantate, Lied, 
Klavierstück durch die Jahrhunderte hindurch 
verfolgen bis zu Chopins „Berceuse“. Auch 
der Schlußchor (vierstimmig mit Instrumen¬ 
ten) hat trotz der Einfachheit seines homo¬ 
phonen Satzes etwas Schlagendes, sehr Kräf¬ 
tiges. Alles in allem möchte ich das Weih¬ 
nachtsoratorium nicht gerade als eines der 
genialsten Schützschen Werke bezeichnen, 


aber doch als ein gutes Werk, das starke 
Spuren Schützschen Geistes trägt Die sorg¬ 
fältige kritische Redaktion durch den Heraus¬ 
geber Dr. Schering ist des Lobes wert Nur 
mit einem Grundsatz mag ich mich nicht 
einverstanden erklären, das ist die übertrie¬ 
bene Ehrfurcht vor dem Taktstrich, dem ganz 
regelmäßig durchgeführten Taktrhythmus, die 
leider bei fast allen neueren Ausgaben, auch 
den Denkmälern, wie es scheint, zur unum¬ 
stößlichen Maxime geworden ist Ober die 
Schäden dieses Systems mich zu verbreiten, 
ist hier nicht die passende Gelegenheit Nur 
ein paar Kleinigkeiten seien hier angeführt. 
Das Vorwort teilt z. B. mit, daß die Hemio- 
len, d. h. die Unterbrechung des regelmäßi¬ 
gen Taktes durch eine andere Taktart hier 
„dem laufenden Takte eingegliedert“ sind. War¬ 
um wird ein rhythmisch so interessanter Ef¬ 
fekt wie die Hemiole in der Neuausgabe un¬ 
kenntlich gemacht? Die neue Ausgabe no¬ 
tiert z. B. (S. 0): 





oder S. 45: 


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Warum muß die neue Notation gewalt¬ 
sam lauter falsche Betonungen in das Noten¬ 
bild hereinbringen? 

Berlin Dr. H. Leichtentritt 


P. Hartmann von An der Lan-Hoch- 
brnnn. Septem ultima verba Christi 
in crnce. Oratorium in zwei Teilen 
für Soli, gemischten Chor, grosses 
Orchester und Orgel. Orchesterpar¬ 
titur M. 12, Klavierauszug M. 5. 
J. Fischer & Bro., New-York. 

Wer den Stil Pater Hartmanns aus sei¬ 
nen früheren Werken kennt, der bewegt sich 
auch bei diesem neuesten seiner Oratorien 
auf gewohntem Boden. Die schlichte Wahr¬ 
heit der Auffassung, der herbe Ernst des 
Ausdrucks bannt auch bei diesem Werk die 
Sympathien des Hörers; auch in der äußeren 
Form und Technik der Gestaltung hält sich 
der Komponist in den erfolgreichen Bahnen 
seiner früheren Schöpfungen. Das Stim¬ 
mungsgebiet des zweiteiligen Oratoriums ist 
naturgemäß nicht übermäßtig abwechslungs¬ 
reich, der Ausdruck mehr lyrisch betrach¬ 
tend als dramatisch. Es bietet in diesem 
Sinne ein Seitenstück zu Hartmanns früherem 
Werk „Der Tod des Herrn.“ Immerhin hat 
der Künstler durch Hervorhebung einzelner 
dramatischer Momente, z. B. in den kräftig 


belebten Volkschören „Alios salvos freit“ 
und „Eliam vocat iste“ dem Ganzen einige 
wirkungsvolle Kontraste beigemischt. Auch 
erscheint die herbe Leidensstimmung ver¬ 
schiedentlich durch weichere Ausdrucksmo¬ 
mente sehr glücklich schattiert, als deren 
schönster einer das empfindsame Larghetto 
„Beati qui lavant stolas“ hervorzuheben ist. 
Vom Herkommen teilweise abweichend er¬ 
scheint die Auffassung des Stabat mater; 
was zum Beispiel der ff-Schluß „Fac ut 
tecum lugeam“ soll, ist nicht ohne weiteres 
klar. Auch die leidenschaftlichen ffe-Akzente 
im Psalmvers „Quemadmodum cervus“ wol¬ 
len etwas gesucht erscheinen. Den tiefrten 
Ausdruck hat der Komponist natürlich in die 
Vertonung der Worte Christi selbst gelegt; 
wie in seinem Oratorium „Das letzte Abend¬ 
mahl“ hat Hartmann auch hier die Stimme 
des Heilands durch die jeweils dazutretende 
Orgel klanglich besonders auszuzeichnen ge¬ 
sucht; neben der Orgel treten aber gelegent¬ 
lich auch noch andere Instrumente solistisch 
stimmungsmalend hervor, so etwa bei dem 
Wort „Sitio“, ein besonders schönes, aus¬ 
drucksvolles Cellosolo. Oberhaupt ist die In¬ 
strumentation trotz ihrer Einfachheit und her¬ 
ben Schlichtheit reich an schönen Einzelhei¬ 
ten. Zu dem Wort „Eli lamma sabbaethani“ 
ist keine der bekannten liturgischen Melodien 
verwendet, doch erscheint der Ausdruck nicht 
minder ergreifend getroffen, wie denn über¬ 
haupt das ganze Werk den Freunden einer 
ernsten, kirchlichen Musik reiche Anregung 
und Erbauung zu bieten vermag. 

Starnberg Dr. Eugen Schmitz 


Gauss Otto, Orgelkompositionen ans 
alter und neuer Zeit zum kirch¬ 
lichen Gebrauch wie zum Studium. 
Regensburg, H. Pawelek 1909. — 
1. Aufl., 3 Bd. ä 0 M., zusammen 
15 M. 

Diebold Johannes, Orgelstücke mo¬ 
derner Meister zur Übung sowie 
zum gottesdienstlichen und Konzert¬ 
gebrauch. Leipzig, Otto Junne, 
1906—1909. 3 Bd. ä 0 M. 

Die Gaußsche Sammlung imponiert vor 
allem durch die großz&gige Anlage nach 
Zeit und Lindern. Von der Venezianl- 


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Kritiken und Referate 


sehen Schule aus, in deren Schoße die Orgel¬ 
musik geboren wurde, geht der Pfad hinan 
zu Sebastian Bach, wohl dem glänzendsten 
Orgelmeister aller Zeiten, und von da bis 
herauf in die Gegenwart. Diesen weiten und 
langen Weg der Entwicklung fuhrt uns der 
Herausgeber und bietet von jedem bedeuten¬ 
deren Komponisten eine Auswahl, die seine 
und seiner Zeit Eigenart charakterisiert. 
Andrea Gabrieli eröffnet die Sammlung, Max 
Reger schließt sie: eine Musikgeschichte 
in Beispielen. 

Das Bild wäre aber unvollständig, würden 
nicht alle Länder in die Entwicklungslinie 
einbezogen. Auch das hat der Herausgeber 
getan. Die englischen Virginalisten mit ihrem 
Orgelmeister Byrd kommen ebenso zur Sprache 
wie die Franzosen mit ihrem Titelouze und 
die Niederländer mit ihrem Sweelinck und in 
besonders reichem Masse die Neuzeit mit den 
klangvollsten Namen. Allerdings müssen 
wir gestehen, daß hier nicht alle Nummern 
von gleicher künstlerischer Bedeutung sind. 
Gerne könnte man auf die Stücke jener Kom¬ 
ponisten verzichten, die zwar auf vokalem 
Gebiete Großes geleistet haben, aber als 
selbständige Orgelkomponisten nie¬ 
mals hervorgetreten sind, und nur solche 
sollten in einem derartigen Muster¬ 
werke vertreten sein. Dagegen könnten 
in neuer Neuauflage mehrere sehr bedeutende 
Meister eingesetzt werden, deren Namen man 
ungern vermissen wird; ich nenne nur die 
Franzosen Camille Saint-Saöns (mit seinen 
herrlichen Fugen!), C6sar Frank, Theodor 
Dubois, den Engländer William Best und die 
Deutschen Franz Ladiner und Max Gulbins. 

Was die äußere Anlage betrifft, so hat 
der Herausgeber sämtliche Nummern auf 
drei Systeme notiert — ein Umstand, der 
große Klarheit für den Pedalsatz gibt —, 
genaue Phrasierung, Tempo, Dynamik, Finger- 
und Pedalsatz vorgezeichnet und damit das 
Ganze zu einem wertvollen Studienwerk 
gestaltet. Daß er Kadenzen und ganz kurze 
Stücke grundsätzlich ausgeschaltet, gereicht 
der Sammlung nur zum Vorteile; dieselben 
wären bei der großzügigen Anlage gar nicht 
denkbar. Auch gegen die vom Herausgeber 
mitunter vorgenommenen Kürzungen ver¬ 
schiedener Nummern kann von künstleri¬ 
schem Standpunkt ein stichhaltiger Einwand 
nicht gemacht werden, zumal man überall 
die fein und pietätvoll arbeitende Hand des 


Fachmannes fühlt; ebensowenig ist gegen die 
auffeenommenen Arrangements zu erinnern. 
Was Gauß von der Verwendung des Chorals 
und des deutschen Kirchenliedes (Vorwort) 
sagt, scheint mir hier gar nicht ins Gewicht 
zu fallen; denn die meisten der betreffenden 
Nummern sind so modern konzipiert, daß 
sie mit dem Choral keinen weiteren Be¬ 
rührungspunkt haben als das Thema und sich 
spezifisch von den anderen Kompositionen 
nicht unterscheiden; selbstverständlich soll 
damit ihre künstlerische Qualität nicht in 
Frage gestellt sein. 

Das ganze Werk ist für den kirchlichen 
Gebrauch gedacht; viele Nummern — nicht 
bloß des III. Bandes — schließen jedoch 
denselben vollständig aus und sind nach 
meiner Meinung ausgesprochene Konzert¬ 
stücke; sie stammen meistens aus der Feder 
neuerer Meister und eignen sich, wie Gauß 
selbst angibt, mehr für außerordentliche Ge¬ 
legenheiten, wie Orgelübernahmen, geistliche 
Musikaufführungen usw. Ihre Aufnahme 
wird von jedem Organisten mit Freuden be¬ 
grüßt werden, nur wäre es vielleicht gut ge¬ 
wesen, wenn der Herausgeber sie als solche 
eigens bezeichnet hätte (— vielleicht mit 
einem *). Mit besonderem Danke müssen 
die den einzelnen Bänden beigegebenen kurzen 
Biographien der Komponisten begrüßt 
werden; denn es ist eine Erfahrungstatsache, 
daß selbst tüchtige Organisten — und nur 
für solche ist das Werk gedacht — in der 
Musikgeschichte vielfach nur wenig zu 
Hause sind. Ein paar kleine Versehen in 
diesen Biographien lassen sich für eine Neu¬ 
auflage leicht korrigieren. 

Eine Frage ist mir ungelöst geblieben, 
nach welchen engeren Gesichtspunkten der 
Autor die einzelnen Komponisten geordnet 
hat. Bei dem I. Band ist es ja ohne weiteres 
klar; er zeichnet die Entwicklungslinie von 
Gabrieli bis Bach und seine Ausläufer. Wie 
aber bei dem II. und III. Band? Gauß sagt 
„nach ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten 
Schulen und Nationen" (Vorwort). Das trifft 
nicht durchweg zu. Wie kommt es sonst, 
dass er die drei berühmten R. (Rheinberger, 
Renner, Reger) voneinander trennt, die einen 
in den II. Band, den andern in den III. Band 
und Rheinberger neben Haller setzt, zwei 
Komponisten, die sich stilistisch ungefähr 
so voneinander unterscheiden, wie Makart 
von der Beuroner Malerschule. 


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Kritiken und Referate 


161 


Noch ein Wort über die Ausstattung des 
Werkes. Wie die Sammlung selbst, so ist 
auch die Ausstattung ein Unikum in unserer 
Literatur. Wer die großen Denkmäler-Aus- 
gaben Deutscher, österreichischer und Bayeri¬ 
scher Tonkunst kennt, weiß, was man 
»splendide“ Edition nennen kann. Die 
Gaußsche Sammlung steht den genannten 
Werken würdig zur Seite: großes Format 
in 4°, ein herrlicher, ungemein deutlicher 
Stich, vorzügliches Papier, endlich ein Preis, 
der — buchbfindlerisch betrachtet — jedem 
rätselhaft erscheinen wird. Soeben kündet 
der Verlag — nach 4 Monaten — eine 
2. Auflage in 4 Bänden an, sowie einen Er¬ 
gänzungsband für die Besitzer der 1. Auflage 
— gewiß der beste Beweis für die Gediegen¬ 
heit der Sammlung. 

Was ich von der Gaußschen Sammlung 
gesagt, gilt teilweise auch von der Dieboldschen. 
Prinzipiell unterscheidet sie sich von der 
enteren durch ihre Beschränkung auf die 
modernen Meister, die hier natürlich um 
so zahlreicher und großzügiger vertreten sind, 
so z. B. auch Camille Saint-Saäns, Cäsar 
Frank (dagegen vermisse ich ebenfidls die 


anderen oben ziti erten Orgelkomponisten). 
Der I. Band ist der reichste in bezug auf 
Anzahl der Nummern, aber nicht in bezug 
auf Qualität der Kompositionen; es finden 
sich zweistimmige Sätzchen darunter, die sich 
unter den anderen Stücken mehr als bescheiden 
ausnehmen. Dagegen bietet der II. Band 
und besonders der III. Band eine glänzende 
Auswahl von Werken aller Stilgattungen und 
eine fast unerschöpfliche Quelle für den 
Konzertorganisten. Besonders betont seien 
hier die Kompositionen mit Begleitung von 
Streichinstrumenten usw., die für manche fest¬ 
liche Gelegenheit hochwillkommen sein dürften. 

Ausstattung und Preis lassen nichts zu 
wünschen übrig; aufdringlich wirkt das jedem 
Bande in großem Format vorgedruckte Emp- 
fehlungs- und Anerkennungsschreiben. 

So stellt die Gaußsche und Dieboldsche 
Sammlung ein Monumentalwerk auf dem 
Gebiete der Orgelliteratur dar, zu dem man 
Herausgeber und Verleger in gleicher Weise 
beglückwünschen kann, und das auf Jahr¬ 
zehnte Stoff bietet für Kirche und Konzert. 

K* W. 


II. Bücher und Schriften 


ChoraUrächer 

Die Arbeit des Berichtsjahres auf dem 
Gebiete des Choraldruckes ist immer noch 
durch das Vatikanische Graduale bestimmt 
Zu den vollständigen Nachdrucken des ver¬ 
flossenen Jahres sind einige weitere hinzuge¬ 
kommen. Daneben beginnen Auszüge daraus 
zu erscheinen, welche in handlichem Format 
dasjenige Choralpensum darbieten, welches 
für die gewöhnlichen Kirchen, die nicht das 
tägliche gesungene Hochamt haben, in Be¬ 
tracht kommt Auch die ersten Ausgaben in 
modernen Noten kommen auf den Markt 
Der Übersicht halber wird es zweckmäßig 
sein, die verschiedenen Gattungen von Bü¬ 
chern auseinanderzuhalten. 

I. Von vollständigen Nachdrucken des 
Graduale Vaticanum sind außer den im 22. 
Jahrgang bereits besprochenen Ausgaben der 
Firma Pustet—Regensburg und Schwann— 
Düsseldorf noch zu nennen die zweibändige 

Kkchenmurik. Jahrbuch. 23. Jahrs- 


Ausgabe der Styria in Graz, das mit den 
Mocquereau’schen rhythmischen Zeichen ver¬ 
sehene Graduale der Descläe’schen Offizin 
ln Tournay und das Graduale von Dessain 
in Mecheln. Die Styria veröffentlicht im ersten 
Bande das Proprium de Tempore, im zweiten 
das Proprium Sanctorum, Commune Sancto- 
rum und Ordinarium Miss», zum Preise von 
K 2,40 (Mk. 2.-), gebunden K. 4,50 (Mk. 3,80) 
und K 3.— (Mk. 2,60), gebunden K 5^20 
(Mk. 4,50). Beide Teile kosten in einem 
Band broschiert K 5,40 (Mk. 4,60), und ge¬ 
bunden K 8.— (Mk. 6,80.) Ich kenne diese 
Ausgabe nur aus der buchhändlerischen An¬ 
zeige der Firma. 

Wie der unveränderte Nachdruck, den 
Descläe herstellte, gleich in zwei Ausgaben 
vorlag (Nr. 695 und 695 A des Kataloges), 
die sich durch die Dicke des Papieres unter¬ 
scheiden, so auch das Graduale mit den rhyth¬ 
mischen Sonderzeichen (Nr. 696 und 696A); 

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Kritiken und Referate 


nur kostet diese Ausgabe im brochierten wie 
gebundenen Exemplar, mit dem gewöhnlichen 
Papier der Desclde’schen Offizin wie mit indi¬ 
schem Papier 50 Ct. mehr, als die ältere von 
gleicher Qualität. Zum Lobe der Desclöe’schen 
Choraldrucke ein Wort hinzuzufugen, wäre 
überflüssig; sie sind seit langen Jahren in der 
ganzen Welt überall da bekannt, wo man für 
traditionellen Choral Verständnis hat, und 
weder die Schönheit des Druckes noch die 
äußere Ausstattung ihrer Choralwerke haben 
eine Einbuße erfahren. 

Die rhythmischen Spezialzeichen des Des- 
döe’schen Graduale rollen ein interessantes 
historisches Problem auf. Die Quadratschrift, 
deren sich die Vatikanische Ausgabe des tra¬ 
ditionellen Chorals bedient, stammt aus dem 
12. Jahrhundert. Wir besitzen Handschriften 
dieser Zeit, welche die einzelnen Figuren der 
Choralschrift fast genau so formen, wie die 
Vaticana, so z. B. Cod. Regin. 529 der Vati¬ 
kanischen Bibliothek. Seit dem 12. Jahrhun¬ 
dert ist dann diese Schrift bald in alle roma¬ 
nischen Länder gedrungen, sie kann daher 
mit Recht als die traditionelle lateinische Cho¬ 
ralschrift bezeichnet werden. Bis heute besitzt 
sie das respektable Alter von 800 Jahren im 
Dienste der Kirche. Choral- und Quadrat¬ 
schrift sind im Bewußtsein der kirchenmusi¬ 
kalischen Welt identisch. Die Vatikanische 
Ausgabe des liturgischen Gesanges konnte an 
dieser Tatsache nicht vorübergehen. Ebenso¬ 
wenig durfte darüber ein Zweifel obwalten, 
welche der beiden Formen der Quadratschrift, 
die in den neueren Choralbüchern auftreten, 
den Vorzug verdiene. Bekanntlich hat die 
Quadratschrift im Dienste des Chorals gegen 
Ende des Mittelalters mensurale Elemente 
in sich ausgenommen und um 1600 haben 
römische Musiker, wie Guidetti u. a. ihre Zei¬ 
chen mensuraliter interpretiert. Faktisch hat 
die Choralschrift der Reformbücher seither 
Einwirkungen von seiten der mensuralen 
Schrift prinzipiell nicht abgewiesen. Die Art 
der Gruppennotierung in ihnen offenbart am 
besten den Zusammenhang mit den mensu¬ 
ralen Ligaturen. Wenn der Liber Gradualis 
des Dom Pothier seit 1880 die Quadratschrift 
zum ersten Male ihrer traditionellen Form zu¬ 
rückgab und damit bis auf das 12. Jahrhundert 
zurückgrifP, 1 ) also die Jugendzeit der mit Linien 


verbundenen Quadratschrift, so war das eine 
Großtat der Choralgeschichte. Sie ermög¬ 
lichte nicht nur die wissenschaftliche Erkennt¬ 
nis der Eigenart der Choralschrift von ihren 
Anfängen an — Dom Pothier hat als Erster 
den Choralisten wieder vorgehalten, daß Punk¬ 
tum und Virga, Podatus und Flexa, Torculus 
usw. die wesentlichen Elemente der Choral¬ 
schrift seien — sondern auch für die leben¬ 
dige Choralpraxis den Anschluß an die im 
17. Jahrhundert verlorene Überlieferung. Für 
die Pianische Choralreform war somit die 
Annahme dieser traditionellen Quadratschrift 
von selbst gegeben. 

Hier greift nun eine Verschiedenheit in 
der Auffassung der gegenwärtigen Choralrestau¬ 
ration entscheidend ein. In der Idee des Ge¬ 
setzgebers der Choralreform, Papst Pius 3L, 
soll diese nicht auf einseitig archäologische 
Basis gestellt sein, also z. B. nicht die ältest- 
erreichbare Fassung des gregorianischen Cho¬ 
rals zum Gegenstände haben, sondern mehr 
traditionellen Charakter besitzen, auf die ge¬ 
samte Choralüberlieferung traditioneller Hal¬ 
tung Rücksicht nehmen, ohne spätere Lesarten 
unter allen Umständen auszuschließen. Zuletzt 
ist dieser Standpunkt in der von Sr. Heilig¬ 
keit besonders gutgeheißenen Vorrede zum 
Graduale Vaticanum aufs Klarste zum Aus¬ 
druck gebracht worden. Für den Choralvor¬ 
trag folgt daraus, daß im Falle einer hi¬ 
storisch nachweisbaren Verschiedenheit in tra¬ 
ditioneller Zeit die gegenwärtige Praxis nicht 
einseitig auf die älteste Vortragsweise zurück¬ 
geben müsse. Die Existenz einer Entwick¬ 
lung des Choralvortrages auch im Mittelalter 
wird aber heute von keinem Choralforscher 
mehr bestritten. Sie läßt sich den verschie¬ 
denen Phasen der Choralschrift entnehmen. 
Die Quadratschrift ist für rhythmisch einfa¬ 
chere Verhältnisse gedacht, als einige Familien 
der Accentneumen in ihrem ältesten Stadium 
sie voraussetzen. So hat z. B. die St. Gal¬ 
lische Neumenüberlieferung eine Reihe von 
Formen des Climacus mit rhythmisch ver¬ 
schiedenem Inhalt (vergl. meine Neumenkunde 
S. 260), während die Quadratschrift nur mehr 
einen einzigen Climacus kennt. Ganz allge¬ 
mein kann man sagen, daß im 11. und 12. Jahr¬ 
hundert eine rhythmische Vereinfachung des 
Chorals stattgefunden hat, in den romani- 


l ) Nur das Quüisma gehört nicht der Quadratschrift an, findet sich aber in den d eu tschen Codizes 
bis ans Ende des Mittelalters. Seine Aufnahme in die Quadratschrift durch Dom Pothier ist eine Aner¬ 
kennung der Treue der d e utschen Cboralüberiieferung. 


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Kritiken und Referate 


scheu wie in den germanischen Ländern, wenn 
sie auch in den letztem vielleicht nicht so 
durchgreifend gewirkt hat. Im Einklang mit 
diesem Thatbest&nde steht diejenige Auffas¬ 
sung, welche für die gegenwärtigen Reform¬ 
arbeiten die subtilere Rhythmik der archäi¬ 
schen Choralzeit ablehnt und sich mit der 
einfachem, traditionelleren Weise einer wenig 
späteren Zeit zufrieden gibt. 

Eine andere Auffassung der Choralreform 
erklärt den Choral seit dem 11. bis 12. Jahr¬ 
hundert für rhythmuslos, im Grunde für 
rhythmisch ebenso verderbt, wie es die sog. 
Reformbucher seit dem 17. Jahrhundert melo¬ 
disch sind. Sie erblickt das Fundament aller 
Choralrestauration in der Nutzbarmachung 
der ältesten Dokumente aus der Zeit der li¬ 
nienlosen Neumenschrift; das Aufkommen 
der Quadratschrift eröffnet für diese Betrach¬ 
tung der Dinge ein bleiernes Zeitalter. Von 
den Vertret e rn dieser wohl nicht anders als 
traditionsfeindlich zu nennenden Richtung ha¬ 
ben die sog. Mensuralisten in der praktischen 
Durchführung ihrer Ideen bemerkenswerte 
Resultate noch nicht zu verzeichnen; nur 
schüchtern haben sie bisher den Versuch ge¬ 
macht, die Vatikanischen Gesänge im Kleide 
ihrer rhythmischen Ideen zu verbreiten. Un¬ 
gleich zielbewußter sind die Bestrebungen 
des P. Dom Mocquereau von Solesmes, die 
Choralschrift quadratischer Art nach dem Vor¬ 
bild der ältesten St. Gallischen Choralhand¬ 
schriften zu reformieren. Solange sie die va¬ 
tikanische Schrift alterierten oder ihr neue 
Zeichen einverleibten, scheiterten sie am Wi¬ 
derstande der kirchlichen Behörden. Endlich 
wurde das Mittel gefunden, die Notierung des 
Graduale Vaticanum selbst intakt zu lassen 
und sie doch für die neuen rhythmischen 
Theorien gefügig zu machen. Es geschah dies 
durch Striche und Punkte, die über, neben 
und unter die Noten treten, so aber, daß keines 
dieser Zusatzzeichen mit dem Quadratnoten¬ 
zeichen in eine graphische Einheit verschmilzt, 
vielmehr immer als späterer unorganischer 
Zusatz kenntlich bleibt. In dieser Form hat 
die Ritenkongregation die choralschriftliche 
Neuerung zugelassen durch Dekret vom 14. Fe¬ 
bruar 1906. Sie ist auch in dem anzuzeigen¬ 
den Graduale der Descläe’schen Druckerei 
durchgeführt. Die Einleitung zum Graduale 
p. XVII—XX. gibt über die Einzelheiten des 
Mocquereau’schen Verfahrens kurze Rechen¬ 
schaft. („De Rhythmicis Soiesmensibus si- 
gnis in hac present! editione usurpatis.“) 


163 

Danach soll der wagerechte Strich über einer 
Note oder einer Gruppe die Verlängerung be¬ 
sagen, dasselbe der über oder neben einer Note 
stehende Punkt; ein senkrechtes Strichlein 
soll die rhythmische Einteilung so angeben, 
daß die damit versehene Note einen mäßigen 
Iktus erhält. Das Ictuszeichen findet sich auch 
in syllabischen Stücken und zwar nicht selten 
auch auf unbetonten Silben: wir lesen daher 
im ersten Credo: 


1- — 

51 - '' — , 



_B *_fl_ 


1 " 1 1 

Cre-do in u-num De-um. Patrem om- 

8____ 

8 


m m m m* 

—9—!—8-■ « J 


i i i 

ni-po-ten-tem, fa-cto-rem cce-li et 
0 - 1 - 



ter-rae. 

Hier entspricht der Punkt am Ende der 
Melodieglieder dem Retardando der Bewegung. 
Weniger offenkundig ist die Begründung der 
Striche unter - do, -num, -trem, -po- usw. 
Sie gehören in ein umfassendes, mit großem 
Scharfsinn und seltener Konsequenz aufjgerich- 
tetes System des Choralrhythmus, von dem 
eine ausführliche Kritik hier nicht gegeben 
werden kann. Ich beschränke mich auf ein 
paar Feststellungen: diejenigen Dokumente, 
aus denen die neue Theorie herausgeschöpft 
sein will, die St. Gallischen, scheinen mir die 
rhythmische Bewegung namentlich der Grup¬ 
penzeichen meist durch eine freie Verbindung 
von langen und kurzen Werten zu ordnen, 
nicht von akzentuierten und nichtakzentuier- 
ten Silben. Wenn die ältesten Choraltheore¬ 
tiker auf diese Dinge zu sprechen kommen, 
so operieren sie mit Ausdrücken, die der an¬ 
tiken Rhythmik und Metrik entnommen sind; 
sie sprechen von Jamben, Daktylen, Trophäen 
u. dergl., also von Verbindungen von Längen 
und Kürzen. Obschon diese Auffassung eine 
gute Dosis von theoretischer Systematisation 
in sich biigt, weist sie eine auf die Akzentui- 
rung gegründete Folge von Tonverbindungen 
für die älteste Rhythmik zurück. Ich weiß 
nicht, wie man diese Schwierigkeiten, die ge¬ 
rade die älteste Überlieferung gegen die neue 
Rhythmik erhebt, zu beseitigen vermöchte. 

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Kritiken und Referate 


Einen ihrer Grundpfeiler bildet auch die 
Lehre, daß der Wortakzent in der liturgischen 
Choralmelodie als eine Kürze auffeefaßt sei 
und demgemäß ausgeführt werden müsse. 
Es gibt nun, wie jeder weiß, zahlreiche Stel¬ 
len in den alten Liedern, wo die Akzentsilbe 
nur eine Note, die folgende oder vorhergehende 
nichtakzentuierte mehrere erhalten haben. Sie 
scheinen die Auffassung des Wortakzentes als 
einer Kürze von seiten der Choralkomponisten 
zu beweisen. Diese Argumentation wäre un¬ 
anfechtbar, wenn eine solche Silbenbehandlung 
die gesamte Choralmusik oder wenigstens die 
meisten Chorallieder beherrschte. Das Gegen¬ 
teil ist aber der Fall. Es lassen sich unschwer 
zahllose Stellen namhaft machen, in denen der 
Choralkomponist die Akzentsilben mit eben¬ 
soviel oder mehr Noten auszeichnete, als die 
benachbarten akzentlosen Silben; sie könnten 
zur Stütze des Irrtums der Choraltheorie seit 
1600 dienen, die den Akzent mit einer Länge 
identifizierte. Der Schluß, den das erwähnte 
Verhalten der traditionellen Choralmelodie er¬ 
laubt, ist offenbar nur der, daß der Kompo¬ 
nist die prosodische Gestaltung der Worte 
prinzipiell weder verleugnete noch auch beob¬ 
achtete; die melodische und rhythmische Ent¬ 
wicklung ist nicht sklavisch an die Betönungs- 
und Quantitätsverhältnisse des Textes gebannt, 
sondern die künstlerische Interpretation oder 
Umkleidung tritt in vielen Fällen als gleich¬ 
berechtigte Potenz neben den Text und seine 
grammatische Form. Die Formulierung des 
daraus resultierenden Rhythmus ist eine de¬ 
likate Aufgabe, zu deren glücklichen Lösung 
die Entwicklung der lateinischen Sprache von 
der quanti tierend klassischen zur akzentierend- 
rhythmischen Form die natürliche Handhabe 
liefern dürfte. 

Um zu der obigen Rhythmisierung zurück¬ 
zukehren, die dem gewöhnlichen, subtilem theo¬ 
retischen Raisonnement abholden Sänger wohl 
unverständlich sein wird, da sie ihn verleiten 
kann, selbst im syllabischen Gefüge Noten zu 
akzentuieren, deren Silben tonlos sind — ihr 
Urheber freilich warnt vor einem solchen 
Mißverständnis, da seine rhythmischen Ikten 
nichts mit dynamischen Dingen zu tun hätten, 1 ) 
— so möge man nicht glauben, daß Stellen, 


wie der Anfang des Credo im Desclöe’scben 
Graduale eine Seltenheit bilden. Das Ordi- 
narium Miss® ist überreich daran. Selbst 
wenn man ihre historische Berechtigung zu¬ 
geben könnte, so müßte man sie aus prakti¬ 
schen Erwägungen ablehnen. Eine Karrikatur 
der naturgemäßen Aussprache des Lateins in 
syllabisch-rezitativischen Gängen wird die 
schwer zu vermeidende Konsequenz einer sol¬ 
chen Notierung sein. Ich schließe mich hier 
der Meinung des P. de Santi an, der sie in 
der Civiltä Cattolica vom 5. Dezember 1006, 
p. 507 und vom 6. Februar 1000, p. 346, für 
überflüssig oder gar für schädlich erklärte. 1 ) 

Die innerhalb der Gruppenzeichen ange¬ 
brachten Iktusstrichlein sollen auf die St. Gal¬ 
lischen Codizes zurückgehen, insofern das 
Punktum z. B. des Climacus daselbst oft durch 
einen liegenden Strich ersetzt, der letzte Ton 
des Torculus mit einem ähnlichen Strich aus¬ 
gestattet ist usw. Der St. Gallische Strich 
sowohl im Climacus, wie im Torculus und in 
zahlreichen anderen Fällen ist aber nichts 
anders als das Productazeichen, und entspricht 
einem längeren Tone. Eine andere Erklärung 
ist durch die ganz bestimmten Aussagen 
alter Autoren (Anonymus Vaticanus und Monte- 
cassinensis) und zahlreiche Tatsachen der 
handschriftlichen Gesangbücher selbst (vergL 
meine Darlegungen in der Tribüne de S. Ger¬ 
vais 1906, S. 122) unmöglich gemacht Wollte 
man die Iktustheorie damit retten, daß man 
der St. Gallischen Producta beide Funktionen 
zuerteilte, die der Verlängerung und die der 
Akzentuierung, so wäre das gewiß nur ein 
Notbehelf, der das ungünstige Verhalten der 
Quellen gegen die ganze Theorie nicht besei¬ 
tigt. Denn zahlreich sind die Verbindungen 
mehrerer Product® hintereinander in den 
Neumendenkmälern St. Gallischer Herkunft. 
Hier mehrere Längen anzunehmen, macht 
keine Schwierigkeit; wollte man aber auch da 
mehrere unmittelbar aufeinander folgende Ik¬ 
ten hineininterpretieren? Führt nicht dies 
zeitliche Zusammentreffen von Iktus und 
Länge zu Folgerungen, die die Grundlagen 
der neuen Rhythmik umstoßen? 

Besitzen demnach nach meinem Dafür¬ 
halten wenigstens die Desclde’schen Iktus- 


i) Allerdings ist sein Verhalten schwankend; im Ordinaire paroissial publfe sous la direction 
des RR. PP. de Solesmes, Tournay 1906 lesen wir p. XX: toutes les notes qui portent l’ictus (Solvent etre 
plus fortes que les autres. 

*) P. de Santi sagt u. a.: Guai se agli ep is emi si desse fl valore di accento! L’esecuttone nandrebbe 
rovinata (L c. p. 346). 


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Kritiken und Referate 


165 


striche nicht die geschichtliche oder praktische 
Begründung, die für sie angerufen wird, so 
muß man, wenn man sich auf den Stand¬ 
punkt der iltesten St. Gallischen Oberliefe¬ 
rung stellt, die verlängernden Striche im 
Prinzip wenigstens gutbeißen. Außer den 
gewöhnlichen Formen des Podatus, der Clivia, 
des Torculus usw. kennen die genannten Neu¬ 
menbücher besondere Formen, in denen bald 
der erste, bald der letzte, bald mehrere Töne 
verlängert erscheinen. D. Mocquereau ver¬ 
wendet in dieser Bedeutung das transversum 
episema, wie er es nennt; es ist das aus der 
Metrik bekannte Längezeichen. Es bedeutet 
also in seinen Ausgaben g, daß der erste Ton 

des Podatus zu verlängern ist; ähnlich sind 
| ^ u. a. auszuführen. Erstreckt sich der 

Strich über die ganze Figur der Gruppe, ft 
lg u. a., so ist die ganze Figur zu dehnen. 

In diese Kategorie hätten auch die Climaci 
u. &. aufgenommen werden müssen, deren 
Punkte durch die Producta ersetzt sind, also 
längem Dauern entsprechen, wären diese Deh¬ 
nungszeichen nicht als rhythmische Ikten in¬ 
terpretiert. Konsequent ist also mit den ver¬ 
längernden Strichen nicht verfahren. Die In- 
troitusps&lmodie des sechsten Kirchentones 
beginnt in den St Gallischen Meßgesang¬ 
büchern so gut wie ausnahmslos mit einem 
Podatus, dessen Bestandteile lang sind; unser 
Graduale vermerkt diese Länge kein einziges 
MaL Der eine Kürzung des rhythmischen 
Wertes besagende St. Gallische Buchstabe c 
(celeriter) ist ganz umgangen; ich habe wenig¬ 
stens keine Erinnerung daran ausfindig ge¬ 
macht. Die Nutzbarmachung der rhythmi¬ 
schen Zeichen der St. Gallischen Schule ist 
demnach eine ziemlich wählerische. 1 ) 

Es ist bei Arbeiten dieser Art unver¬ 
meidlich, daß hier und da Unebenheiten un¬ 
terlaufen, oder bei der Korrektur unbemerkt 
und unverbessert bleiben. Ich habe mir die 
folgenden notiert: Seite 360, Zeile 6 fehlt in 
dem Anfengspodatus subtripunctis, der Iktus- 
strich, der an analoger Stelle der Seite (66), 
Zeile 5 steht; ebenda hat der Podatus subtri¬ 
punctis zu Beginn des Jf. auf unguentom 
und fl lia das eine Mal ein Morapunctum, das 


andere Mal nicht; Seite 340 Zeile 5 am Ende 
des Allelujaverses ist das letzte Iktuszeichen 
eine Note nach links verschoben, wie die 
identische Stelle Seite 361, Zeile 5, zweifellos 
macht; Seite 54, Zeile 6 fehlt dem Schlußme- 
lisma von justitiam ein Verlängerungsstrich, 
der an der analogen Stelle, Seite 364, Zeile 2 
steht; Seite 51, Zeile 4 hat der Torculus auf 
lern die letzte Note verlängert, während 
Seite 482, Zeile 1 der ganze Torculus ge¬ 
dehnt ist. 

Sehr dankenswert sind im Ordinarium 
Misse die Angaben der ältesten Oberlieferung 
der verschiedenen Gesänge. Beanspruchen 
sie auch keinen absoluten Wert, da sehr viele 
Dokumente aus alter Zeit verloren gegangen 
sind, so stellen sie doch das Fazit der Unter¬ 
suchung des umfangreichen, den Solesmenser 
Mönchen zu Gebote stehenden handschriftlichen 
Materials dar. (Liegt nicht Seite 370 Zeile 9 
infolge der Aufhebung des Pausezeichens 
durch den Bindebogen auf der letzten Silbe 
von Jerusalem eine materielle Änderung der 
Vaticana vor?) 

Der Gradualnachdruck von Dessain in 
Mecheln hat das Format 12° gewählt, bietet 
somit die kleinste Ausgabe des vatikanischen 
Buches. Die Ausgabe auf gewöhnlichem Pa¬ 
pier kostet 4 Fr., gebunden 6,20 Fr., diejenige 
auf indischem Papier 2 Fr. mehr. Wegen 
des handlichen Formates und des geringen 
Preises hat auch dieser Druck viele Freunde 
gefunden. 

Von Nachdrucken des Jüngst herausgege¬ 
benen neuen typischen Totenoffiziums liegen 
mir diejenigen der Firmen Pustet und Schwann 
vor: Officium pro Defunctis cum Missa 
et Absolutione nec non exsequiarum 
ordine. Das geschmackvoll gebundene und 
in Papier wie Druck gleich vornehm sich 
präsentierende Exemplar der Firma Pustet 
kostet 1,00 M. Der Schwann’sche Nachdruck 
(TI) auf stärkerem Papier kostet 2,00 M. Prof. 
Prill hat dem Bändchen die Anleitung zur 
stilgerechten Ausführung der im Officium 
vorkommenden Psalmodie beigefügt. 

II. Außer den vollständigen Nachdrucken 
der vatikanischen Vorlagen beginnen die Ver¬ 
leger, nunmehr auch Auszüge daraus zu ver¬ 
öffentlichen, die in der Auswahl und Anord- 


x ) Es Ist mir unbekannt, dass das neue rhythmische System die Kürzung des Normalwertes aus- 
schüesst und daher den Buchstaben c nicht auf ein einzelnes Notenzeichen, sondern auf einen ganzen Zeichen- 
komplex wirken lässt Warum ich dieser Deutung nicht beipflichtca kann, habe ich in der Greg. Rund¬ 
schau 1900, S. 2 auseinandergesetzt 


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166 


Kritiken und Referate 


nung des Stoffes sich vornehmlich an unsere 
Pfarr- und ähnliche Kirchen wenden. Als erste 
erschien die Firma Schwann in Düsseldorf 
auf dem Plan, die im Berichtsjahre nicht we¬ 
niger als drei verschiedene Auszüge veran¬ 
staltete: Editio Schwann T in großem 
Oktavformat mit dem kräftigen Papier ihrer 
Ausgaben P und R, sowie die beiden Epi¬ 
tomen U und Ul, beide in kleinerem For¬ 
mat und kleineren Typen. Die Ed. T kostet 
in Halbfranz mit Rotschnitt und Goldpressung 
Mk. 5,60, die Ed. U und Ul jede in dersel¬ 
ben Ausstattung Mk. 4,80. Ed. U und Ul 
sind derselbe Druck, nur hat Ul mit dem 
Titel „Römisches Gradualbuch“ statt der la¬ 
teinischen deutsche Rubriken und am Fuße 
der Seite die deutsche Obersetzung der Ge¬ 
sangstexte. Besonders U und U1 präsentie¬ 
ren sich vorteilhaft; sie verbinden mit be¬ 
quemem Format und solidem Einband die be¬ 
kannten Vorzüge der Schwann’schen Choral¬ 
werke. Eine dankenswerte Zugabe sind die 
Formeln für das Amen nach den acht Ton¬ 
arten (Seite 113*) am Ende der Hymnen. Die 
Redaktion von U1, Übersetzung der Rubriken 
und des lateinischen Textes hat R. Borne¬ 
wasser, der Direktor des Aachener Gregorius- 
hauses besorgt. 

In dem Gradualbuch der Firma Pustet 
(broschiert Mk. 3, gebunden Mk. 4, resp. 4,60) 
hat sich der Redakteur, Dr. Karl Weinmann, 
im Interesse der Popularisierung der piani- 
schen Choralmelodien zu einem Kompromiß 
zwischen choralischer und moderner Schrift 
entschlossen, der der Hauptsache nach schon 
an einer ähnlichen Ausgabe des medizäischen 
Graduale seine Probe bestanden hat. Wein¬ 
mann schreibt die für die Pfarrkirche in Be¬ 
tracht kommenden Gesänge in traditionellen 
Choralnoten auf ein System von fünf Linien, 
in Violinschlüssel und geeigneter Transposi¬ 
tion. Texte und Rubriken sind ins Deutsche 
übersetzt. Das Wesentliche an der traditio¬ 
nellen Choralschrift, die Gruppenbildung, ist 
unverändert geblieben; nur die Form des Por- 
rectus ist aufgelöst und als Verbindung von 
Flexa und Punctum quadratum geschrieben. 
Weinmann glaubte, diese Konzession an unsere 
Choralsänger machen zu müssen, denen das 
Zeichen aus den bisherigen Choralbüchern 
nicht bekannt ist. Noch energischer offenbart 


sich die popularisierende Tendenz des „Gra- 
dualbuches“ in der Auswahl des Stoffes, Da 
die Gesänge zwischen Epistel und Evangelium 
bei uns meist nur rezitiert werden, sind von 
allen Gradualresponsorien und den Tractus 
nur die Texte gedruckt, in lateinischer und 
deutscher Fassung. Die Sequenzen dagegen 
sind aufgenommen, die Allelujaweisen nur an 
Festtagen. Wer für das Alleluja eine melo¬ 
dischere Ausführung wünscht (anstatt der Re¬ 
zitation auf einem Tone), findet die dazu not¬ 
wendigen Vorbilder auf einem dem Buche 
beigelegten Zettel; Weinmann hat für jede 
der acht Tonarten eine Allelujaweise ausge¬ 
wählt, die dem zu rezitierenden Verse voran¬ 
geschickt und angehängt werden kann. Die 
konsequente Rezitation der genannten Texte 
bietet auch den Vorteil, daß sie die reicher 
entwickelten Gesänge der Messe trifft, die 
damit für die meisten Choralisten aus dem 
Wege geräumt sind. Alles in allem genom¬ 
men, bedeutet Weinmanns Gradualbuch eine 
Gabe, die ihre Bestimmung in wohl nicht zu 
übertreffender Weise erreicht; es läßt alle 
andern Versuche, das Vatikanische Graduale 
den Kirchenchören in Stadt und Land mund¬ 
gerecht zu machen, hinter sich zurück. Stän¬ 
den der Choralreform nicht so unsäglich viel 
Voreingenommenheit und böser Wille gegen¬ 
über, ein massenhafter Absatz wäre ihm 
sicher. 1 ) 

Einen interessanten Versuch stellen die 
bei der Styria in Graz und Wien verlegten 
„Einzelausgaben“ dar, die Prof. Grune- 
wald in Raab bearbeitet. Msgr. Gladisch, 
Hausprälat Sr. H„ hat in hochherziger Weise 
das Zustandekommen dieses Unternehmens 
ermöglicht. Bisher erschien die erste Liefe¬ 
rung, die Missa pro defunctis. Das präch¬ 
tige Heft, das für deutsche und französische 
Benutzer eingerichtet ist, stellt die vatikanische 
Vorlage und die Grünewaldsehe Transskrip¬ 
tion in Punkten ohne und mit Strich, diese 
die Verlängerung angebend, zusammen. Gra¬ 
duale und Tractus sind zu rezitieren. Ein 
mit Wärme und Kenntnis geschriebenes Vor¬ 
wort verbreitet sich über die Grundsätze der 
Obertragungen, die hauptsächlich den unleug¬ 
baren Mängeln der Umschrift in moderne 
Noten begegnen will. In Anbetracht des sau¬ 
beren Stiches und der hervorragend schönen 


l ) Die Separatausgabe der Gesinge für das Weihnachtsfest (11 Seiten, Preis 20 Pfjg.) hat, wie zu 
hoffen ist, die praktische Anlage und anderen Vorzüge des „Gradualbuches“ in weiten Kreisen bekannt 
gemacht. 


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Kritiken und Referate 


167 


Ausstattung des Heftes ist der Preis von 
75 h (64 Pfg.) nicht zu hoch. 

In diesem Zusammenhänge darf zweier 
Bändchen gleichen Inhaltes Erwähnung ge¬ 
schehen, welche die priesterlichen Altargesänge 
nach der neuen typischen Fassung den Geist¬ 
lichen darbieten und erklären. Die Regens¬ 
burger Firma Pustet gab heraus: Cantus 
ecclesiastici juxta ed. Vat. ad usum 
Clericorum collecti et illustrati (Wein- 
mannsche Sammlung „Kirchenmusik“) 146 S., 
Preis gebunden 1 Mk. P. Johner O. S. B. 
ist Verfasser des Bändchens, welches alle 
Stücke, Lesungen, Orationen und Gesänge, 
die der Liturg am Altäre vorzutragen hat, 
sachgemäß behandelt und zum Teile vollstän¬ 
dig (so die Pnefationen u. a.) aussetzt. Die¬ 
selbe Aufgabe sucht ein vom Schreiber dieses 
bei Schwann in Düsseldorf herausgegebenes 
Heftchen zu titeen: Intonationes et Toni 
Communes Missae (Ed. Schwann J) 50 S., 
Preis 60 Pf. Laut Vorwort: continet ea omnia, 
qtue a Missam celebrante canenda aut alta 
voce legenda sunt; intonationum toni musici 
integri traduntur, orationum autem, lectionum 
etc. indoles ita exponitur et exemplis demon- 
stratur, ut quemvis textum Missalis secun- 
dum has normas enuntiare fiicile sit. Beide 
Ausgaben beschränken sich naturgemäß auf 
die Missa. Sobald das vatikanische Antipho- 
nar oder Vesperale fertiggestellt sein wird, 
werden auch die Toni des Offiziums in ähn¬ 
licher Weise vorgelegt werden. 

III. Um für alle, auch die ungünstigsten 
Verhältnisse gerüstet zu sein, haben sich die 
Firmen Schwann und Pustet endlich noch 
zur Herausgabe von Auszügen aus dem Gra- 
duale in heutiger Notenschrift entschlossen. 
In ganz modernem Gewände, ohne die cha¬ 
raktervolle Plastik der traditionellen Quadrat¬ 
schrift erscheinen also die Schwannsche Epi¬ 
tome e Graduali de Tempore et de 
Sanctis, als Editio Schwann S recentio- 
ribus musiese signis bezeichnet (Preis gebun- 
pen Mk. 4.—) und die Pustetsche Epitome 
ex editione Vaticana Gradualis Ro¬ 
mani, quod hodiern® musioe signis tradidit 
Dr. F. X. Mathias (Preis broschiert Mk. 4.—, 
geb. Mk. 5,60). Die Übertragungsprinzipien 
sind der Hauptsache nach in beiden Büchern 
die gleichen, diejenigen, welche die Benedikti¬ 
ner aufgestellt haben; nur bietet Pustet die voll¬ 
ständigen Gesänge, während Schwann manche 
Gradualien, Alleluja und Traktus ganz oder 
teüweise rezitieren läßt Auch macht die Pu¬ 


stet’sche Epitome einen ausgreifenden Gebrauch 
vom Legatobogen bei den Melismen, während 
die Schwann’sche denselben meist nur für die 
Bestandteile eines und desselben zusammen¬ 
gesetzten Zeichens in Anwendung bringt, ohne 
die großen rhythmischen Einheiten immer 
äußerlich auszudrücken. Tonverbindungen 
von mehr als drei Noten sind von Dr. Mathias 
in Gruppen von je zwei oder drei Gliedern 
aufgelöst, während der Bearbeiter der Schwann’- 
schen Epitome viertonige Gruppen zuläßt. 
Von andern Verschiedenheiten beider Über¬ 
tragungen sehe ich ab. 

Eine Gefahr für Übertragungen von Cho¬ 
ralweisen in moderne Schrift erwächst aus 
der Wiederholung derselben Melodie mit glei¬ 
chem oder verschiedenem Text und aus der 
Verwandtschaft oder Identität melismatischer 
Gänge in den Solostücken. Es gibt Melismen, 
die von Gesang zu Gesang wandern; man 
begegnet ihnen heute, aber auch nach Wochen 
oder Monaten. Da ist es ein Gebot künst¬ 
lerischer Logik wie eine Forderung der Choral¬ 
praxis, daß die Übertragung sich gleich bleibt 
Wenn selbst die rhythmischen Bearbeitungen 
der Solesmenser Patres in diesen Dingen ei¬ 
nige Wünsche unerfüllt lassen (vergl. oben), 
obschon sie durch den Umfang ihrer Choral¬ 
praxis wie die Zahl und Qualität der Hilfs¬ 
kräfte für solche Aufgaben ausgezeichnet vor¬ 
bereitet sind, so bedeutet es gewiß keinen 
Tadel, wenn man feststellt, daß die Pustet 9 sehe 
Epitome in unserer Angelegenheit nicht immer 
konsequent verfährt. Eine zweite Auflage des 
Buches wird die Gleichmäßigkeit überall her- 
stellen. Die Schwann’sche Epitome hat die 
Schwierigkeit durch die Rezitation vieler 
Solostücke aus dem Wege geräumt. Das Pa¬ 
pier der Pustet’schen Ausgabe dürfte dicker 
sein. 

Zu guter Letzt beschert uns der Schwann¬ 
sche Verlag noch mit einem prächtigen Büch¬ 
lein: Gradualia, Versus alleluiatici et 
Tr actus pro Dominicis et Festis diebus in 
cantu simplici e cantu ecclesiarum ambro- 
sianae, aquileiensis, grsecte et mozarabic® de- 
sumpsit et novo usu accommodavit Julius Bas 
(Preis Mk. 2.—, gebunden Mk. 2,40). Bas 
hat einige Singweisen von einfacher, oft syl- 
labischer Haltung aus dem Schatze der nicht¬ 
römischen Liturgien für eine melodische Re¬ 
zitation der Solostücke zwischen Epistel und 
Evangelium bearbeitet. Manche darunter sind 
von einer ausgezeichneten Schönheit, andere 
überraschen durch Würde und Feierlichkeit 


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168 


Kritiken und Referate 


Auch an Eigentümlichkeiten theoretischer Na¬ 
tur fehlt es nicht; ich denke hier namentlich 
an die Schlüsse auf einem andern Tone als 
der Tonika. Das Streben, solche der Verges¬ 
senheit anheimgefallene musikalische Perlen 
für die Gegenwart und Zukunft zu retten, 
verdiente selbst dann eifrige Unterstützung, 
wenn sie nicht als Ersatzstücke für die rei¬ 
cheren Sololieder des Vatikanischen Graduate 
gedacht wären. Eine Ausgabe in Choralschrift 
wäre willkommen, ebenso genauere Angaben 
über ihre Herkunft und das Verfahren des 
Bearbeiters. 

IV. Instruktive Zwecke verfolgt eine kleine 
Schrift des P. Fidelis Böser O. S. B. Der 
rhythmische Vortrag des gregoriani¬ 
schen Chorals (Schwann, Düsseldorf, 1910, 
32 Seiten, Preis 40 Pf.). Sie ruht auf der 
Mocquereau’schen Choralrhythmik, löst also 
die Choralbewegung in eine obligate Verket¬ 
tung von zwei- und dreiteiligen Gliedern auf. 
Scandicus und Salicus sind gleich behandelt. 
Seite 27, Zeile 2 stehen die Noten von -ce- 
lis Deo eine Stufe zu hoch. 

Es sei erlaubt, zum Beschlüsse noch 
einem Wunsche Ausdruck zu geben, der sich 
auf den Druck des Allelujatextes in den neuen 
popularisierenden Büchern bezieht. Es wäre 
besser, das Alleluja mit seinem Verse nicht 
unter dem Graduale, sondern mit eigenem 
Titel zu drucken. Es ist ja kein Stück des 
Gradualresponsorium, sondern in Text, Ton¬ 
art und Melodie von diesem unabhängig, eben¬ 
so wie der Tractus, der mit eigenem Titel 
versehen wird. Ich weiß wohl, daß die Ver¬ 
mengung beider Gesangstücke alt ist. Man 
entdeckt unschwer die ersten Ansätze dazu 
in den Rubriken des Missale Romanum, in 
älteren wie jüngeren Bestandteilen. Wenn 
z. B. in den Rubricse generales Missalis XVI. 
unter den clara voce vorzutragenden Meßteilen 
genannt werden: Epistola, Graduale, 
Versus, Tractus, Sequentia, Evange¬ 
lium, der Allelujagesang also nur in seinem 
Versus besonders genannt ist, so liegt hier 
offenbar die Vorstellung zu Grunde, daß das 
Alleluja vor dem Verse ein Teil des Graduale 
sei. Richtiger drückt sich Kap. VI. des Ritus 
celebrandi Missam aus: . . . prosequitur 
Graduale, Alleluja et Tractum ac Se- 
quentiam. Hier ist der Versus des Alleluja 
nicht besonders erwähnt; er ist in diesem 
selbst eingeschlossen. Dagegen lesen wir 
z. B. unter der Dom. III. Septembris am Feste 
Septem Dolorum B. M. V.: et post Sequen- 


tiam additur Alleluja, quod omitten- 
dum erit in fine Gradualis. Das Alle¬ 
luja ist da wieder als Schlußstück des Gra¬ 
duale aufgefaßt. Diese und andere Dinge be¬ 
lehren uns, daß in der Zeit der Verfassung 
des Tridentinischen Missale die Kenntnis der 
liturgischen Gesangsformen zu schwinden 
begann. Der Abschnitt De ritibus servan- 
dis in cantu Misse der Einleitung zum 
Graduale Vaticanum, der an Gesetzeskraft den 
erwähnten Rubriken des Missale gleichkommt, 
bedeutet in dieser Hinsicht eine hocherfreu- 
liche Rückkehr zu einer genaueren und den 
Eigenheiten der Gesangstücke entsprechenden 
Formulierung. 

Freibuig (Schweiz) Dr. Peter Wagner 


Ritas Miss» Ecclesiaram Orients- 
liam S. Roman» Ecclesi» ünita- 
rum. Collegit, Latinitate Dona- 
vit, Edidit Maximilianus Princeps 
Reglas, Saxonam Dax, Presbyter 
et Universitatis Catholicae Fri- 
bargensis Professor P. 0. Ratis- 
bon», Rom», Neo-Eborad et Cin¬ 
cinnati, Sumptibus et Typis Frede- 
rid Pustet, S. Sedis Apost. et S. Rit 
Congr. Typographi. Fasciculus L 
Missa Syro-Maronitica. XVI, 
64 pag. 1907. Preis 1 Mk. Fasci¬ 
culus II. Missa Chaldaica. XX, 
67 pag. 1907. Preis 1 Mk. Fasci¬ 
culus m. Missa Gr&ca. XXIX, 
103 p. 1908. Preis 1,20 Mk. Fasci¬ 
culus IV. Missa Armenica. XXII, 
58 pag. 1908. Preis 0,80 Mk. Fa¬ 
sciculus V. Missa Syriaca-An- 
tiochena. XIV, 54 pag. 1908. 
Preis 0,80 Mk. 

Die neuere Forschung hat die Blicke der 
Liturgiker und der Freunde der kirchengesang¬ 
lichen Vergangenheit längst auf den Orient 
gerichtet, und wie die Kunsthistorie neuer¬ 
dings aus dem Studium der baulichen Denk¬ 
mäler des kleinasiatischen Christentums die 
fruchtbarsten Anregungen zur Aufdeckung 
wichtiger Zusammenhänge der Kunstgeschichte 
schöpfen konnte, so wendet sich in unseren 
Tagen die gelehrte Arbeit mit einer gerecht¬ 
fertigten Vorliebe zum Kirchengesange der 


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Kritiken und Referate 


109 


ni ch ti a ftnischen Riten. Hier liegen noch 
wertvolle Tatsachen in tiefe Nacht gehüllt, 
deren Erhellung vielleicht überraschende Ein¬ 
wirkungen der orientalischen Praxis auf die 
lateinische offenbar machen wird. Wenn ich 
an die Schriften Thibauts, Gastouds, Rebours*, 
Gaissers über den orientalischen Kirchenge¬ 
sang erinnere, die alle in rascher Folge die 
Öffentlichkeit erblickten, so will ich damit 
nur die verhältnismäßig große Zahl von Ge¬ 
lehrten betonen, die der Gegenstand ange¬ 
zogen hat, wie die Energie, mit der die For¬ 
schung einsetzt, obschon er doch vom prak¬ 
tischen Betriebe der Gegenwart bei uns weit 
abliegt. Sie bilden die beste Zurückweisung 
der kuriosen Urteile, die kurzsichtigen Musi¬ 
kern leicht entschlüpfen, wenn sie ihr Weg 
einmal in eine Kirche nichtlateinischer Li¬ 
turgie führt, und wie sie gelegentlich der Papst¬ 
messe beim Gregoriusfest in Rom (April 1904) 
auch in einigen kirchenmusikalischen Zeitun¬ 
gen zu lesen waren. (Bekanntlich werden im 
feierlichen Papstamt Epistel und Evangelium 
auch in griechischer Sprache vorgetragen.) 

Das Berichtsjahr hat sich der orientali¬ 
schen Musikforschung mit besonderem Eifer 
angenommen; popularisierende, wie streng 
wissenschaftliche Veröffentlichungen gemahnen 
uns in gleicher Weise an die lebendigen Be¬ 
ziehungen zwischen Orient und Occident im 
christlichen Altertum und Mittelalter. 

Kirchengesangliche Absichten waren es 
nicht, welche Se. Königl. Hoheit Prinz Max 
von Sachsen zur Herausgabe dieser Bändchen 
veranlaßten. Ihre Einrichtung würde in die¬ 
sem Falle anders ausgefallen sein. Auch 
eine geschichtliche Darstellung der orientali¬ 
schen Meßliturgie wollte er nicht geben. Diese 
liegt bekanntlich in A. Baumstarks „Messe 
im Morgenland“ (Sammlung Kösel, Bändchen 
Nr. 8) vor, wo ein ausgedehntes Wissen und 
eindringende Forschung in eine leider schwer 
zu genießende Darstellung zusammengedrängt 
sind. Prinz Max übersetzt die Meßliturgie 
von fünf Typen des orientalischen Ritus, die 
bis zur Stunde existieren und sich der aus¬ 
drücklichen Billigung Roms erfreuen, in die 
jedem Gebildeten, Kleriker und Laien ver¬ 
ständliche Sprache. Eine Einleitung schickt 
alles Notige über Geschichte der Liturgien und 
ihre Bekenner, über liturgische Bücher, Klei¬ 
dung, Feste, Kirchenjahr u. a. voraus. So¬ 
weit das ohne Kenntnis der betreffenden Idio¬ 
me überhaupt müglich ist, vermag sich jeder 
an der Hand der Büchlein ein Bild von der 


Orientalischen Messe zu machen und vorkom- 
raenden Falls einer solchen mit Verständnis 
zu folgen, ln unserer Zeit der Orientfahrten 
und -Pilgerzüge ist der Nutzen einer solchen 
Veröffentlichung in die Augen springend. 

Auch der kirchenmusikalischen Wissen¬ 
schaft hat der hohe Verfasser einen Dienst 
geleistet. Beschränken sich die gesanglichen 
Angaben auch nur auf rubrikenhafte Andeu¬ 
tungen, so enthalten sie dankenswerte Finger¬ 
zeige. Die Structur des Meßgesanges ist der 
Hauptsache nach in allen Liturgien die¬ 
selbe. Wie die rOmische Messe, so kennen 
die alten orientalischen Meßordnungen in ge¬ 
hobenem Tone gesprochenes Gebet, Orationen, 
Akklamationen der Anwesenden zu den Wor¬ 
ten des amtierenden Geistlichen, Lesungen 
aus den Heil. Schriften, ebenfalls in mehr sin¬ 
gendem als sprechendem Ton, und echte Ge¬ 
sangstücke, die je nach der liturgischen Funk¬ 
tion bald von einem, bald von allen Sängern, 
dem Gesangchore, ausgeführt werden. In 
dieser Übereinstimmung liegt ohne Zweifel 
ein Argument für den gemeinsamen Ursprung 
der gesanglichen Meßeinrichtungen, und dieser 
kann nur in der Liturgie des jüdischen Tem¬ 
pels und der Synagoge gesucht werden. Christ¬ 
licher Herkunft ist aber die Konsekration der 
Gestalten und in bezug auf sie belehrt uns 
das Studium der orientalischen Meßformu¬ 
lare, daß die Einsetzungsworte des Herrn im 
Orient, wenigstens in der feierlichen Lituigie, 
nicht wie bei uns leise gesprochen, sondern 
vom Zelebranten mit weithin vernehmbarer 
Stimme gesungen werden. In allen Liturgien 
antwortet das Volk oder der Chorus mit 
Amen. 

Diejenigen Gesangstücke, welche von 
den Historikern als die ältesten angesehen 
werden, und bei denen die Wahrscheinlich¬ 
keit für getreue Überlieferung ihrer ursprüng¬ 
lichen Stilelemente spricht, die Gesänge zwi¬ 
schen Epistel und Evangelium, kehren in allen 
Liturgien des Ostens wieder. Ihre rubrizi- 
stische Bezeichnung verdient Beachtung. In 
der syrisch-maronitischen Messe heißt der 
Epistelpsalm: Psalmus glorificationis, 
und wenn der Zelebrant dem Diakon zum 
allelujatischen Gesang den Segen spendet, 
sagt er: Deus suscipiat tuam jubilatio- 
nem et Imtificet corda auditorum . . . 
Diese Ausdrücke würden in trefflicher Weise 
auch zu dem römischen Graduale und Alle¬ 
luja passen; sie lassen jedenfalls eine mdo- 


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170 


Kritiken und Referate 


dische Verfassung vermuten, die der römisch« 
gregorianischen Solomelodik entspricht 

Die Übersetzung der griechischen Me߬ 
formulare, der Missa S. Joannis Chrysostomi, 
der Missa S. Basilii und der Missa Prsesanc- 
tißcatorum, wird den Freunden der liturgischen 
und kirchenmusikalischen Vergangenheit be¬ 
sonders willkommen sein, weil die histori¬ 
schen Beziehungen zwischen Byzanz und Rom 
neuerdings so greifbar hervortreten. Bekannt¬ 
lich hat Rebours in seinem Traitö de la Psal- 
tique p. 140 ff. zahlreiche griechische Me߬ 
gesinge in originaler und moderner Tonschrift 
veröffentlicht. Prinz Max liefert dazu den voll¬ 
ständigen liturgischen Rahmen, so daß man 
nunmehr von der liturgischen und musikali¬ 
schen Eigenheit dieser Missa sich eine zu¬ 
treffende Vorstellung bilden kann, ohne den 
Weg nach Griechenland oder in den Osten 
an treten zu müssen. 

Zum Schlüße sei noch dem Wunsche Aus¬ 
druck verliehen, der hochw. Herr Verfasser 
möge die Sammlung durch eine Bearbeitung 
der sehr wichtigen koptischen Messe ergänzen. 

Freiburg (Schweiz) Dr. Peter Wagner 


Riemann, Dr. Hugo, Die Byzan¬ 
tinische Notenschrift im 10.—15. 
Jahrhundert. Palaeographische 
Studie mit Übertragung von 
70 Gesängen des Andreas von 
Kreta, Johannes Damascenus, 
Kosmos von Majuma, Johannes 
Monachus u. a. Mit 8 photogra¬ 
phischen Faksimiles aus Handschrif¬ 
ten des 10. bis 13. Jahrh. Leipzig, 
Breitkopf & Härtel. 1909. 98 Sei¬ 
ten. Preis 5 Mark. 

Die Erforschung der Tonschriften des 
griechischen Mittelalters hat eigentlich erst 
mit Oskar Fleischer begonnen. (Neumenstu¬ 
dien III. Berlin, 1604.) Er hat zur quellen¬ 
gemißen Lösung ihrer Probleme nicht nur 
als erster den Weg gewiesen, sondern ist des 
Weges noch das bedeutendste Stück selbst 
gegangen. Den Schlüssel der byzantinischen 
Neumen fand er in den zahlreichen überlie¬ 
ferten und meist gleichlautenden Papadiken 
(Schultraktaten), welche die Zeichen in ziem¬ 
licher Vollständigkeit behandeln und auch 
sonst wertvolle Aufschlüsse über die Musik 
ihrer Zeit bergen. Hier erfahren wir, daß die 


byzantinische Tonschrift eine Intervallschrift 
ist; die Zeichen entsprechen einem bestimmten 
Schritt oder Sprung in die Höhe oder Tiefe. 
Der Ausgangspunkt der melodischen Linie 
ist durch die sog. Martyriai sichergestellt, die 
demnach ähnlich wie die lateinischen Ton¬ 
schlüssel funktionieren. Das lateinische Ge¬ 
genbild zur byzantinischen Neumenschrift als 
Ganzes liegt in der Intervall-(Buchstaben)- 
Schrift des Hermannus Contractus vor, der 
vielleicht die mittelgriechischen Neunten ge¬ 
kannt hat. 

Eine Eigentümlichkeit dieser wird durch 
gewisse Zeichenverbindungen gebildet, in de¬ 
nen ein Teil der Zeichen außer Kraft gesetzt, 
aphon, klanglos wird. Dieser Erklärung der 
Papadiken zufolge hat Fleischer in seinen 
Übertragungen die aphon gewordenen Zeichen 
unbeachtet gelassen; dasselbe taten die Ge¬ 
lehrten, die neben ihm sich mit den mittel¬ 
griechischen Neumen befaßten, Gaisser (Les 
heirmoi de Piques dans l’Office grec, Rome 
1905), Thibaut (Origine byzantine de la no- 
tation neumatique, Paris 1907), und Gastouö 
(Cataloque du manuscrits de musique by¬ 
zantine, Paris 1907). 

Einen neuen Weg schlug Hugo Riemann 
ein, der in einem Aufsatze: „Die Metrophonie 
der Papadiken als Lösung der Rätsel der by¬ 
zantinischen Neumenschrift“ (Sammelbände 
der Internationalen Musikgesellschaft IX. S. 1 ff.) 
die aphonen Töne für vor- und nachschla¬ 
gende Ziertöne erklärte. Er erblickte in ihnen 
die Fortsetzung eines antiken Gebrauches. 
Als Träger melismatischer Figuren lassen sie 
für Riemann „die vermisste Verwandtschaft 
des Stils der byzantinischen Kirchengesänge 
mit dem abendländischen“ deutlich hervor- 
treten. Demgemäß übertrug er nunmehr die 
byzantinischen Kirchenlieder und bittet, frühere 
Übertragungen (Zeitschrift der I. M.-G. VII. 
S. 18 ff. und Handbuch der Musikgeschichte 
2. Halbband) „als nicht geschehen zu betrach¬ 
ten, sie vielmehr zu den sonstigen mißglück¬ 
ten Experimenten zu rechnen“. 

Riemann ist seither der Materie nicht 
ferngeblieben. Er hat in der neuen Richtung 
weitergearbeitet und vermag heute seine Un¬ 
tersuchungen in Buchform der Öffentlichkeit 
zu übergeben. (Vorwort der anzuzeigenden 
Schrift.) Seine Aufstellungen über den tona¬ 
len Sinn der Neumen hält er aufrecht. Nur 
bezüglich des Rhythmus seien seine früheren 
Übertragungen noch nicht einwandfrei; er will 
sie durch die neue Arbeit wesentlich ergän- 


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Kritiken und Referate 


171 


zen. Am meisten liegt ihm, wie es scheint, 
an der erwähnten Erklärung der tonlos ge¬ 
machten Zeichen, und er ist sehr unzufrieden, 
daß ein Mitforscher „sich gegen einen so offen 
zutage liegenden Fortschritt versteifen und 
mutwillig die Augen zumachen kann“. 

Das Anfangskapitel über die Nomenklatur 
und die Tonlage der Tfyot erweitert die Dar¬ 
stellung in Riemanns Handbuch I, 2. S. 74 
bis 81. Das Problem der Ableitung des mit¬ 
telgriechischen und lateinischen Achttonarten¬ 
systems vom altgriechischen erhält eine inter¬ 
essante Lösung, in deren Mittelpunkt die 
von Pachymeres (13. Jahrh.) und Bryennius 
(14. Jahrh.) überlieferte Nomenklatur der Ton¬ 
arten steht. Riemann transponiert dabei alle 
Tonarten in die Oktave c—c*, nach ihm die 
effektive Tonlage der ägiuwlat in der prakti¬ 
schen Musikübung der Alten. Demgemäß 
sind auch die Obertragungen byzantinischer 
Gesänge vorgenommen. Ihre Rhythmisierung 
durch Riemann hat seine Theorie des zwei- 
taktigen Schemas mit vier Hebungen zur Un¬ 
terlage, nach der er bekanntlich auch die la¬ 
teinischen Choräle rhythmisch bestimmt hat. 
Während freilich diese Theorie für die gre¬ 
gorianischen Gesänge nur unter prinzipieller 
Ablehnung der authentischen Quellen des 
Choralrhythmus aufrecht erhalten werden kann 
— die ältesten Neumen sind der rhythmischen 
Angaben durchaus nicht in der Weise bar, 
daß es nötig wäre, ihre Rhythmik lediglich 
und immer nur aus dem Gesangstexte ab¬ 
zuleiten — mag sie für die byzantinischen 
Gesänge eher zutreffen, die ja in der Regel 
poetischen Text haben. Riemanns immer wie¬ 
derholte und alle Möglichkeiten umfassenden 
Versuche, hier zu befriedigenden Resultaten 
vorzudringen, fordern Bewunderung heraus. 
Man darf aber, glaube ich, die Möglichkeit 
eines ganz oder zum Teile selbständigen, vom 
Texte unabhängigen musikalischen Rhythmus, 
der in den großen Hypostasen der byzantini¬ 
schen Neumen seine Unterlage besitzt, nicht 
von der Hand weisen. Also denke ich mir 
diejenigen Partien rhythmisiert, in welchen 
der Komponist die Neumenzeichen über einer 
Silbe häuft. Die Darlegung der byzantinischen 
Neumen selbst, die naturgemäß den Haupt¬ 
umfang der Schrift einnimmt (S. 33 ff.), schließt 
das jüngste Stadium aus, welches zu Beginn 
des 19. Jahrh. durch die Reform des Chry- 
santhes von Madytos eröffnet wurde. Mit 
Recht; denn die heutige liturgische Tonschrift 
der Griechen hängt mit der älteren nur mehr 


lose zusammen; sie ist eine Vereinfachung, 
bei der zahlreiche Zeichen ausgemerzt wurden. 
Wer ihren Organismus kennen lernen will, 
findet ihn in der Reboursschen Schrift dar¬ 
gelegt. Riemanns Untersuchungen gehen viel¬ 
mehr von denjenigen Neumen aus, welche 
durch die Papadiken erklärt sind und die 
Handschriften vom 14. bis 18. Jahrhundert 
beherrschen. Die älteren Notierungen bleiben 
uns vorläufig noch verschlossen; theoretische 
und lehrhafte Anweisungen, wie die Papadi¬ 
ken, fehlen hier und man muß sich der Haupt¬ 
sache nach mit Analogien und Kombinationen 
behelfen. Riemanns Deutungen sind sehr 
scharfsinnig, liefern auch Resultate, die nicht 
unwahrscheinlich aussehen. Gerade diese äl¬ 
teren byzantinischen Neumen führen in den 
Mittelpunkt der gesamten Neumenprobleme, 
da sie die Wurzel oder aber wenigstens eine 
Parallelbildung zu den lateinischen Neumen 
sind. Man wird daraus ermessen, wie ver¬ 
dienstlich Riemanns Bemühungen sind, dieses 
dunkle Gebiet aufzuhellen. Indem er von den 
sicher lesbaren Neumierungen der Papadiken 
in die frühere Zeit rückwärts schreitet, findet 
er, daß manche Zeichen ihre Bedeutung ge¬ 
wechselt, andere aber sie behalten haben. Am 
meisten haben mich die Schicksale der Bareia 
interessiert, die, in den späteren Neumen ein 
großes Zeichen ohne tonischen oder Intervall¬ 
sinn, ursprünglich die absteigende Sekunde 
bedeutet haben muß. Diese Feststellung deckt 
sich mit der Geschichte des analogen lateini¬ 
schen Zeichens, des Gravis; beide können ein¬ 
ander stützen. Die ältesten griechisch-byzan¬ 
tinischen Neumen sind diejenigen in Hand¬ 
schriften von Klöstern auf dem Berge Athos, 
um das Jahr 1000 geschrieben. Auch sie 
werden in einigen, leider nicht so trefflich wie 
die anderen gelungenen Reproduktionen vor¬ 
gelegt und die darin notierten Stücke im 
Text der Schrift übertragen. Vielleicht wird 
die Entzifferung der athontischen Neumen auf 
die lateinischen ein neues Licht werfen. Auch 
der in diesen Dingen wenig vertraute Leser 
wird unschwer auf den Riemannschen Photo¬ 
graphien die lateinischen Neumen der Virga, 
Virga jacens, Bi virga, des Podatus, der Bi- 
stropha u. a. wiedererkennen. Die Ähnlich¬ 
keit der Formen der Neumen ist in die Augen 
springend. Solche Tatsachen verbieten es, in 
Zukunft die lateinischen Neumen noch als 
eine für sich alleinstehende Schrift zu be¬ 
trachten oder auch direkt aus den prosodiscben 
Akzenten abzuleiten. Den Beschluß der neuen, 


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172 


Kritiken und Referate 


hoch verdienstlichen Schrift Riemanns macht 
eine Tabelle, die simtiicbe byzantinische Neu¬ 
nten noch einmal übersichtlich zusammen stellt. 
Frei bürg (Schweiz) Dr. Peter Wagoer 


Ambros August Wilhelm. Ge¬ 
schichte der Musik. IV. Band. 
3. verb. Auflage, durchgesehen und 
erweitert von H. Leichtentritt 
Leipzig, Leuckart 1909. Ungeb. 
M. 15.—, geb. M. 17.— 

Mehr als dreißig Jahre sind seit dem 
ersten Erscheinen des vierten Bandes der 
Musikgeschichte von Ambros verflossen, ohne 
daß dieser Teil des monumentalen Werkes 
es wie die vorangehenden zu einer dritten 
Auflage gebracht hätte. Das mußte um so 
mehr wundernehmen, als die zweite Auflage 
schon nach drei Jahren nötig wurde, und als 
der Gegenstand des Bandes: die Vollendung 
und Nachblüte des „Palestrinastils“; die Mor¬ 
genröte der dramatischen Musik; die Kind¬ 
heit des Musikstils, unter dessen Herrschaft 
wir noch heute stehen, der lebendigsten Teil¬ 
nahme gewiß sein durfte. Von einem Ver¬ 
alten des Werkes konnte keine Rede sein: so 
sehr die in jenen dreißig Jahren geleistete 
Forscherarbeit es bereichert hat, so wenig An¬ 
laß besteht, seine so sicher gezeichneten 
Grundlinien zu verändern; ja man muß be¬ 
kennen, daß gewissen Abschnitten die neuere 
Forschung gar nichts hinzuzufugen hat. 

Zu vielen andern freilich um so viel mehr, 
daß es nicht mehr anging, das von Ambros 
hinterlassene Fragment in dem ziemlich de¬ 
solaten Zustand, wie es vorlag, noch ein drittes 
Mal abzudrucken; und diese notwendige Auf¬ 
gabe des Verbessems und Ergänzens hat H. 
Leichtentritt mit Geschick gelöst. 

Man muß ihm vor allem Dank wissen, 
daß er den Text von Ambros mit größter 
Pietät und Schonung behandelt hat. Das noch 
in der zweiten Auflage ganz sinnlos einge¬ 
reihte Kapitel über den monodischen Stil in 
Rom steht jetzt an passender Stelle; ein paar 
unhaltbare biographische Angaben sind durch 
die richtigen ersetzt: im übrigen aber findet 
man Ambros’ Werk unverändert wieder und 
bleibt überall im klaren, wo der Verfasser, 
wo der Herausgeber spricht. 

Der Gesichtspunkt, den Leichtentritt bei 
der Ergänzung eingenommen hat, war der 
möglicher Vollständigkeit Er bst ver¬ 


sucht, durch Verwertung aller ihm erreichbaren 
Eigebnisse der neueren Forschung, und durch 
Benutzung der Neudrucke das Werk auf die 
„Höhe der Zeit“ zu bringen: im letzten Ab¬ 
schnitt hat er sogar eine selbständige Ent¬ 
deckungsfahrt in die terra incognita der Musik¬ 
literatur des 17. Jahrhunderts unternommen. 
Dennoch meine ich, daß der Zusatz „Fragment“ 
auf dem Titel der beiden früheren Auflagen 
auch noch für diese gültig ist, mag auch ihr 
Umfang auf das Doppelte angeschwollen sein. 
Zu einem organischen Ganzen hätte das Buch 
auf dem von Leichtentritt gewählten Weg 
nur werden können, wenn die Forschung der 
letzten Jahrzehnte von einem systematischen 
Plan geleitet worden wäre; sie war jedoch 
eine zufällige und ist weit entfernt von einer 
gleichmäßigen Obersicht. So ist es nicht 
wunderbar, wenn in der Zusammenfassung 
dieser Forschung sich erhebliche Lücken zei¬ 
gen: die Glieder des Torsos haben sich durch 
die neuen Zusätze noch kolossaler ausge¬ 
wachsen, ohne daß ein Oiganismus, dem kein 
notwendiges Glied fehlte, daraus geworden 
wäre. Es ist klar, daß mit der Vermehrung 
des Stoffes die Vermehrung der geschichtli¬ 
chen Einsicht Hand in Hand geht, aber durch 
die Fülle des Details auch der Oberblick über 
das Ganze erschwert wird: war es doch schon 
für Ambros nicht leicht, in dem überreichen 
Stoff die Entwicklungslinien festzubalten! 
Doch mußte Leichtentritt dem Charakter des 
großangelegten Ambrosschen Werkes treu 
bleiben, alles in einem sein zu wollen: Ge¬ 
schichte, Quelle, Beispielsammlung, Biblio¬ 
graphie und Ästhetik: ich fürchte nur, daß 
in kurzer Zeit der Überreichtum des Stoffes 
eine Gebietsteilung und Beschränkung zur 
Notwendigkeit machen wird. 

Das Ziel, das Leichtentritt sich gestellt 
hat: „die umfassendste und vollständigste 
Darstellung der italienischen Musik von etwa 
1550 bis 1650 darzubieten, die gegenwärtig 
überhaupt vorhanden ist,“ hat er sicherlich 
erreicht. Dabei hat er Gewandtheit, Ver¬ 
trautheit mit der in Betracht kommenden 
Literatur; eine leichte Darstellungsgabe — sie 
ist freilich von viel geringerem spezifischen 
Gewicht als die von Ambros; — ein feines 
Urteil zumal über die mehrstimmige a cappella- 
Musik bewiesen. Besondere Freude wird je¬ 
dem Kenner der monodischen Musik der Früh¬ 
zeit die vortreffliche, für diese Art von Musik 
allein angemessene, ja mögliche Ausführung 
des Basso Continuo in den dargebotenen Bei• 


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Kritiken und Referate 


113 


spielen machen; besondere Freude auch, daß 
endlich so viele unbeachtete Neudrucke alter 
Musik, zumal die trotz ihrer Mangel so 
wertvollen von Torchi zu Ehren kommen. 
Das beigegebene Register ist ausgezeichnet 

Diesen Vorzügen stehen allerdings auch 
starke Schwachen gegenüber. 

Der Wert des Bandes als Quelle wird 
noch immer beeinträchtigt durch die große 
Anzahl von Druckfehlern, die sich besonders 
in den italienischen Zitaten finden. Leichten- 
tritt hat offenbar ganz unterlassen, sie mit 
ihren Vorlagen zu vergleichen; so steckt z. B. 
das Zitat aus Doni, S. 203, voll der ainn- 
störendsten Fehler; so ist Anmerkung 3) auf 
S. 314 ff. ein wahrer Rattenkönig von Druck¬ 
fehlern; und so steht es in mehr oder minder 
hohem Grade mit allen Zitaten. Der Name 
Winterfelds, Jacob Burckhardts ist ziemlich 
konsequent falsch gedruckt; auch der Vor¬ 
name des Unterzeichneten ist von diesem 
harten Schicksal betroffen. — Man kann also 
auch aus dieser dritten Auflage nicht zitieren, 
ohne sich einer Blamage auszusetzen. 

Schlimmer ist, daß Leichtentritts Ober¬ 
setzungen aus dem Italienischen nicht recht 
vertrauenswürdig sind. Seite 271 übersetzt 
er spazzacamini mit Spaziergänger: Be¬ 
weis, daß er auch nicht verstanden hat, was 
die spazzacamini in Banchieris Pazzia se¬ 
nile singen. Die Stelle aus Gio. Fr. Ane- 
rios Teatro Spirituale: „che si cantassero 
co$e volgori e devote“ gibt er S. 80 in einem 
sehr wesentlichen Worte unrichtig wieder mit 
„daß sowohl Weltliches wie auch Erbauliches 
gesungen werde.“ Die Oratorien wurden ge¬ 
rade zur Bekämpfung des weltlichen Gesangs 
begründet und gepflegt: volgare heißt auch 
nicht weltlich, sondern gemeinverständ¬ 
lich, hier im Gegensatz zur lateinischen in 
italienischer Sprache. 1 ) Doch scheinen mir 
solche Verstöße weniger die Folge man¬ 
gelnder Sprachkenntnis, als einer etwas hand¬ 
werksmäßigen Eilfertigkeit, die der Grund¬ 
schaden von Leichtentritts Tätigkeit gewesen 
ist und ihre Wirkungen im Kleinsten wie im 
Größten äußert. So hat er auf S. 258 das 
Mißgeschick, über genau die gleiche drama¬ 
tische Aufführung zu berichten, die Ambros 
S. 413 (S. 300 der 2. Auflage) eingehend be¬ 
schreibt. Dieses Kapitel „Zur Vorgeschichte 
der Oper“ ist es überhaupt, das besonders 


den Eindruck einer willkürlich und wahllos 
zusammengetragenen Materialsammlung macht 
Wenn es hier schon so vielen Ballastes be¬ 
durfte, warum dann ist z. B. (S. 262) aus Vasa- 
ris Werk nur die eine Schilderung eines Flo¬ 
rentiner Karnevalszuges zum Abdruck gewählt 
worden? — und in wie schlechter Obertra¬ 
gung! In welch anderm Zusammenhang steht 
dieser Maskenzug von ca. 1511 mit der Ge¬ 
schichte der Oper als im alleräußerlichsten und 
allgemeinsten? An Stelle dieser seitenfinessen- 
den Beschreibungen wäre eine Erörterung des 
Anteils, den das Madrigal an der Entstehung 
der Oper, des Oratoriums, der Kantate gehabt 
hat, sehr wünschenswert gewesen. Neben 
der Madrigalkomödie gibt es z. B. eine Gat¬ 
tung, die man Madrigaloratorium taufen 
könnte und die wirklich der Mutterschoß des 
weltlichen Oratoriums gewesen ist. Ich denke 
an Kompositionen, wie etwa die von Giaches 
de Wert im 8. Buch seiner Madrigale kom¬ 
ponierte Szene aus Tassos Gerusalemme li- 
berata (XVI, 40 ff.), wo Armida dem ent¬ 
flohenen Geliebten nacheilt und ihn mit von 
verhaltener Leidenschaft glühenden Beschwö¬ 
rungen zu halten sucht — ein Werk, das 
zweifellos Monteverdi zu einer seiner 
Kompositionen angeregt hat (Vgl. Vogel, 
V. f. M. W. III, 381.) — Freilich reichen 
hier die vorhandenen Neudrucke nicht ent¬ 
fernt aus, und man muß sich entschließen, 
den ungehobenen Schatz an Madrigalen da 
und dort zu heben: eine zeitraubende Arbeit, 
von der Leichtentritt kein Freund zu sein 
scheint. Er hat beispielshalber das achte Ma¬ 
drigalbuch Monteverdis in Händen; ganz naiv 
bekennt er (S. 870), daß „man aus den Stim¬ 
menheften keine zulängliche Vorstellung von 
der Beschaffenheit der mehrstimmigen Stücke 
erlangen kann.“ Freilich, man muß sie, wenn 
man nicht Mozart ist, in Partitur setzen! 

Es ist dieser Gesichtspunkt der Bequem¬ 
lichkeit, die Rücksicht auf leichte Zugänglich¬ 
keit der Quellen, der dem selbständig hinzu¬ 
gefügten Kapitel, „der monodische Kammer¬ 
musikstil in Italien bis gegen 1650,“ in dem 
Leichtentritt etwas Geschlossenes, Organi¬ 
sches zu liefern das Feld offen stand, Ab¬ 
bruch getan hat. Ich wiederhole, daß die 
mitgeteilten Proben monodischer Musik höch¬ 
sten Dank, die Ausführung des Generalbasses 
darin größtes Lob verdienen. Um so bedauer- 


*) Und nicht Anerio hat 45 (nicht 40) Jahre die Oratorien besucht, sondern der Schreiber der 
Vorrede, Orazk> Griff!. 


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174 


Kritiken und Referate 


lieber ist es, daß dies ganze Kapitel im Sta¬ 
dium bibliographischer Vorarbeiten und meist 
oberflächlicher Analyse der Musikstücke, die 
Leichtentritt in alter oder neuerer Partitur in 
Berlin und Breslau vorfand, stecken geblieben 
ist. Da L. keinen systematischen Überblick über 
diese Literatur hat, kann er auf die eigentlich 
geschichtlichen Zusammenhänge auch 
nicht eingehen; sein Urteil über die Werke jener 
Zeit bleibt immer an ihren rein musikalischen 
Qualitäten haften; er betrachtet sie nur iso¬ 
liert. Dazu kommt seine sehr geringe Ver¬ 
trautheit mit der italienischen Literatur, ohne 
deren Kenntnis man jener Zeit überhaupt 
nicht beikommen kann. Leichtentritt wartet 
hier auf die Vorarbeit der Romanisten; die 
Romanisten dagegen warten mit Recht auf 
den Vorantritt der Musikforschung! Wir be¬ 
tonen doch sonst immer die Notwendigkeit 
unserer Disziplin für die Literaturgeschichte! 

— Ein Beispiel: Leichtentritt beurteilt das in 
der Berliner Bibliothek liegende Werk Tar- 
quinio Merulas „Satiro e Corisca.“ (1626.) 
Er weiß nicht, daß es die wortgetreue Komposi¬ 
tion der sechsten Szene des zweiten Aktes von 
Guarinis Pastor f ido ist, jenes berühmten Dia¬ 
logs „der Corisca mit dem Satyr, der ihr aufge¬ 
lauert, sie überfällt, bei den Haaren festhält und 

— sie mag schreien, jammern, fußfällig flehen, 
schmeicheln, ihm versprechen, was sein Sa¬ 
tyrherz nur wünschen mag — den um die 
Faust gewickelten Schopf nicht loslißt, bis 
sie sich, fluchend, schimpfend und tobend, 
losreißt, den Schopf im Stich lassend, der so 
falsch wie sie selbst“ 1 ) — ein Gegenstand der 
Komposition, der gewiß verschieden ist von den 
sonst aus dem Pastor fido von den Ton- 
setzem gewählten monodischen und dialogi¬ 
schen Madrigalen, und dessen Wahl Merula be¬ 
rechtigte, in der Widmung zu sagen, sein Werk 
sei „riguardevole per l’inventione, che ö nuo- 
va,“ und es sei „musica di Satiro, al cui suo- 
no non cosi facilmente sapranno tutti pre- 
stare armonico concento.“ Es ist die erste 
große komische Szene der dramatischen Mu¬ 
sik; es steckt in ihr eine Reihe historischer 
und ästhetischer Probleme. Wie lautet Leich- 
tentritts Urteil? (S. 880) „ • • . . ein unend¬ 
lich langes Rezitativ, 25 Seiten Partitur, dar¬ 
stellend den Streit des Satiro mit der ihm 
untreuen Corisca. Lebhafter Dialog, eine 
Stimme immer die andere ablösend, beide 


*) Klein, Gesch. des Dramas V. 201. 


Stimmen singen nicht zusammen, ariose Stel¬ 
len kommen überhaupt nicht vor. Das Rezi¬ 
tativ ist als Sprachgesang gut, die Harmonie 
ist mit erheblicher Freiheit behandelt, in der 
Art Monteverdis, an plötzlichen Übergängen 
in ganz entfernten (sic!) Tonarten fehlt es 
nicht (Beispiel). Frei einspringende Septimen 
nach Monteverdischer Art sind sehr häufig.” 

Wer, um ein weiteres Beispiel zu nennen, 
die in den Varie musiche von 1609 (nicht 
1608) von Peri komponierten Gedichte auf 
ihre ästhetischen Qualitäten untersucht hat, 
muß Leichten tri tts formale Analyse des Werks 
auf S. 786 herzlich platt finden. Den Schnitzer 
von Ambros auf S. 343, eines der bekannte¬ 
sten Sonette Petrarcas für einen Text aus „Flo¬ 
rentiner Kreisen“ zu halten, hätte ein lite¬ 
raturkundiger Herausgeber verbessert. Ein 
ähnlicher Fall ist S. 440, wo Ambros bei 
einem Madrigal von Capello bemerkt, daß 
„augenscheinlich Poet und Musikus im Ein¬ 
verständnis gearbeitet haben;” es war leicht 
festzustellen, daß Ambros schwerlich im Recht 
ist, da das von Marino stammende Gedicht 
schon 1602 erschien. 

Noch ein paar Belege für den Vorwurf 
allzu flüchtiger Arbeit. Enthalten Amante 
Franzonis „Nuovi Fioretti“ von 1605 wirk¬ 
lich Monodien? (Seite 777). Vogel bemerkt 
davon nichts. — Sind die auf S. 807 angeführ¬ 
ten „Varie Musiche“ Vitalis üb. V. nicht 
dasselbe Werk, wie das später erwähnte 
„V. Buch?“ — Monteverdis „Cruda Ama- 
rilü“ sei im 19. Jahrhundert nicht mehr ge¬ 
druckt worden? (S. 544.) Bei Torchi IV. 30 
steht es samt seinem Gegenstück aus dem 
Pastor fido. — Enthalten Durantes „Arie 
devote“ wirklich nur Monodien? (S. 834.) 
Gleich das zweite Stück „Angelus ad Pastores“ 
ist zweistimmig. — Die von Torchi III. 245 mit¬ 
geteilte Fuge, angeblich von Frescobaldi, trägt 
den Stempel der Entstehung im angehenden 
18. Jahrhundert an der Stirn; schon Seif- 
fert (Gesch. der Klaviermusik S. 181) spricht 
sie Frescobaldi ab. (S. 740, Anmerkung.) 

An leicht zugänglicher Literatur hat Leich¬ 
tentritt nicht alles verwertet. Über Loreto 
Vittorijs „Le Zitelle Cantarine“ war bei 
Klein, Gesch. des Dramas V. 745 eingehende 
Auskunft zu holen (513). Bei Angabe der 
Quellen über die Bedeutung Mantuas für die 
Musikgeschichte hätte D*Anconas schöne 


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Kritiken und Referate 


175 


Arbeit im Giern, atorico delk lett It. V. 
(1885) nicht übergangen werden sollen (536). 
Solertis Quellenwerke führt Leichtentritt 
zwar an, aber es scheint, daß er weder die 
„Origini del Melodramma,“ noch „Musica, 
Bailo e Drammatica alle Corte Medicea (Flo¬ 
renz 1905) benützt hat; er hätte aus letzterem 
Werk entnehmen können, daß Caccinis Euri- 
dice in Florenz wirklich zur Aufführung ge¬ 
langte (354) und zwar am 5. Dezember 1602 
im Palazzo Pitti; er hätte dort nähere Be¬ 
richte über den musikalischen Teil der Flo¬ 
rentiner Feste von 1608 (395), und für S. 397 
wertvolle Ergänzungen zu Emil Vogels Dar¬ 
stellung gefunden. Dem ganzen Kapitel über 
die Theoretiker hätte die Auffrischung durch 
Riemanns treffliche Geschichte der Musik¬ 
theorie sehr wohlgetan. Ober die Angemes¬ 
senheit des Platzes, den Leichtentritt dem 
Excurs über Verzierungskunst in diesem Ka¬ 
pitel gegeben hat, läßt sich streiten. 

Zum Schluß erlaube man mir noch einige 

ZiffäfTE, 

S. 128. Von Ant. Cifra gibt es nicht 
bloß vier Bücher „Scherzi.“ Fünf verzeich¬ 
net Vogel; das sechste von 1619 liegt in einem 
handschriftlichen Dedikationsexemplar auf der 
Biblioteca Nazionale in Florenz. — Auch An¬ 
tonio Brunellis erstes Buch der Arie, 
Scherzi etc. (op. IX, 1613), ist erhalten, wie 
so manches andere Werk, das Vogel nicht 
verzeichnet; ich werde darüber an anderm 
Ort berichten. 

S. 134. Ober Giuseppe Corsis Leben 
kann ich aus einem Bericht des kurbayri¬ 
schen Agenten Bartoli aus Loreto vom 14. Ju¬ 
ni 1681, einige Mitteilungen machen. 1 ) Der 
Agent berichtet: 

„Venerdl sera giunse qul da Narni Cittä 
della Provincia delTUmbria il Signor Don 
Gioseppe Celani, persona che doppo morto 
in Roma il Carissimi, hä fama di teuere il 
primo luogo sopra tutti li Mastri di Cap¬ 
pella, con la quäl carica se ne vä al servi- 
tio del Serenissimo Ducs di Parma, et ha- 
vendo pur per Mastro di Cappella servito 
per lo spatio de 9 anni la santa Casa (di 
Loreto), ä stato qul accolto communemente 
con segni di stima, e d’aflbtto; portatosi 
poi il giorno seguente ä riverire Monsignor 
Govematore, si compiacque SS*« 111»« mo- 
tivarli, che volentieri haverebbe sentito al- 
cuna sua composirione, onde Domenica sul 
tardi si tenne un Oratorio nella sala vecchia 
del Palazzo, la quäle benche spatiosa si 


vidde tutta ripiena ä quattro ordini di se- 
die, e scabdli, oltre li Astanti in piedi, e 
si cantö, durata un’hora, e mezza ä 3 voci 
basso, contralto, e soprano in forma di 
Dialogo r Historia, come nella sacra Scrit- 
tura, di Abraham, che havendo contratto 
un flgliuolo di nome Jsmaele con Agara 
sua Ancilla, furono ambedue da lui scao- 
ciati di Casa .... E dopo si nobile cotn- 
positione riuscita gratissima, furono cantate 
alcune ariette, altretanto piü belle. 11 giorno 
seguente fermatosi detto Signor Celani in 
Loreto ad istanza d’Amici, dovevasi cantare 
ä 16 voci con diversi instromenti Y Historia 
diSansone, tradito da Dalila sua Con- 
cubina con la morte in fine di lui, e di 
copiosissimo numero de Filistei, fu provata 
in Casa di Cittadino, e riusci benissimo.. 
Ober Corsi vergl. außer Eitner auch 
Busi (Il Padre G. B. Martini, S. 68, 101). 
Von einem P. F. Corsi, der Maestro di Ca» 
pella di Santa Luda del Confhlone war, be¬ 
findet sich in der Chisiana zu Rom eine 
Oper In amor vince chi fugge.“ 

S. 153. Ambros sieht in der Vidchörig- 
keit mit Recht einen Grund für die Notwen¬ 
digkeit der Entstehung des Basso continuo. 
Die erste gedruckte Continuostimme findet sich 
vielleicht in der Spartitura der achtstimmigen 
Concerti Ecclesiastid von Adriano Ban- 
chieri; wenn es nicht eine wirkliche Par¬ 
titur ist, wie man sie besonders in Mailän¬ 
der Drucken um 1600 häufig an trifft. Die 
beiden andern von Riemann, Gesch. der Mu¬ 
siktheorie, S. 411, angeführten Werke von 
Deering und Bianciardi gehen bibliogra¬ 
phisch auf zu trübe Quellen zurück, als daß 
man an ihre Existenz glauben dürfte. Da¬ 
gegen enthalten die 5—12 stimmigen Concerti 
Ecdesiastid von Giovanni Bassano, Lib. II„ 
Venedig 1599, die ich in S. Petronio zu Bo¬ 
logna sah, einen richtigen Basso Continuo; 
(„Bassi (!) per l’Organo) und zwar nur die 
7—12 stimmigen Stücke. Bassano bietet seine 
Orgelstimme ohne ein einziges, die Neue¬ 
rung ankündigendes Wort dar: Beweis, daß 
es sich um einen bekannten Behelf für mehr- 
chörige Werke handelt. 

Zu S. 720. Die handschriftlichen 
Kompositionen Frescobaldis sind nicht alle 
verloren. In der Chisiana zu Rom habe ich 
1906 ein Mas. Sonate von Frescobakli in 
Händen gehabt (Sign. Q. IV. 25), das kaum 
die Abschrift eines gedruckten Werks des 
großen Ferraresen ist; wenigstens wüßte ich 


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116 


Kritiken und Referate 


in keinem Druckwerk Frescob&ldis von einer 
„Partita sopra l’Aria di Fiorenza,“ mit der 
die Handschrift beginnt. In der gleichen Bib¬ 
liothek noch weitere Orgeltabulaturen aus der 
Zeit Frescobaldis. <Q. IV. 21.) 

S. 716. Sonderbar ist Leichtentritts Be¬ 
merkung: „daß 1608 Frescobaldis „Primo libro 
de’Madrigali a 5 voci“ bei Phalöse in Ant¬ 
werpen erschien, muß man Fötis aufs Wort 
glauben, weil das einzige früher bekannte 
Exemplar des Werkes gegenwärtig verschollen 
ist.“ Vogel I. 250 verzeichnet vier Stimm¬ 
bücher davon in Oxford; und die Widmung 
des Werkes hat Cametti (Riv. mus. ital. 
1908) abgedruckt, durch dessen Studie Haberl 
in vielen Punkten überholt ist. So ist jetzt 
die unwahrscheinliche Angabe widerlegt, daß 
Frescobaldi sein ruhmreiches Amt an St. Peter 
verließ, um ein Jahr lang den Organisten an 
dem Kirchlein S. Lorenzo ai Monti zu ma¬ 
chen; so wird als sein Sterbetag der 1. März 
1643 mit Bestimmtheit erwiesen. Bei Er¬ 
wähnung der Monodien Frescobaldi’s wäre 
die ergötzliche Schilderung Doni’s (opp. II, 105) 
am Platz gewesen, wie der große Meister der 
Oigpl bei der Komposition eines Vokalstückes 
sich über jedes ihm dunkle Wort bei seiner 
Frau Aufklärung holen muß. — In der Tat 
scheinen Frescobaldi’s Werke im neuen Stil 
gequälte, seiner nicht ganz würdige Erzeug¬ 
nisse zu sein. 

München Dr. Alfred Einstein 


Ctesari Gaetano. Die Entstehung 
des Madrigals im 16. Jahrhun¬ 
dert (Münchener Dissertation.) Cre- 
mona, 1908. Preis M. 5.— 

Ein Buch, dessen allgemeinste Ergeb¬ 
nisse sicherlich nicht neu sind. Daß das Ma¬ 
drigal in Tonsätzen der Art wurzelt, wie sie 
Petrucci in den neun Büchern Frottole ver¬ 
einigt hat; daß es aber auch zur Frottola 
in Gegensatz steht; daß der aufkommende 
Petrarchismus seinen Einfluß auch auf die 
Gestaltung der musikalischen Lyrik äußerte; 
daß an der Weiterbildung des Madrigals die 
nordländischen Tonsetzer das größte Verdienst 
haben: das alles sind der Musikgeschichte 
geläufige Tatsachen. In so eingehender, jede 
Einzelheit durchdringender Weise ist der merk¬ 
würdige und wichtige Prozeß jedoch noch nicht 
dargestellt worden; und das Verdienst, das 


sich Cesari damit um die Geschichte des Ma¬ 
drigals erworben hat, ist kein geringes. 

Cesari geht aus von der formalen Seite 
der Frage. Was ihren literarischen Teil be¬ 
triffit, so vertreten unter den alten Theoretikern 
des Madrigals die einen mehr den histori¬ 
schen Standpunkt: sie wollen den Zusammen¬ 
hang des cinquecentistischen Madrigals mit 
der klassischen Madrigalform nicht aufgeben, 
während die andern, Bembo an der Spitze, 
nur das erstere im Auge haben. Hier ist 
nun die Verwandtschaft des Madrigals mit der 
Ballata, und seine fast völlige Identität mit 
der Ca n Zonen stanze deutlich. Unter dem 
Namen der Canzone taucht denn auch in den 
Musikdrucken zwischen 1510 und 1530 das 
Madrigal auf; Marco Cara ist hauptsächlich 
der Meister, der sich ihm mit offenbar be¬ 
wußter Vernachlässigung der Frottola und des 
Strambotto gewidmet hat Der Name des 
Madrigals findet sich dann zuerst (1533) im 
Libro de la Serena Valerio Doricos, der 
ersten in Stimmbüchern gedruckten Samm¬ 
lung mit Text in allen Stimmen. In den 
Texten der bis 1539 folgenden Madrigal¬ 
drucke überwiegt bei weitem die neue Madri¬ 
galform : 144 von 193 Stücken weisen sie auf; 
während das klassische Madrigal nur in 
verschwindender Zahl vertreten ist, darunter 
mit zweien der Madrigale Petrarcas. 

Cesari geht dann auf die Beziehungen 
zwischen Text und Musik ein. Dem freien 
Bau im Motettenstil steht gegenüber die 
architektonische Behandlung, in welcher Me¬ 
trik, Versrhythmus, Reim ihre formbildende 
Wirkung äußern. — Hier scheint mir ein, 
auch von Cesari bemerkter Widerspruch zu 
bestehen. Warum fallen die Madrigalkompo¬ 
nisten, sobald der Text ihnen durch Korre¬ 
spondenzen Anlaß zu musikalischen Wieder 
holungen bietet, in die frottolistische Manier 
zurück, während in der Auswahl der Dichtun¬ 
gen die freie Madrigalform so stark überwiegt? 
Auch das Sonett trägt die formalistischen 
Eierschalen lange mit sich herum. Verdelot 
setzt z. B. in einem Sonett Petrarcas zu den 
beiden Vierzeilern die gleiche musikalische 
Periode, obwohl die zweite Strophe eine 
starke musikalische Steigerung erfordert: 
Passer mai sditario in alcun tetto 
Non fü quant’io, ne fera in alcun boeco 


Lagrimar sempre l f l mio sommo düetto; 

Jl ridcr doglia; ü cibo assenüo e tosco; . . . 


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Kritiken und Referate 


177 


Also bei fortschrittlicher Auswahl des 
Textes befangene Auffassung und Behandlung! 

Ein Rätsel bleibt auch die Wahl des Na¬ 
mens Madrigal für die sich bildende Kunst¬ 
form, da doch weder ein pastoraler Inhalt 
ihn rechtfertigt, noch die poetische Form an 
das klassische Madrigal erinnert; noch rät¬ 
selhafter, wenn Biadene mit seiner bekannten 
Erklärung der Bezeichnung matricale = 
rozzo, popolare, spontaneo recht hat. 
Das neue Madrigal kann wenigstens mit dem 
Gegenteil dieser Begriffe charakterisiert wer¬ 
den. 

Im entwicklungsgeschichtlichen Teil seiner 
Arbeit zeigt Cesari, wie nach dem Verfall 
von Frottola und Strambotto, die im Quattro 
cento die Kunstlyrik überwuchert hatten, sich 
am Beginn des 16. Jahrhunderts eine neue 
literarische Geschmacksrichtung durchsetzt, 
und wie dieser Umschwung das Madrigal her¬ 
aufführt. Daran schließt sich eine treffliche 
Analyse der Kunstmittel der ersten Madriga- 
listen, und eine feinsinnige Charakterisierung 
der verschiedenen Madrigalschulen: der vene¬ 
zianischen, der florentinischen und römi¬ 
schen. — Da der Wert von Cesaris Arbeit, die 
mit einer für einen Italiener ungewöhnlichen 
Beherrschung der deutschen Sprache geschrie¬ 
ben ist, auf der sorgsamen, auf volle Kenntnis 
des literarischen wie musikalischen Materials 
sich gründenden Ausführung beruht, so 
erlaube man mir, auf sie selber dringend zu 
verweisen. Ich wüßte ihr im einzelnen nur 
wenige Zusätze zu machen; so z. B., daß der 
Textdichter von Arcadelt’s berühmtem Ma¬ 
drigal „II bianco e dolce cigno“ Giovanni 
Guidiccioni ist, obwohl Anton Francesco 
Doni es dem Cassola zuschreibt. 

München Dr. Alfred Einstein 


H. Leichtentritt. Geschichte der 
Motette. Leipzig, Breitkopf & Har¬ 
tei. 1908. Preis 8 M. 

Als zweiter Beitrag zu den von H. Kretzsch- 
mar angeregten Handbüchern der Musikge¬ 
schichte erschien im vorletzten Jahr die Ge¬ 
schichte der Motette, bearbeitet von H. Leich¬ 
tentritt. Die Aufgabe war insofern nicht leicht, 
als auf der einen Seite die klassische Mo¬ 
tette der Niederländer und Italiener bereits 
durch Ambros, die deutsche Motette durch 
Winterfeld eine glänzende Darstellung erfahren 
hatte, auf der andern Seite aber das bis auf 

KlrstMomwik. Jthrboofa. 2S. Jahrg. 


die Gegenwart bin zu bewältigende Material 
ein so ungeheueres ist, daß es einer beson¬ 
ders geschickt disponierenden Hand bedurfte, 
um den nach allen Seiten ausbiegenden Strom 
des Geschehens nicht über die Ufer fluten 
zu lassen. Das Buch enthält eine ziemliche 
Reihe Kapitel, von denen man sagen kann, 
daß sie diese Aufgabe glücklich lösen und 
eine hocherfreuliche Bereicherung der Litera¬ 
tur bilden. Andere stehen ihnen gegenüber, 
bei denen die Größe des Stoffs und die Kraft 
zu seiner Bewältigung sich nicht ganz ent¬ 
sprachen und wir die Erwartung hegen, daß 
eine spätere Überarbeitung dies Mißverhält¬ 
nis aus der Welt schaffen wird. 

Der Verfasser beginnt mit der frühen 
französischen Motette, deren Wesen und Be¬ 
deutung er nach den gerade im letzten Jahr- 
zent so zahlreich erschienenen Neudrucken 
knapp und treffend charakterisiert, ohne dabei 
schon die Aubrysche Prachtausgabe der Bam- 
berger Motettenhandschrift heranziehen zu 
können, die wohl erst nach Drucklegung des 
Buches erschien. Es folgen dann die Motet¬ 
tentypen der niederländischen Schulen, wobei 
Josquin und Clemens non papa ihrer über¬ 
ragenden Stellung gemäß mit ausführlicheren 
Analysen bedacht sind, folgt Orlando di Lasso, 
dessen Kapitel mit ganz besonderer Hinge¬ 
bung geschrieben ist und mit dem nächsten 
über „Palestrina und die römische Schule“ 
wohl eins der besten des ganzen Buches aus¬ 
macht. Auch sucht der Verfasser mit treff¬ 
lichem Gelingen nicht nur die unzähligen Ar¬ 
ten und Abarten der nach-josquinschen Mo¬ 
tette ins Klare zu stellen, die verschiedenen 
Techniken der einzelnen Meister zu sondern 
und anzugeben, wo das Neue und Eigenartige 
liegt, das sie hinzubrachten, er spürt auch 
dem poetischen Gehalte der Schöpfungen mit 
feinfühlender Hand nach, macht auf den 
Reichtum an wundervollen Klangmischungen, 
die Fülle inneren Lebens im Stimmenorga¬ 
nismus aufmerksam, geleitet und vielfach an¬ 
geregt durch sein großes Vorbild Ambros. 
Nicht minder geschickt behandelt ist der Ab¬ 
schnitt über die venetianische Schule mit 
ihren gewaltigen doppelchörigen Motetten, das 
Kapitel über die konzertierende Motette in 
Venedig und Rom, wobei deren Motetti a 
voce sola als Pseudomotetten, alias geistlichen 
Monodien, mit Recht nur im Vorübergehen 
gedacht wird. Die deutsche Motette wird in 
zwei Gruppen‘dargestellt: bis zum Jahre 1600, 
und von Heinrich Schütz bis Bach. Abrisse 

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Kritiken und Referate 


über die zum Teil geschichtlich noch nicht 
lückenlos zu überblickende Entwicklung der 
spanischen, französischen und englischen Mo¬ 
tette des 15. bis 18. Jahrhunderts und ein 
Epilog „Die Motette seit J. S. Bach“ be¬ 
schließen die an feinen Bemerkungen und 
manchen neuen Beobachtungen reiche Dar¬ 
stellung. 

Neben den bekannten Anthologien von 
Commer, Proske, Rochlitz, Lück usw. und 
den in der letzten Zeit fortgesetzten bezw. be¬ 
endeten großen Gesamtausgaben und Denk¬ 
mälerpublikationen bildeten vor allem K. v. 
Winterfelds zahlreiche, in der kgl. Bibliothek 
Berlin aufbewahrten Partiturkopien die Quellen 
für die Arbeit des Verfassers. Ganze Ab¬ 
schnitte des Buches gründen sich fast aus- 
schießlich auf die Kenntnis dieser Winterfeld- 
schen Musica sacra. Mit Freude wird man 
gewahr, wie damit ein in der Stille vollbrach¬ 
tes Stück Lebenswerk dieses großen Kenners 
klassischer Kirchenmusik einer späteren Ge¬ 
neration in neuer Form zugute gekommen 
und durch unablässiges Hinweisen auf die 
von ihm zusammengetragenen Schätze ihm 
ein neues Denkmal gesetzt ist. Man kann 
geradezu sagen, daß nur auf Grund von Win¬ 
terfelds Vorarbeit eine Geschichte der klassi¬ 
schen Motette heute gewagt werden konnte, 
da das Spartieren auch nur der Werke der 
allerbedeutendsten Meister das halbe Leben* 
eines einzelnen erfordern würde. Indessen, 
wieviele neue Namen, neue Werke hat die 
Forschung seit Winterfeld aufgedeckt, wieviel 
neue Quellen sind erschlossen worden, die 
uns Jüngeren die Pflicht einer fortdauernden, 
ebenso emsigen Sammel- und Spartierarbeit 
auferlegen! Soweit zu sehen, hat nun aber der 
Verfasser unseres Buches hierin neue Vorstöße 
nicht zu unternehmen versucht. „Da alle diese 
wichtigen Quellenwerke (Förster, Rhaw, Mon- 
tan-Neuber) in Partitur noch nicht vorliegen, 
so ist über Walthers Motetten vorläufig nichts 
zu sagen“ (S. 318). Das Promptuarium des 
Schadäus, ein „für die Geschichte der Mo¬ 
tette ungemein wichtiges Quellenwerk, ist leider 
mangels einer Partiturausgabe nicht benutz¬ 
bar“ (!) (218); „leider ist nichts davon (näm¬ 
lich von J. Meilands Motetten) gegenwärtig 
in Partitur zugänglich“ (320); „dieses Haupt¬ 
werk der venetianischen Kunst (A. und G. 
Gabrielis Concerti) kommt gegenwärtig man¬ 
gels einer Partiturausgabe für das Studium 
leider noch nicht in Betracht“ (221). Diese 
befremdenden „leider“ wiederholen sich leider 


so oft (S. 143, 103, 280, 320), daß man fra¬ 
gen muß, warum hat der Verfasser diesen 
Leiden nicht ein schnelles Ende gemacht, in¬ 
dem er, das Auge auf Winterfelds 130 starke 
Partiturbände gerichtet, aus jedem der von 
ihm selbst als hochwichtig angesehenen und 
leicht zugänglichen Sammelwerke etwa zehn 
oder zwölf Motetten in Partitur setzte, nament¬ 
lich wenn es sich um Aufklärung über einen 
mit Neudrucken nicht bedachten Meister han¬ 
delt. Wo sich an solchen nichts vorfand, zog 
sich der Verfasser mit einem seiner bösen 
„leider“ aus der Affäre. So kommt es, daß 
einige Sterne am Motettenhimmel ungenügend 
oder gar nicht besprochen sind. Antonio Cifra 
z. B. ist als Motettenkomponist sicherlich am 
besten in Rom und Bologna zu studieren. 
Donfrieds „Promptuarium“ (vollständig in der 
Kgl. Bibliothek Berlin) bevorzugt aber gerade 
Cifra mit mehr als 20 Motetten vor allen 
andern so offen, daß — abgesehen von den 
in andern inländischen Bibliotheken leicht zu 
erreichenden Originaldrucken — kein Deut¬ 
scher sich über Mangel an Orientierungs¬ 
gelegenheit beklagen kann. Die Erwartungen, 
die Ambros vor Jahren gerade bezüglich Ci- 
fras Motettenschaffen rege machte, hätten 
durch die kleine Mühe des Spartierens von 
einem Dutzend seiner Stücke wohl bestätigt 
werden können. Wie Cifra so ergeht es aus 
gleichem Grunde andern Komponisten, na¬ 
mentlich oberitalienischen, die bei der vor 70 
und mehr Jahren allenthalben durchbrechen¬ 
den Begeisterung für die römische Schule an 
Neudrucken etwas zu kurz kamen, z. B. Matteo 
Asola und seinem Landsmann Vinc. Ruffo, 
Tib. Massaini und dem sehr beliebten und 
geschätzten Leone Leoni, für die die Biblio¬ 
theken in Berlin, Augsburg, Breslau genügend 
Stimmenmaterial zur Verfügung stellen. Bres¬ 
lau, das sehr reich ist gerade an Drucken 
oberitalienischer Meister, hätte auch zu einer 
tieferen Fundierung der Bologneser Kirchen¬ 
musikschule (Cazzati, Cossini) gern die Hand 
geboten. Was mir im Archiv von S. Petronio 
in Bologna an Vokalmusik Pertis unter die 
Hand gekommen ist, deutet darauf hin, daß 
nicht alle seine Motetten im Stile des bekann¬ 
ten Adoramus gesetzt sind, sondern die In¬ 
strumente fleißig mitkonzertieren lassen, wie 
es bei Cazzati der Fall ist. 

Nicht erschöpfend ist die Darstellung der 
Motette der neapolitanischen Schule. Die we¬ 
nigen Worte, die (S. 203 ff.) über Scarlatti, 
Durante, Jommelli, später über Leo und Hasse 


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Kritiken und Referate 


179 


gesagt sind, entsprechen nicht der Quantität 
des Produzierten, das hier freilich — wenn 
man auf die Editionen von Porro, Latrobe 
und Novello zu verzichten gezwungen ist, wie 
es beim Verfasser anscheinend der Fall war 
— schwerer zu erreichen ist als sonst. La¬ 
trobe hätte hier in manchen Punkten am be¬ 
sten aushelfen können. Daß der gefeierte 
Pergolesi in der Motette wenig geleistet, hätte 
angemerkt werden können. Nicht genannt 
sind — um einige anzuführen — Porpora, 
von dem manches in Deutschland vorhanden 
ist, Galuppi, Saratelli, Furlanetto, Sarti, Sac- 
chini, also jene Meister, die für die venetia- 
nischen Mädchenkonversatorien sicherlich eine 
ganze Anzahl lateinischer Motetten geschrie¬ 
ben haben. Manches davon hat sich in Dres¬ 
den erhalten. Wenn diese Literatur auch kei¬ 
neswegs auf der Höhe der alten polyphonen 
Motette steht, so durfte doch das Unzuläng¬ 
liche, was in ihr geschichtliches Ereignis 
wurde, nicht ignoriert werden, denn der Laie 
ist versucht zu glauben, die italienische Mo¬ 
tette sei im 18. Jahrhundert plötzlich in der 
Versenkung verschwunden. — Unter den Eng¬ 
ländern hätte noch Heinrich VIII. als Verfasser 
der von Hawkins mitgeteilten Motette Quam 
pulchra est, unter den Spaniern und Por¬ 
tugiesen Fernando de las Infantas (Victimse 
paschali bei Dehn, Sammlung älterer Musik 
usw.) und Damian a Goes (Ne lseteris nach 
Glarean-Hawkins) erwähnt werden können. 

Unter den Deutschen vermißt man un¬ 
gern Leonh. Paminger, über den erst vor weni¬ 
gen Jahren (1907) K. Weinmann in diesem Jahr¬ 
buch eine bibliographische Studie erscheinen 
ließ, ferner Joachim a Burck, von dessen in 
den Eitnerschen Publikationen erschienenen 
deutschen Liedern (1575) einige ins Gebiet 
der Motette fallen (außerdem seine Cantiones 
sacrse!), desgleichen Barth. Gesius (Concen- 
tus eccles. 1607) und der durch G. Göhlers 
Dissertation wieder bekannter gewordene 
Zwickauer Kantor Freund mit seinen Weih¬ 
nachtsmotetten. Hier war eine Benutzung der 
Sammlungen von Schadäus, Bodenschatz, 
Montanus-Neuber unbedingt notwendig, sollten 
keine Lücken bleiben. Die bekannten Tabu¬ 
laturen Dübens in der Universitätsbibliothek 
Upsala hätten für andere Meister aushelfen 
können; besonders gut vertreten sind dort 
Capricomus und Caspar Förster. Der deut¬ 
schen Motette des ausgehenden 16. und be¬ 
ginnenden 17. Jahrhunderts außer Gallus, 
Hasler, Prätorius und Schütz hat der Verfasser 


sichtlich weniger innere Wärme entgegenge¬ 
bracht; ihm klingen noch die lockenden Har¬ 
monien der Italiener im Ohr, wenn er von 
den Meiland, Calvisius, Leonh. Schröter, Greg. 
Lange, Melch. Franck spricht. Diese ziehen 
dabei' natürlich den kürzeren, können aber 
dadurch in unserer Schätzung doch nicht an 
Selbständigkeit und Eigenart verlieren. Erst 
bei Schütz und Hammerschmidt gerät die 
Darstellung wieder in Fluß. 

Auch die Geschichte der deutschen Mo¬ 
tette verläuft im vorliegenden Buche schon 
am Anfang des 18. Jahrhunderts im Sande, 
und auch hier muß gesagt werden, daß trotz 
des Abstandes, den die Literatur des empfind¬ 
samen Zeitalters von der der Spätrenaissance 
trennt, ihre Abfertigung auf drei Seiten unge¬ 
recht und irreführend ist. Um den Zeitraum 
von Bach bis Hugo Wolf und Rieh. Strauß 
auf acht Seiten zu erschöpfen, dazu gehört 
schon ein ziemlicher Mut. Von Friedr. Schnei¬ 
der und Bernhard Klein erfährt man gar 
nichts, und nur obenhin wird der Renaissance 
der alten Vokalpolyphonie zur Zeit Thibauts 
und Friedr. Wilhelms IV. gedacht. Die Na¬ 
men Neuthardt und E Nauman hätten in Ge¬ 
sellschaft Commers erwähnt werden müssen. 
Bei sinnigen Köpfen aus späterer Zeit wie Kiel, 
Richter, Herzogenburg, Rheinberger, vielleicht 
*auch bei einigen aus der cäcilianischen Gruppe 
verweilte mancher gewiß länger, ließe sich 
wohl auch gern über vorzügliche Könner wie 
Grell etwas näher unterrichten. Da der Leser 
hierzu keine Gelegenheit findet und ihm die 
Motettenpflege weder im heutigen Italien, noch 
Frankreich, noch England als erheblich vor- 
gestellt wird, so hinterläßt das letzte Kapitel 
des Buches den Eindruck eines betrüblichen 
Defizits im Haushalt des neueren a cappella-, 
speziell des Motettengesangs. Hier muß also 
bei einer späteren Auflage entschieden ein 
übriges getan und ergänzend und vervoll¬ 
ständigend eingegriffen werden. 

Daß freilich den Historiker, der nicht nur 
Palestrinas und Orlandos Stücke sondern 
auch den Schatz von Motetten kleinerer Mei¬ 
ster des 15. bis 17. Jahrhunderts durchgear¬ 
beitet hat, beim Anblick der neueren Kanto¬ 
renmotette ein gewisses Bedauern ergreift, 
und er sich nur mit halbem Herzen dem zu¬ 
wendet, was der Musikalienmarkt von heute 
manchmal an Motetten an den Tag bringt, 
wer könnte ihm das verübeln? Man wünschte, 
des Verfassers ausführliche und eindringliche 
Kapitel über die niederländische, italienische 

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Kritiken und Referate 


und deutsche Motette vor Bach kämen recht 
vielen unserer der Historie noch nicht ent¬ 
fremdeten schaffenden Musikern unter die 
Hand und regte sie an, die Distanz nach 
Kräften zu verkleinern, die sich zwischen der 
Motette von einst und jetzt selbst fürs Auge 
des Laien auftut. 

Leipzig Dr. A. Schering 


Veröffentlichungen der Gregorian; 
Akademie zu Freiburg (Schweiz), 
herausgegeben von Professor Dr. 
P. Wagner. 

ID. Heft. Zur spätmittelalterl. 
Ghoralgeschichte St. Gallens. 
S. VI und 248 von Dr. Otto Marxer, 
Professor am Kollegium Maria Hilf, 
Schwyz. Druck der Buchdruckerei 
„Ostschweiz“, St. Gallen, 1908. Preis 
Mk. 4.80; Fr. 6.— 

Im III. Heft der Gregorian. Akadamie 
weist Dr. Marxer darauf hin, daß die St. Galli¬ 
sche Gesangspflege vom 9.—12. Jahrhundert 
in einem gewissen Gegensatz zu den anderen 
Kirchen des Abendlandes stand, indem sie in 
schriftlicher Darstellung und Vortragsweise 
des liturgischen Gesanges auf byzantinische 
Vorbilder zurückging. Die Folge davon zeigte 
sich in einem zunehmenden Rückgang und 
schließlichen Untergang (S. 1—12) des rein¬ 
gregorianischen Gesanges. Da man in St. 
Gallen die neumenreichen Jubilationen nicht 
mehr zu schätzen wußte, belegte man in den 
Sequenzen und Tropen jede Note mit einer 
Textsilbe, obgleich von Zeit zu Zeit aus dem 
Scriptorium der Abtei noch ein oder das an. 
dere Graduale und Antiphonarium hervorging. 
Mit dem kirchenmusikalischen Verfall ging 
auch der wissenschaftliche und religiöse Hand 
in Hand, bis endlich im 16. Jahrh. ein Um¬ 
schwung zum Besseren eintrat (S. 14), beson¬ 
ders unter Abt Franz Geisberg (1504—1529), 
der die alten berühmten Sequenzen und Tro¬ 
pen abschreiben ließ und die Abfassung neuer 
Kirchengesänge veranlaßte. Eine Sammlung 
derselben ist uns im Kodex 546 erhalten 
(S. 23), den Dr. Otto Marxer in der vorliegen¬ 
den Schrift bibliographisch und bibliologisch 
behandelt und zum Abdruck bringt und zwar 
(zur Ehre der Buchdruckerei sei es gesagt) in 
schönen Typen und 10 prächtigen Licht¬ 
drucken. 


IV. Heft. Das Graduale Junta 1611 
Ein Beitrag zur Gioralgeschichte des 
17. Jahrh. von Dr. C. H. Leineweber. 
Freiburg (Schweiz). S. VH und 72. 
Buchdruckerei des Werkes v. Heil 
Paulus, 1909. Preis Mk. 2.—; 
Fr. 2.50. 

Im IV. Hefte der Gregorian. Akademie 
beschreibt Dr. Leineweber ein Graduale, das 
1611 in der Offizin der Junta zu Venedig er¬ 
schienen ist, und macht an zahlreichen Bei¬ 
spielen alle die Fehler namhaft, die wie den 
Choraldrucken jener Zeit so auch diesem 
Graduale eigen sind: Unregelmäßigkeit in allen 
Gesangsformen, angefangen vom Rezitativ bis 
zu den reichmelismatischen Gesängen, Unge¬ 
nauigkeit in der Textunterlage, fehlerhafte 
Stellung der Schlüssel, Mängel in den Rubriken 
und Gesangstexten, Willkür in der Kürzung 
der Melodie und Psalmodie, Planlosigkeit in 
der Änderung der Tonfiguren, Verwischung 
von Chor- und Sologesang, Verletzung der ein¬ 
fachsten Kompositionsgesetze usw. Der Leser 
der Schrift kommt zur Überzeugung, daß der 
Choralreformator änderte, was er nicht ver¬ 
stand und in der II. Hälfte seines Graduale 
kürzte, was er in der ersten gnädig hatte 
stehen lassen. 

Die zwei besprochenen Werke sind von 
unverkennbarem Werte für die Musikgeschichte 
und können den Interessenten warm em¬ 
pfohlen werden. 

Seckau P. Cölestin Viveil O. S. B. 


Sammlung „Kirchenmusik“. Heraus¬ 
gegeben von Karl Weinmann. 
Verlag von Fr. Pustet, Regensburg 
ä 1 M. 

I. Bändchen: Karl Proske, der Re¬ 
staurator der klassischen Kirchen¬ 
musik, vom Herausgeber 1909. 

In unserer alles popularisierenden Zeit ist 
eine neue Sammlung volkstümlich gehaltener 
Schriften, welche das Verständnis der „Kirchen¬ 
musik weiten Kreisen zugänglich machen 
sollen, lebhaft zu begrüßen. Muß ja doch 
durch Eindringen in die Schönheit der Musica 


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Kritiken und Referate 


181 


sacra ein Wall gegen alles profane und un¬ 
kirchliche Element geschaffen, der Sinn und 
Geschmack für eine der erhabenen Liturgie 
würdige Musik geweckt und veredelt, aber 
dann auch so die Liturgie selbst in ihrer ein* 
drucksvollen Größe und Wahrheit dem Her¬ 
zen des Volkes näher gebracht werden. Dar¬ 
um wird jeder Freund einer echten Kirchen¬ 
musik dem Herausgeber wie dem Verlag Dank 
wissen, daß sie ein derartiges Unternehmen 
ins Leben riefen. Möge jedoch dieser Dank 
nicht beim bloßen Gefühle stehen bleiben, 
sondern auch durch eifrige Abnahme und Lek¬ 
türe der gebotenen Schriften die Lebenskraft 
des Werkes fördern. 

ln pietätvoller Weise hat nun der Heraus¬ 
geber dem Restaurator der klassischen Kirchen¬ 
musik, Karl Proske, das erste Bändchen ge¬ 
widmet. Damit führt er uns am besten in die 
Erfassung des Ursprungs und Werdegangs der 
kirchenmusikalischen Reform des 19. Jahr¬ 
hunderts und damit der Musica divina selbst 
ein. Klar treten aus dem Lebens- und Cha¬ 
rakterbilde Proskes die treibenden Faktoren 
der Liebe zur Liturgie, des Glaubenslebens 
der Romantik und der Tradition hervor, wel¬ 
che zur Repristination des Palestrinastils in¬ 
nerhalb der katholischen Kirche führten. Ein 
„Rückblick und Ausblick“ zeigt uns in ge¬ 
drängter Kürze das Wirken der bedeutendsten 
Männer, die in Proskes Spuren gewandelt und 
durch Arbeiten von bleibendem Werte frohe Zu- 
kunftshoffhungen geweckt haben. Ein Anhang 
stellt uns Proskes nie rastende, edle, begei¬ 
sterte Persönlichkeit durch Wiedergabe des 
Tagebuches seiner ersten italienischen Reise 
unmittelbar vor die Seele. Von allgemeinstem 
Interesse sind besonders die Mitteilungen über 
Entstehung und Anlage der einzigartigen sog. 
Proskeschen Musikbibliothek in Regensburg, 
welche nun durch die weitblickende Huld Sr. 
Excellenz des Bischofes Dr. Antonius von Henle 
allen Musikgelehrten erschlossen und dem 
verdienten Verfasser dieses Schriftchens zur 
Verwaltung übergeben worden ist. Vielleicht 
wird uns letzterer bei einer zweiten Auflage 
auch in den theoretischen Teil der Biblio¬ 
thek mehr einführen, der im vorliegenden 
Bändchen verhältnismäßig zu kurz gekommen 
ist und wird dann für die Periode des Pale- 
strinastiles eine andere Benennung Anden als 
die eines „Zurückgreifens auf das Mittelalter“, 
dem doch weder der Meister von Praeneste 
noch Orlandus angehört hat. 


n. Bändchen: Elemente des grego¬ 
rianischen Gesanges von Dr.Peter 
Wagner, o. Prof. a. d. Universität 
Freibarg (Schweiz). 1909. 

Die mächtige Stimme der Geschichte, die 
das großartige wissenschaftliche Forschen des 
19. Jahrhunderts so sehr geweckt hat, ist nun 
auch im Heiligtum der Musica divina erschol¬ 
len und fordert gebieterisch ihren Tribut, mag 
auch der Gehorsam liebgewordenen Gewohn¬ 
heiten von Dezennien nur schmerzlich ent¬ 
sagen. Aber die Kirche, als Hüterin der 
Wahrheit und unverfälschten Tradition hat 
sich niemals den wahren Ergebnissen wissen¬ 
schaftlicher Arbeit verschlossen; sie fordert 
durch den Mund ihres Oberhauptes Rückkehr zu 
den geheiligten Oberlieferungen, denen das 
größere Recht der Geschichte zukommt und 
die, um so unmittelbarer aus dem Geiste der 
Kirche geboren, am reinsten und ursprüng¬ 
lichsten im kirchlichen Choral verkörpert sind. 
Zeigt uns daher das erste Bändchen in Leben 
und Wirken Proskes die Rückkehr zum über¬ 
lieferten polyphonen Gesang — so führt uns 
die vorliegende Schrift in die Elemente des 
überlieferten einstimmigen Chorals bei der hei¬ 
ligen Liturgie der Kirche ein. Der Verfasser 
klärt uns in der Einleitung über Begriff, Wesen 
und Eigenschaften, sowie über Notwendigkeit 
und Nutzen des Studiums des Chorals auf 
und geht sodann im I. Kapitel zur Betrach¬ 
tung der Choralgeschichte über. Ein weiteres 
Kapitel erläutert die Ausführung des Chorals 
nach Tonbestand, Notenschrift, Vortrag, wo¬ 
bei namentlich für die Orgelbegleitung höchst 
beachtenswerte Winke gegeben werden. Im 
dritten Kapitel ist die Theorie des gregoriani¬ 
schen Gesanges behandelt, so besonders Ton¬ 
system, Tonarten, Melodiebildung und Rhyth¬ 
mus, während ein Abriß der Formenlehre das 
Ganze abschließt. Der reichhaltige Inhalt ver¬ 
rät überall den genauen Kenner, sowie den 
warmbegeisterten Verteidiger der unverfälsch¬ 
ten Tradition und der würdigen Feier der Li¬ 
turgie. Fast immer tritt der historische Stand¬ 
punkt der Betrachtung hervor, so daß wir bei 
der lebensvollen Darstellung vor unserem gei¬ 
stigen Auge gewissermaßen die einzelnen Stufen 
des Chorals sich aufs neue entwickeln und 
Leben gewinnen sehen. Würde das Bändchen 
in einer neuen Auflage noch mehr das prak¬ 
tische Moment berücksichtigen, so würde es 
für Chorallehrende und Lernende wohl eine 
noch größere Bedeutung gewinnen. 


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Kritiken und Referate 


m. Bändchen: Cantus Ecclesiastici 
juxta Editionem Vaticanam, quos ad 
usum Clericorum collegit et illustravit 
P. Dominicus Johner 0. S. B. 

Fast gleichzeitig mit der Schrift Professor 
Dr. Wagners über die Elemente des gregoria¬ 
nischen Gesanges ist als deren willkommene 
Ergänzung eine rein praktische Zusammen¬ 
stellung der bei den heiligen Verrichtungen 
gewöhnlich vorkommenden Gesangesweisen 
erschienen. Das Büchlein vermittelt bei ge¬ 
ringem Umfang und bequemem Taschenformat 
eine vorzügliche Übersicht der betreffenden 
Choralpartien aus Missale, Officium und Pon- 
tiflcale. Zum Verständnis der Choralschrift 
ist überall, wo es notwendig erscheint, die 
neuzeitliche Schreibweise der Noten beigefügt, 
außerdem die am häufigsten sich einstellenden 
Fehler bei der gesanglichen Wiedergabe des 
Chorals gekennzeichnet und richtiggestellt 
Der lateinische Erklärungstext läßt die Schrift 
auch über die deutsche Sprachgrenze hinaus, 
besonders für Priesterseminarien, als höchst 
empfehlenswert erscheinen, um den Choral 
nach der Vorschrift der Encyclica Plana sin¬ 
gen zu lernen. 

Regensbuig Dr. Wilhelm Scherer 


Bachjahrbuch 1008. Im Aufträge der 
neuen Bachgesellschaft herausgege¬ 
ben von Arnold Schering. Leip¬ 
zig, Breitkopf & Härtel. Preis M. 4. 

Zum fünften Male geht heuer diese von j 
den Bachfreunden nun schon als vertraute 
Bekannte begrüßte Publikation in die Welt. 
„Will man heute unsere Stellung zu Bach 
charakterisieren, so wäre dies etwa mit zwei 
Worten gesagt: Aufdeckung des Gefühhls- ! 
gehaltes und Deutung der Absichten Bachs, 
die die Physiognomik seiner Werke bestim¬ 
men“ Dieses treffende Wort, das A. Heuß 
in seiner hermeneutischen Studie über die 
Matthäuspassion geprägt hat, scheint nach 
und nach auch seitens des Bachjahrbuchs als 
Leitmotiv erkoren zu werden. So wird der 
neue Jahrgang durch eine umfassende „Aus¬ 
drucksstudie“ von W. Voigt über die drei 
ersten Teile des Weibnachtsoratoriums einge¬ 
leitet, der sich weiterhin ein ähnlicher klei¬ 
nerer Beitrag von Heuß über die Textauf¬ 
fassung des Kantatenchors „Brich den Hung¬ 
rigen dein Brot“ anschließt. Das damit be¬ 


rührte Forschungsgebiet, sowie praktische An¬ 
regungen in der Art von R. Buchmayers 
nur leider sehr unangenehm polemischen 
Studie „Cembalo oder Pianoforte“ oder Max 
Schneiders Ausführungen über „Bearbei¬ 
tung Bachscher Kantaten“ haben jedenfalls 
das Hauptarbeitsfeld einer Publikation wie 
das „Bachjahrbuch“ zu bilden. Daneben sind 
dann auch bio-bibliographische Beiträge (B. Fr. 
Richter: „Über S. Bachs Kantaten mit ob¬ 
ligater Orgel“) und reinbiographische Studien 
(R. Buchmayer: „Nachrichten über das 
Leben Georg Böhms mit spezieller Berück¬ 
sichtigung seiner Beziehungen zur Bachseben 
Familie.“) willkommen. Das meiste Interesse 
in katholisch kirchenmusikalischen Kreisen 
wird das diesmalige Bachjahrbuch aber durch 
den darin teilweise abgedruckten Vortrag Ed¬ 
gar Tinels „Pie X. et la musique sacröe“ 
erregen, der die sicherlich vielen unerwartete 
These aufetellt, daß nicht ein Zurückgehen 
auf Palestrina, sondern auf Bach jene Reform 
der kirchlichen, spezifisch katholischen Figu- 
ralmusik zu erreichen sei, wie sie Pius X. 
im Motu proprio dringend fordert. Stellung 
zu dieser Anschauung zu nehmen, geht im 
Rahmen einer kurzen Buchanzeige natürlich 
nicht an; jedenfalls aber wird Tinel als einer 
der einflußreichsten Musiker katholischer 
Konfession durch seine Anregung auf die 
weitesten Kreise nicht nur seines Landes, 
sondern der gesamten Musikwelt wirken. 

Starnberg Dr. Engen Schmitz 


Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 
1908. XV. Jahrgang. Herausgegeben 
von Rudolf Schwartz, Leipzig, C. 
F. Peters, 1909. Preis M. 4.— 

Der Herausgeber versteht es seinen Lesern 
Wein in goldenen Schalen zu bieten: Guido 
Adler eröffnet das Jahrbuch mit einem hoch* 
interessanten Aufsatz über Heterophonie; 
ihm folgt H. Abert mit: J. G. Noverre und 
sein Einfluß auf die dramatische Balletkompo¬ 
sition; daran schließt sich H. Kretzschmar: 
„Zwei Opern Nicolo Logroscinos“ (mit 
einer Musikbeilage) und „Die Jugendsin¬ 
fonien Joseph Haydns“; den Abschluß 
bildet das mühevolle, aber äußerst schätzens¬ 
werte „Verzeichnis der in allen Kul. 
turländern imjahre 1908 erschienenen 
Bücher und Schriften über Musik.“ 


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Kritiken und Referate 


183 


Eine Empfehlung des wertvollen Buches er¬ 
übrigt sich; die Namen der Verfasser der 
einzelnen Aufeitze bürgen für die Gediegen¬ 
heit des Inhalts, wenn man auch zuweilen 
ein Fragezeichen — z. B. zum Einleitungs¬ 
auhatz — setzen wird. 

K. W. 


Jahrbuch der Zeit- und Kulturge¬ 
schichte 1908. H. Jahrgang. Heraus¬ 
gegeben von Franz Schnürer. Frei¬ 
burg i. Br. Herder. 1909. Preis geb. 
M. 7m 

Bei der Besprechung des 1. Jahrgangs 
dieses wertvollen Jahrbuches haben wir ein 
Referat des Leipziger Musikgelehrten Alfred 
Heuß angeführt, das die stiefmütterliche Be¬ 
handlung der Musik und die gänzliche Aus¬ 
schaltung der Kirchenmusik bedauerte. Die¬ 
sem Mangel hat nun der umsichtige Heraus¬ 
geber abgeholfen und wir können mit Freuden 
ein Urteil des gleichen Referenten über den 
vorliegenden 2. Jahrgang zitieren: (Zeitschrift 
der Internationalen Musikgesellschaft X, 11/12» 
S. 370): „Sehr zu begrüßen ist es, daß der 
Anteil der Musik ein ganz anderer wie im 
letzten Jahrgang geworden ist. An erster Stelle 
findet man einen Aufsatz über „Kirchliche 
Musik“ ... ferner über Oper und Konzert. 
Gegenüber den paar Seiten im letzten Jahr¬ 
gang präsentiert sich jetzt die Musik mit über 
20 Seiten quantitativ und qualitativ in ganz 
anderer, sehr vorteilhafter Weise.“ Möge 
dem 3. Jahrgang eine ebenso günstige Auf¬ 
nahme beschieden sein! 


Mühler-Gattss, Kompendium der ka¬ 
tholischen Kirchenmusik. Ravens¬ 
burg, F. Alber, 1909. Preis geb. 
M. 5m. 

Das Kompendium besteht aus 3 Teilen. 
Der l.Teil enthält „Geschichte und Ästhetik“, 
der 2. Teil „Theorie und Praxis“, der 3. Teil 
„Orgel- und Glockenkunde“. Man muß den 
Verfassern nachrühmen, daß sie ihren Stoff 
wohl beherrschen und in gefllliger Form zur 
Darstellung gebracht haben; freilich wird bei 
einem solchen Werke in einer Neuauf¬ 


lage manches berichtigt, manches ergänzt 
werden müssen. Vielleicht entschließen sich 
die Verfasser auch bei dieser Gelegenheit den 
2. und 3. Teil, der allzuviel Detail enthält, 
etwas zusammenzuziehen, damit das Kompen¬ 
dium an Einheitlichkeit gewinnt, einen etwas 
niedrigeren Preis erhält und so jene weite 
Verbreitung erlangt, die dem praktischen 
Buche in allen Interessentenkreisen vollauf 
gebührt. 


Springer Max, The art of accom- 
panying plain chant. Translated 
from the German by the benedictine 
fathers. New York, J. Fischer & Bro. 

Der Verfasser hat mit seiner „Kunst der 
Choralbegleitung“ und „Der liturgische Choral¬ 
gesang“ (Regensburg, H. Paweleck) zwei 
Bücher geschaffen, die mit zu dem Besten ge¬ 
hören, was die neueste Literatur auf dem 
Choralgebiete aufeuweisen hat: überall zeigt 
sich der erprobte Fachmann, dem es nicht 
nur um eine richtige, sondern auch um eine 
künstlerisch wertvolle Choralbegleitung 
zu tun ist, ein Moment, das in unserer Kir¬ 
chenmusik vielfach gar sehr im Hintergrund 
steht. Das obige Buch ist die englische Über¬ 
setzung von Springers deutschem Werk. Dem¬ 
selben empfehlende Briefe voranzudrucken, 
hat der amerikanische Verleger natürlich noch 
weniger unterlassen können, wie der deutsche, 
— eine Praxis, die man bei wissenschaftlichen 
Werken für gewöhnlich nicht gewohnt ist. 

K. W. 


Missale Romanum in 480. EditioXTV. 
post alteram typicam. Regensburg, 
Fr. Pustet, 1909. Preis ungebunden 
M. 4.50. 

Das Messbuch der hl. Kirche. La¬ 
teinisch und deutsch mit liturgischen 
Erklärungen bearbeitet vonP. Anselm 
Schott. 12. Auflage. Freiburg, Her¬ 
der. Preis geb. M. 3.50. 

Das Missale Romanum der Firma 
Pustet enthält als typische Ausgabe, wie sie 
der Priester am Altäre gebraucht, alle Meß- 
formulare des ganzen Kirchenjahres; für die 


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184 


Kritiken und Referate 


acht bayerischen Diözesen ist ein gemeinsames 
Proprium erschienen. Die vorliegende Edition 
bildet ein Novum in der liturgischen Fach¬ 
literatur und ist in ihrer äußerst gefälligen, 
kleinen Form bestimmt, das Gebetbuch für die 
lateinkundigen, speziell für unsere akademisch 
gebildeten Laien zu werden. 

Das Schottsche Meßbuch wendet sich 
an einen anderen Kreis der Kirchenbesucher, 
an die des Lateins unkundigen Gläubigen. Es 
ist kein Zweifel, daß ein solches Gebetbuch 
ein innigeres Mitleben und Mitfuhlen mit 
unserer wundersamen kirchlichen Liturgie — 
im engsten Anschluß an dieselbe — ermög¬ 
licht und besonders Kirchensängern und 
-Sängerinnen gute Dienste leistet, zumal auf 
Kirchenchören, wo kein Choral gesungen wird. 

K. W. 


Weber Wilhelm, Beethovens Missa 
solemnis. Nene durch einen Anhang 
erweiterte Ausgabe. Leipzig, F. E. C. 
Leuckart Preis M. 1.50. 

Beethovens unvergängliches Meisterwerk 
hat in Prof. Weber einen begeisterten Inter¬ 
preten gefunden. Beruht auch diese Interpre¬ 
tation auf subjektivster Gefühls- und Gedan¬ 
kenarbeit — deren Gipfelpunkt jedenfalls die 
Exegese der Meßteile S. 79 ff. bildet — so 
müssen wir doch gestehen, daß der Verfasser 
mit feinem psychologischen Verständnis dem 
Menschen und Künstler Beethoven nachge¬ 
gangen ist. Die Frage nach der „Kirchlichkeit“ 
der Messe hält Weber für eine „müßige“: „Die 
Missa solemnis ist viel zu subjektiv, um 
objektiv kirchlich zu sein“ (S. 63); und damit 
hat er auch das Richtige getroffen. Außer der 
ungarischen Stadt Pest, wo die Messe meines 
Wissens alljährlich zur Aufführung kommt, 
wird es wohl kaum mehr einen größeren ka¬ 
tholischen Kirchenchor geben, der in gänzlicher 
Verkennung der katholischen Liturgie, das 
Riesenwerk in den Rahmen derselben zwingen 
möchte. Für Konzertaufführungen aber dürfte 
die Studie des Verfassers — besonders die 
treffliche musikalische Analyse (Kap. IX.) — 
ein sicherer Führer zum geistigen Erfassen 
und Miterleben sein. 

K. W. 


Moesmang Max, Geschichte der Alt- 
öttinger Stifts- und KapeUmaslk. 
Ein Beitrag zur Geschichte der Kir¬ 
chenmusik in Bayern. Altötting, L. 
Steiner, 1909. 

Die größeren bayrischen Städte, besonders 
wenn Klöster und Stifte dort bestanden, haben 
eine reiche musikalische Vergangenheit hinter 
sich; ich erinnere an Regensburg, dem der 
t Dr. Dominikus Mettenleiter eine heute noch 
geschätzte „Musikgeschichte“ widmete (Regens¬ 
burg 1865k Augsburg und Nürnberg, die 
den Brennpunkt des musikalischei^Mittelalters 
bildeten (vgl. Sandberger, Denkmäler Bayer. 
Tonkunst Jahrg. V, 1), an München, wo ein 
Orlando und seine großen Nachfolger wirk¬ 
ten usw. Auch der berühmte Wallfahrtsort 
Altötting kann sich einer regen musikalischen 
Tätigkeit rühmen. Ist es auch nur eine be¬ 
scheidene Studie, die uns der Verfasser bietet, 
so beruht sie doch auf zuverlässigem Quellen¬ 
material. Beginnend mit dem Ende des 
15. Jahrhunderts entrollt uns M. ein bewegtes 
Bild voll interessanter Einzelheiten bis herauf 
in unsere Tage. (Vgl. auch Kirchenmusikal. 
Jahrbuch 1897.) „Ad multos annos“ ruft der 
Verfasser dem jüngsten Kapellmeister L. Mu- 
ckenthaler, der seit 1900 eine neue glück¬ 
liche Periode der Altöttinger Kapellmusik in¬ 
augurierte, am Schlüsse seiner Geschichte zu 
— an Weihnachten hat man den unermüd¬ 
lichen 38jährigen Kirchenmusiker zu Grabe 
getragen, — eine wehmutsvolle Ergänzung der 
kleinen Studie. K. W. 


Franke, W. F., Theorie and Praxis 
des harmonischen Tonsatzes. Hand- 
und Lehrbuch für den Unterricht 
und das Studium der Theorie der 
Musik. 2.neubearb. Auflage. Leipzig, 
F. E. G. Leuckart, 1909. Preis3Mk. 

Eine Harmonielehre, — um den lang¬ 
atmigen Titel kurz auszudrücken — die den 
Stoff in klarer und übersichtlicher Weise und 
namentlich in einer ausreichenden Anzahl von 
Obungsbeispielen zur Darstellung bringt. 
Wenn in einem neuhinzugefügten Kapitel die 
Harmonisation des „Chorals“ behandelt wird, 
so ist darunter nicht der „gregorianische“ 
Choral, sondern der Choral der evangelischen 
Kirche zu verstehen. K. W. 


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Kritiken und Referate 


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Riemann Hugo, Musiklexikon. 7., voll¬ 
ständig umgearbeitete Aufl. Leipzig, 
M. Hesse, 1909. Preis geb. M. 10.50. 

Ober die Gediegenheit dieses Musiklexi¬ 
kons ausführlich zu sprechen, hieße Wasser 
in die Donau tragen; es genügt zu sagen: das 
Riemannsche Musiklexikon ist das beste, 
das wir besitzen. Wenn ich speziell die Km 
chenmusiker wiederholt auf das Werk aufmerk¬ 
sam mache, so geschieht es deshalb, weil 
vielfach die irrige Meinung besteht, das Lexi¬ 
kon behandle nur die weltliche Musik und 
lasse die Kirchenmusik abseits liegen. Nichts 
ist unrichtiger als das; freilich soll damit nicht 
gesagt sein, daß die einzelnen Teilgebiete der 
Musica sacra die gleich sichere Bearbei¬ 
tung erfahren haben. Wo das musikhisto¬ 
rische Moment in Frage kommt, ist jeder 
Artikel ein Beweis für die peinlich-genaue 
Arbeitsweise des Herausgebers — ich ver¬ 
weise z. B. nur auf die Komponisten-Namen 
der klassischen Polyphonie; — wo aber der 
Verfasser das liturgische Gebiet betritt, da 
beginnt der Boden unter seinen Füßen zu 
wanken. Zum Beweise hierfür greife ich 
z. B. den Artikel „Messe“ heraus, der unter 
anderem folgenden Satz enthält: „Weiter 
unterscheidet man stille Messen, bei denen 
nur der zelebrierende Priester und die Mini¬ 
stranten singen, und Ämter, bei denen auch 
Diakon und Subdiakon außer dem Chor sin¬ 
gen, für welch letzteren allein auch mehr¬ 
stimmiger Gesang mit oder ohne Instrumental¬ 
musik zur Anwendung kommen kann. Missae 
breves sind nur bezüglich der Ausdehnung 
und der angewandten Kunstmittel einfachere 
Formen der Missae solemnes.“ Von dem 
Leipziger Musikgelehrten wird gewiß nie¬ 
mand die liturgischen Kenntnisse eines 
katholischen Theologen fordern, aber diese 
heiklen Gebiete verlangen eben einen Fach¬ 
mann; musterhafte Beispiele, wie diese 
Artikel ungefähr abgefaßt werden sollen, 
gibt z. B. das treffliche „Kirchliche Hand¬ 
lexikon“ von M. Buchberger (Allgemeine 
Verlagsgesellschaft, München-Berlin). Wir 
zweifeln nicht, daß dieser kurze, sachgemäße 
Hinweis für den hochverehrten Herausgeber 
Veranlassung sein wird, bei einer Neuauflage 
die betreffenden Artikel durch einen Fachge¬ 
lehrten um- oder wenigstens überarbeiten zu 
lassen, damit sein Musiklexikon auch in dieser 
Sparte über alles Lob erhaben sei. K. W. 


Riemann-Festschrift. Gesammelte 
Studien. Hugo Riemann zum sech¬ 
zigsten Geburtstage überreicht von 
Freunden und Schülern. Leipzig, 
Max Hesses Verlag, 1909. Preis 
M. 8.— 

Eine ungemein vielseitige und darum 
natürlich nicht ganz gleichwertige Sammlung, 
die aber immerhin manchen beachtenswerten 
Baustein zur Ästhetik, Theorie und Geschichte 
bringt Von kirchenmusikalischen Beiträgen 
seien hervorgehoben: Mocquerau und Beys- 
sac: „De la transcription sur lignes des no- 
tations neumatique et alphabötique ä propos 
du R&pons Tua sunt;“ H. A. Gaisser, „Die 
Antiphon Nativitas tua und ihr griechisches 
Vorbild;“ Fr. Ludwig, Die liturgischen Or¬ 
gana Leonins und Perotins; Hermann Müller, 
„Der Musiktraktat in dem Werke des Bar- 
tholomseus Anglicus De proprietatibus rerum;“ 
P. Runge, Maria muter reinü malt; K. Wein¬ 
mann, „Ein unbekannter Traktat des Johan¬ 
nes Tinctoris;“ M. Brenet, „Notes sur l’in- 
troduction des instruments dans les öglises 
de France.“ Es ist natürlich ausgeschlossen, 
hier auf diese, wie man sieht, meist Detail- 
fragen aus der mittelalterlichen Musikge¬ 
schichte behandelnden Studien näher einzu¬ 
gehen; so möge die Konstatierung genügen, 
daß sie in ihrer Gesamtheit eine Fülle inter¬ 
essanter neuer Gesichtspunkte erschließen. 
Die verhältnismäßig weitesten Linien spannt 
der Aufsatz von Friedrich Ludwig, „Die Or¬ 
gana von Leonin und Perotin,“ der eine sehr 
interessante, an historischen Schlaglichtern 
reiche Perspektive auf die Musikentwicklung 
des 13. Jahrhunderts, in deren Brennpunkt 
diese Werke stehen, eröffnet. 

Starnberg Dr. Eugen Schmitz 

Joseph Haydns handschriftliches 
Tagebuch ans der Zeit seines zwei¬ 
ten Aufenthaltes in London. Her¬ 
ausgegeben von J. E. Engl. 
Leipzig, 1909; Breitkopf & Härtel 
Preis M. 3.— 

Mit der vorliegenden Publikation hat das 
Salzburger Mozarteum eine dankenswerte Gabe 
zum Haydngedächtnisjahr beigesteuert. Das 
aus den handschriftlichen Schätzen der Anstalt 
von Archivar J. E. Engl veröffentlichte Tage¬ 
buch Haydns, das der Meister auf seiner 
zweiten Londoner Reise (4. Februar 1794 bis 

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186 


Kritiken und Referate 


15. August 1795) führte, ist ja an sich kein 
bahnbrechendes historisches Dokument; es 
bietet nicht etwa eine zusammenhängende 
autobiographische Schilderung jenes für Haydn 
so erfolgreichen Aufenthalts in der gastlichen 
Themsestadt, dessen Anregungen wir „Schöp¬ 
fung“ und »Jahreszeiten“ verdanken, sondern 
besteht nur aus zusammenhanglosen kurzen 
Notizen über künstlerische Erlebnisse, Schil¬ 
derungen von Reiseeindrücken, Anekdoten 
usw. Allein fehlt so dem Inhalt auch die or¬ 
ganische Einheit, so bietet das Ganze doch 
einen in seiner Art aufschlußreichen neuen 
Beitrag zur Erkenntnis der liebenswürdigen 
Künstler- und Menschennatur Haydns und 
wird schon aus diesem Grunde allen Freunden 
des Altmeisters eine liebe, werte Gabe sein. 
Ganz abgesehen davon aber enthält es auch 
manche kunst- und kulturgeschichtlich sehr 
interessante Aufschlüsse; Haydn war in Le¬ 
ben und Kunst ein scharfer Beobachter und 
bei aller Einfachheit und Bescheidenheit zur 
rechten Zeit auch ein schlagfertiger Kritiker. 
So überliefert uns sein Tagebuch u. a. eine 
Reihe köstlicher Glossen aus dem Musikleben 
und -treiben der vornehmen Londoner Welt; 
interessante Volkssitten und -bräuche werden 
gestreift, und auch manche politische Schlag¬ 
lichter fallen herein, so daß uns aus diesen 
schlichten, vergilbten Tagebuchblättern ein 
buntfarbiges, vielseitiges Bild entgegentritt, 
das seinen eigenartigsten Reiz durch die ge¬ 
niale Künstlerpersönlichkeit des Schreibers 
erhält. Die Textkritik erscheint, soweit sich 
dies ohne Kenntnis des Originals beurteilen 
läßt, vom Herausgeber mit Sorgfalt behan¬ 
delt Da auch die äußere Ausstattung des 
Büchleins, die ein gutes Porträt des Meisters 
und einige Faksimiles der Originalhandschrift 
bringt, sich sehr vorteilhaft gibt, wird es dem 
hübschen „Tagebuch“ am Beifall der Haydn¬ 
freunde nicht fehlen. 

Starnberg Dr. Eugen Schmitz 


Joseph Haydn und das Verlags¬ 
haus Artaria. Von Franz Artaria 
und Hugo Botstiber. Artaria & 
Co. Wien 1909. 

Joseph Haydn und Breitkopf & Här¬ 
tel. Von Hermann v. Hase. Breit¬ 
kopf & Härtel. Leipzig 1909. Preis 
M. 2.50. 

Es sind zwei musik- und kulturhistorisch 
interessante Beiträge, die die beiden Verlags¬ 


häuser mit vorstehenden Schriften zur heu¬ 
rigen Haydn-Zentenarfeier geboten haben. Na¬ 
mentlich die Publikation von Artaria bringt 
neben der Zusammenstellung des bereits in 
Nohls „Musikerbriefen“ und Pohls Haydn¬ 
biographie Veröffentlichtem manches seither 
noch unbekannte Briefmaterial des Meisters 
ans Tageslicht. Es kommt dabei neben dem 
originellen Gesamtbild auch viel neues, wenn¬ 
gleich nicht eben epochemachendes Detail zu¬ 
tage. Mit Artaria stand Haydn von 1779 
an bis zu seinem Tode (1809) in Geschäfts¬ 
verbindung. In den letzten zehn Jahren, als 
Österreich seit 1797 unter den Wirren der 
Napoleonischen Kriege litt, und infolgedessen 
natürlich auch der Musikalienhandel starke 
Einbuße erfuhr, hatten freilich die Beziehun¬ 
gen zu der Wiener Musikfirma die frühere 
Bedeutung verloren. Nun wurden Breitkopf 
& Härtel in Leipzig, mit denen Haydn erst¬ 
malig 1789 in geschäftliche Verbindung trat, 
Hauptverleger des Meisters. Diese Firma 
schickte nicht nur die populärsten Früchte 
von Haydns schaffensfrohem Alter, die „Schöp¬ 
fung“ und die „Jahreszeiten“ in die Welt, 
sondern betrieb damals bereits den Plan jener 
Gesamtausgabe der Haydnschen Werke, die 
nunmehr hundert Jahre später endlich zur 
Tat geworden ist. Auch die Breitkopf & Här- 
telsche Publikation bringt neues briefliches 
und sonstiges dokumentarisches Material, er¬ 
scheint somit als schätzbarer Quellenbeitrag 
zur Haydnbiographie. Man trifft dabei auf so 
manche zeitgeschichtlich interessante Notiz; 
wenn z. B. Haydn mit dem Verleger wegen 
des Honorars für sechs Sonaten „mit Akkom¬ 
pagnement“ unterhandelt, so erscheint diese 
Bezeichnung „mit Akkompagnement“ als eine 
deutliche und merkwürdige Erinnerung an 
das Generalbaßzeitalter, wo man auch bei 
Pianofortekompositionen oft nur Baß und Me¬ 
lodie notierte und die Ausfüllung der Mittel¬ 
stimmen — eben das „Akkompagnement“ — 
der Improvisation des Spielers überließ. Gegen 
Ende des 18. Jahrhunderts freilich waren diese 
Traditionen schon im Aussterben begriffen, 
und im Generalbaßspiel die Musikliebhaber 
nicht mehr so ferm wie ihre Väter und 
Urgroßväter: daher Hayndns Angebot von 
Sonaten mit „Akkompagnement.“ — Beide 
Schriften sind im übrigen auch mit reichem 
Bilder- und Faksimileschmuck versehen, re¬ 
präsentieren sich also äußerlich wie inhaltlich 
gleich vorteilhaft. 

Starnberg Dr. Eugen Schmitz 


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Kritiken und Referate 


187 


Mozart als achtjähriger Komponist. 
Ein Notenbuch Wolf gangs. Zum 
ersten Male vollständig und kritisch 
herausgegeben von Dr. Georg Schfi- 
nemann. Durchgesehene, verbesserte 
Ausgabe. Leipzig, Breitkopf & Här¬ 
tel. Preis M. 3.— 

Ein interessanter Quellenbeitrag zur viel¬ 
erörterten „Wunderkindsepoche“ des Gro߬ 
meisters hat das aus der Zeit von Mozarts 
Londoner Aufenthalt im Jahre 1764 stam¬ 
mende Skizzenheftchen bezüglich dieser seiner 
Bedeutung sehr stark abweichende Wertun¬ 
gen erfahren. Während der Herausgeber in 
der Vorrede meint, es kündige sich in den 
kleinen Tonstücken, die es enthält, schon der 
„fertige Mozart“ an, kommt ein, im übrigen 
sehr sachlich gehaltenes Referat der Zeitschr. 
der Intern. Musikgesch. Jahrg. X., Seite 181 f. 
zu dem entgegengesetzten Resultat, daß diese 
Publikation infolge der satztechnischen Un¬ 
sicherheit, die sie auf Schritt und Tritt ver¬ 
rät, ganz dazu angetan sei, die Tradition von 
Mozart, dem selbtschaffenden Wunderkind, 
zu zerstören. Beide Ansichten dürften wohl 
über das Ziel hinausgehen; die schroffe Ab¬ 
lehnung namentlich hat doch zu wenig berück¬ 
sichtigt, daß es sich bei den vorliegenden 
Stücken nicht um fertig ausgefeilte Kompo¬ 
sitionen, sondern größtenteils um ganz flüch¬ 
tig hingeworfene Skizzen handelt, worauf 
schon der Charakter der Handschrift hin¬ 
deutet. Daraus erklärt sich auch die große 
Ungleichwertigkeit des Ganzen, das höchst 
mangelhafte mit durchaus korrekten Stücken 
paart; die letzteren sind eben augenscheinlich 
sorgfältig ausgearbeitete Studien. Daß manche 
Stücke, wie z. B. namentlich die vom Her¬ 
ausgeber ziemlich ungerechtfertigt hervorge¬ 
hobene „Fuge“ noch starke Lücken in der 
satztechnischen Fertigkeit des jugendlichen 
Künstlers erkennen lassen, wird niemand be¬ 
streiten, aber bei einem achtjährigen Kind 
muß eben doch ein relativer Wertmaßstab 
angelegt werden. So manche Härten und 
Leerheiten des Satzes werden übrigens ver¬ 
schwinden, wenn man berücksichtigt, daß die 
Kompositionen noch dem Continuozeit- 
alter angehören, mithin auf improvisa¬ 
torische Ausfüllung derMittelstimmen 
gerechnet ist. Manchmal tritt neben dem 
klaviertechnischen auch ein ausgesprochen 
orchestraler Charakter zutage, so z. B. 


zu Anfang von Nr. 28. Von den knappen, 
an der Spitze der Publikation stehenden Stück¬ 
chen sind im übrigen manche in Erfindung 
und Ausführung so anmutig und reizvoll, 
daß sie, etwas bearbeitet, wohl als dankbare 
Unterhaltungsstückchen im jugendlichen Kla¬ 
vierunterricht Verwendung finden könnten. 
— Um die Editionstechnik zu beurteilen, 
müßte man das Original zur Hand haben; 
immerhin gewinnt man den Eindruck, als ob 
der Herausgeber in der Freude über seinen 
Fund manchmal es etwas an der nötigen kri¬ 
tischen Vorsicht habe mangeln lassen. Trotz¬ 
dem verdient er unseren Dank für die Ver¬ 
mittlung des Neudrucks, der, mag man über 
seinen speziell künstlerischen Wert denken 
wie man will, jedenfalls für alle Mozartfreunde 
von großem Interesse ist 
Starnberg Dr. Eugen Schmitz 


Cahn-Speyer Rudolf, Franz Seydel- 
mann als dramatischer Komponist 
301 Seiten. Leipzig, Breitkopf & Här¬ 
tel, 1909. Mk. 7.50 

Seydelmanns Name lebte vornehmlich in 
seinen Kirchenkompositionen fort. Nur ein 
Teil derselben ist auf uns gekommen, den 
das „chronologisch-bibliographische Verzeich¬ 
nis“ des vorliegenden Buches mit Angabe der 
Fundorte nennt. Der Verfasser macht jedoch 
nicht Seydelmanns Kirchenstücke, sondern 
dessen dramatische Musik zum Gegenstand 
seiner Forschungen. 

Zuerst bietet das Buch eine aktenmäßige 
„Lebensbeschreibung Seydelmanns“, wobei die 
Werke des Künstlers festgestellt werden. Der 
Verfasser bringt hierzu zahlreiches, neues 
Material bei und vermag auch auf das Dres¬ 
dener Musikleben jener Zeit, auf Naumann, 
Schuster und Paer interessante Streiflichter zu 
werfen. Hierauf erfahren die Singspiele und 
Opern Seydelmanns (die schöne Arsene, der 
lahme Husar, la serva scaltra, il capriccio cor- 
retto, la villanella di Misnia, il mostro ossia 
la gratitudine amore, il Turco in Italia, Amor 
per oro, Circ6) eine ausführliche Besprechung 
sowie Einstellung in die Operngeschichte. 
Hierbei unterscheidet aber der Verfasser zu 
wenig zwischen den einzelnen Richtungen der 
neapolitanischen Schulen (z. B. S. 51, 94/5) 
und hebt deren verschiedenartige Bestre¬ 
bungen nicht deutlich genug hervor, wie er 
auch mit den Traetta, Teratella, Jommelli zu 


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Kritiken und Referate 


wenig vertraut scheint. Darunter leiden 
manchmal etwas die Urteile. Nach Cahn- 
Speyers Darlegungen läßt die „Arsene“ eine 
„Verschmelzung deutscher und italienischer 
Stilelemente“ erkennen und gehört zu jenen 
deutschen Singspielen, die zur „Entstehung 
einer ernsten deutschen Oper beigetragen 
haben“ (S. 87/68). Der „lahme Husar“ nähert 
sich der „reinen Gattung des Singspiels“, 
wenngleich auch er sich nicht ganz den ita¬ 
lienischen Einflüssen entziehen kann (S. 69). 
In diesem Stücke interessiert die Romanze 
Michels („Im Schwabenland im Dorfe Styr“), 
in der die Begleitung mit Rücksicht auf den 
wechselnden Inhalt der einzelnen Strophen 
Wandlungen erfährt. Die „Serva scaltra“, die 
der Entstehung nach vor diese beiden Singspiele 
anzusetzen ist und als Frucht der italienischen 
Eindrücke gelten kann, zeigt keine persönlichen 
Züge. Ein hübsches Beispiel zur Geschichte 
des Leitmotivs findet sich bei den Urteilsaus¬ 
sprüchen der Magd (S. 75). Nur wenig kam 
in „il Capriccio corretto“ das Libretto dem 
Musiker entgegen. Wo aber dies der Fall 
war, da taute Seydelmann auf und schrieb 
„bedeutende und charakteristische Musik“ 
(S. 78). In bemerkenswerter Weise leitet hier 
die Ouvertüre in das 1. Rezitativ über und 
nimmt nach diesem wieder seinen Fortgang, 
wozu m. E. die Ouvertüre von Jommellis 
„Fetonte“ hätte in Vergleich gesetzt werden 
können. Im Accompagnato Anden reichere 
instrumentale Mittel Verwendung; „von dra¬ 
matischer Wucht“ ist das Rezitativ und die 
Arie Dilicatis erfüllt. Hübsche komische Wir¬ 
kungen, an denen auch das Orchester (Soli 
einer Violine und eines Kontrabasses) Anteil 
hat, treffen wir in den Partien Narcissos. Wie 
in dieser Oper, so übte auch in der „Villa- 
nella di Misnia“ der minderwertige Text auf 
die Komposition eine lähmende Wirkung aus. 
Auf einer ganz anderen Stufe stehen „il 
mostro“ und „il Turco in Italia“ hinsichtlich 
der Szenenkomposition, der Instrumentierung 
(Bläser) und der Chorbehandlung (S. 82). 
Während „Amor per oro“, in der wir eine 
Steigerung der Orchestertechnik bemerken, 
gegenüber diesen Stücken zurücktritt, erregen 
in der Solokantate „Circö“ die Accompagnati 
unser besonderes Interesse (S. 95). 

Nach den Opern behandelt der Verfasser 
Seydelmanns Lieder und Oratorien (la Betulia 
liberata, Gioas, Rö di Giuda, la morte d’Abele) 


von denen er ,4a morte d’Abele“ nicht tyir 
als das bedeutendste Werk, das der Künstler 
geschrieben, sondern auch als „eines der be¬ 
deutendsten Werke, die von der ganzen Hasse¬ 
seben Schule nach Hasses Tode hervorge¬ 
bracht worden sind“, erklärt (S. 99). In der 
„Zusammenfassung“ sucht der Verfasser ein 
Gesamtbild des Opernkomponisten Seydelmann 
zu entwerfen undmit besonderem Nachdruck des¬ 
sen Ausnahmestellung in Dresden hinsichtlich 
des deutschen Charakters der Opern darzutun. 

Im Anschluß an das bereits erwähnte 
„chronologisch - bibliographische Verzeichnis“ 
macht der Verfasser in diplomatisch getreuer 
Weise von einer Reihe von Aktenstücken aus 
dem Kgl. Hauptstaatsarchive in Dresden Mit¬ 
teilung. Von Seite 130 bis 301 reicht dann 
der gestochene Notenteil. Es wird vielleicht 
nicht an Stimmen fehlen, die sich gegen diesen 
überreichen Notenteil wenden werden. Gewiß 
könnte manche mitgeteilte Stelle in Wegfall 
kommen. Im Ganzen genommen aber müßte 
man m. E dem Verfasser Dank wissen, daß 
er Mühe und Opfer nicht gescheut hat, uns 
mit einem so umfangreichen, unbekannten 
Notenmaterial bekannt zu machen, das in den 
Stand setzt, uns auch selbst ein Urteil über 
Seydelmann zu bilden. Leider hat es der 
Verfasser unterlassen, der Buchausgabe seiner 
Arbeit ein Register beizugeben. 

Das Buch, das durch Theodor Kroyer an¬ 
geregt worden ist, hat als Dissertation gedient, 
und zeigt die Vorzüge der Münchener musik¬ 
wissenschaftlichen Schule. 

Marburg a. L. Dr. L. Schiedermalr 

Georg Böhm, Kantate „Mein Freund 
ist mein, und ich bin sein“. Bearbeitet 
von Rieh. Buchmayer. Leipzig, Breit¬ 
kopf & Härtel. 

Die von R. Buchmayer aufjgefundene 
Kantate hat auf dem letzten Bachfest in Chem¬ 
nitz ihre erste Neuaufführung erlebt und all¬ 
gemeines Entzücken hervorgerufen. Vier Solo¬ 
stimmen (Sopran, Alt, Baß, Tenor) singen in 
vier köstlichen Solostücken mit geradezu 
schwärmerischer Hingebung ihren Seelenbräu¬ 
tigam an; zwei prachtvolle Chöre mit Instru¬ 
mentalbegleitung rahmen ihre Sätze ein. Nun 
liegt endlich diese Perle alter Kantatenkunst 
in ausgezeichneter Bearbeitung und Einrich¬ 
tung fürs moderne Konzert vor. 

Leipzig Dr. A. Schering 


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Inhaltsverzeichnis 


Aufsätze 


Agostino Steffani. Biographische Seite 
Skizze von Dr. Alfred Einstein— 
München. 1 

Beiträge zur Geschichte des 
französischen Orgelspiels von 
Direktor Ernst v. Werra—Beuron. 37 


Surgit in hac die. Liturgisch-musi- 
kalische Studie zur Auferstehungs¬ 
feier in Böhmen von Prof. D. Orel— 

Prag. 50 


Kleine Beiträge 


Choralgesang und Kunstgesang 
von Dr. H. Löbmann—Leipzig. 05 

Die Sektion für Kirchenmusik 
auf dem 111. Kongreß der Inter¬ 
nationalen Musikgesellschaft 
in Wien 1909. 104 

Alte und moderne Kirchenmu¬ 
sik. Historisch-kritische Bemerk¬ 
ungen zur Theorie und Praxis vom 
Herausgeber. 107 

Zur Urgeschichte des deutschen 
Kirchenliedes von Professor Dr. 

H. Müller—Paderborn. 113 

Ober gregorian. Choralgesang. 117 

Zur Geschichtedes altrussischen 
Kirchengesanges von Professor 
Dr. P. Wagner—Freiburg (Schw.). 123 


Ein musikalischer Besuch in 
deutschen Lehrerseminarien 
von Dr. A. Möhler—Steinhausen. 130 

Die Generalversammlungen des 
Cäcilienvereins von P. R.Johandl 
—Göttweig. 139 

Was tut unserer Kirchenmusik 
vor allem not? (Wiener „Kongress- 
Bericht“). 144 

Der kirchenmusikalische In¬ 
struktions-Kurs in Pilsen 1909 
von P. V. Vacek—Tepl. 145 

Papst Gregor der Große ein Ire? 
von Dr. Grattan Flood—Enniscorthy 
(Irland). 147 


Kritiken und Referate 

I. Musik-Werke 


Denkmäler deutscher Tonkunst. Erste 
Folge, Band XXXIV. — Neve 
Deudsche Geistliche Gesenge 
für die gemeinen Schulen. 
Herausgegeben von Johannes 
Wolf. (Univ.-Doz. Dr. Schering- 
Leipzig). 148 

Denkmäler der Tonkunst in Österreich. 

XVI. Jahrgang.Erster Teil. Heinrich 
Isaac,Choralis ConstantinusII. 
Herausgegeben v. Anton v. Webern. 
Denkmäler der Tonkunst in Österreich. 149 
XVI. Jahrgang. Zweiter Teil. Johann 
Albrechtsberger, Instrumen¬ 
talwerke. Herausgegeben von Oskar 
Kapp. (Univ.-Doz. Dr. Schmitz- 
Starnberg). 150 

Orlando di Lasso. Sämtliche Werke. 

19. Band. Herausgegeben von F. X. 
Haberl. 152 


Werke von Jakob Obrecht 1.&2. 

Heft Herausgegeben von Johannes 
Wolf. 154 

Heinrich Schütz. Historia von 
der Geburt Jesu Christi. He¬ 
rausgegeben von Arnold Schering. 

(Dr. Leichtentritt—Berlin). 157 

P. Hartmann von An der Lan- 
Hochbrunn. Septem ultima 
verba Christi in cruce. Ora¬ 
torium in zwei Teilen. (Univ.-Doz. 

Dr. Schmitz—Starnberg). 150 

Gauss Otto. Orgelkompositionen 
aus alter undneuer Zeit. I.—111. 

Band. 159 

Diebold Johannes. Orgelstücke 
moderner Meister. I.—III. Band. 

(Der Herausgeber). 150 


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(90 


Inhaltsverzeichnis 


U. Bücher und Schrift*« 


Cboralbücber. 

Ritus Miss« ecclesiarunt orien- 
taiium ed. Maximilianus, Prioc. 
Reg, Saxonum Dux I.—V. Fase; 

Riemenn Hugo, Dte byzantinische 
Notenschrift im 10 —15. Jahrhundert. 
(Univ>Prof. Dr- Wagner — Freibure 
SehwJ 

A tnbros-Ceiehren«»».. Geschichte 
der Musik IV- Band- 

Cesarl/Gaefanb» Die Entstehung 
dSsMftdrigsisira 10. (Dr. Ein- 

stem-MSneheo). 

Lejehientritt H., Geschichte der 
Motette;. '(yniv.-tte®, Dr. Schering— 
Leipzig). 

der Gregor. 
Aksdeffiia in Fr ei borg (Schw.) 

III. Heft, Dr, Mgrxeiri Zur Spät- 
mittelalterlichen Choralgeschichte 
St. Gallerts. 

IV. Heft, Dr. Leineweber, Das Gra¬ 
duate Junta 1611. (P. ViveJI 0,S. B. 
Seckau). 

Sammlung Kirchenmusik. 

I. Öd 0 Weidmann, Karl Proste. 

11. „ W a g ner, EJeroentedes gregor. 

Gesanges. 

III. Bd., Johner 0. S. B., Cantus ee- 
etesiasttej (Prof. Dr. Scherer^- 
RegensbUrg). 

Bach-Jahrbuch 1808. (Dr, Schmit 2 — 
Starnberg). ' 


Jahrbuch der Musikbibliothek 
Peters 1908 . 

Jahrbuch der Zeit- und Kultur¬ 
geschichte I9C®. 

Möbler-Gaus», Kompendium der 
kÄÖihi, KifCbenmasik. 

Springer The art ofaccompanying 
plaia eftant. -/ ’.y V.v‘ : . 

Missa)* Roman um. 

Schote, Das Meßbuch der bl. Kirche. 

Wehef> Bectöovetts Missa solemnis. 

M oe s ma n ^ Geschichte der Altöufnger 
Stifts- and Kapellmusik. . . ; 

Franke, Theorie und Praxis des har¬ 
monischen Torieatzes, 

Riemaan, MuHktexikp». (DerHeraus¬ 
geber). 

R icm an r,. Festschrift 

Engl, jös. Haydns haiateehriftl. Tage¬ 
buch. 

Ärtan'a-Botstiber, Job; Haydn und 
das Veriagshaus Arten». 

Hase v-, Jos. Haydn und Breitkopf & 
Härtel. 

Sch üoemantt, Mozart als achtjähriger 
Komponist. (Dr. Schmitz—Starnberg). 

Gähn-Speyer, Franz Seydeltnanu als 
dramatischer Komponist. (Univ.-Doz. 
Dr. Schiederaiatr -Marburg}. 

Böhm, Kantate. (L’oiv.-Doz. Dr. Sche¬ 
ring--Leipzig). 


An die H. H. Mitarbeiter 

Einsendungen (Aufsätze. Kleine Beitrage, Kritiken und Referate) für 
den 24. Jahrgang 1911 mögen bis l. Oktober 1910 erfolgen: 

An die Redaktion des Kircheumusikaiischen Jahrbuchs 
Dr. Kart Wefmitänn, Regenaburg, Aibertstra&e TI. 



Co gli 





Anzeigen zum Kirchenmusikalischen Jahrbuch 


Verlag von Friedrich Pustet in Regensburg: 


PIUS X. 


Ein Lebensbild 

nach der italienischen Originalausgabe 
von Dr. Luigi Daelli. 

Übersetzt und fortgeführt 

von Dr. Gottfried Brunner, 

Professor am Kollegium der Propaganda in Rom. 

In reich koloriertem Umschlag geheftet JH 6.— 

In Original-Kaliko-Einband mit Reliefpressung M 8.— 

An Stelle jeder weiteren Anpreisung dieses Papstbuches 
bringt die Verlagshandlung nachstehend die empfehlenden Worte 
Sr. Exzellenz des Hochwürdigsten Herrn Bisohofs von Regens¬ 
burg zum Abdruck, mit denen Hochderselbe das Buch einzuführen 
die Gnade hatte: 

Die Verlagsanstalt Pustet hat mich gebeten, dem Buche einige 
empfehlende Worte mit auf den Weg zu geben. Es soll mir nicht schwer 
fallen. 

Es hat einmal jemand gesagt, immer habe er gefunden, daß ein Buch sich 
am besten und ganz vorzugsweise zum Geschenke eigne; denn immer wieder 
kehre man, und zwar in besonders guter Stunde, zu ihm zurück und immer 
wieder erinnere man sich mit besonderer Freude des freundlichen Gebers. 

Dies kann nun freilich nicht von jedem Buche gesagt werden, sondern nur 
vom guten Buche. Das Buch muß einen wirklich edlen seelischen Genuß 
bereiten. Es muß in uns das Gefühl eines seligen Momentes zurücklassen. 

Ein solches Buch ist das vorliegende Papstbuch. Was uns an dem 
Bache besonders anspricht, ist die Naturtreue und die Frische der Darstellung. 
Alles ist mit weicher, warmer Feder geschrieben. Der Verfasser nennt es 
ein Lebensbild. Das trifft auf jedem Blatte zu. Zug um Zug ist es dem 
Leben abgelauscht. Nichts Überschwengliches, nichts Aufdringliches, nichts 
die Bescheidenheit Verletzendes, kein Hauch von bloßer Phantasie findet sich 
in ihm. Der Verfasser will nur schildern, was er, was andere, was Bekannte, 
Verwandte, Freunde, Altersgenossen des Gefeierten als kostbare Erinnerungen 
aus dem Leben mit sich herumtragen. Und darum ist die Schüderung so 
unmittelbar und partienweise so rührend und ergreifend, daß das Herz sich 
unwillkürlich dem Manne zuneigt, der selbst alle Herzen elektrisiert. 

Wir werden deshalb nicht fehlgehen, wenn wir das Buch zu dem 
Besten zählen, was bisher über das Leben des Heiligen Vaters erschienen 
ist. Was dann seinen Wert noch besonders erhöht, ist der überaus reiche 
Bilderschmuck. Wir zählen über 200 Illustrationen, ein wahres Panorama 
für alt und jung. 

So liegt denn der WunBch nahe und ihm sei hiemit lebhaft Aufdruck 


Verehrung hat es geschaffen, Liebe und Verehrung möge es wecken allüber¬ 
all, wo die Hand des Heiligen Vaters segnend ruht! 

Regensburg, den 28. Oktober 1908. 

f Antonius, Bischof von Regensburg. 


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Vorzügliche Orgelliteratur. 


In ttnserm Verlage erschien: 

Klassisches Prima-Vista-Album. MÄSÄ 

Orgel oder Harmonium von W. Wilden, op. 7. 5 M. 

„Ein praktisches Werk für jeden Orgelspieler, insbesondere für jene, denen 
die Gabe des freien Phantasierens nur in geringem Maße beschieden ist, und denen 
technische Fertigkeit noch abgeht.“ („Schles. Volksztg.“) 


4A Tnnc+ftrl/ö in den gebräuchlichsten Dur- und Moll- 

OU IvIUliw 1 UU 0 IUWK.C tonarten für Orgel oder Harmonium von 
J. Spanke. 2.40 M. 

„Äußerst empfehlenswerte kurze Tonstückchen zum Abspielen. Würdig, 
ernst und lieblich zum Anhören, sind sehr würdig.“ („Cäcilia“, Straßburg.) 

PlPYlA Or^flA 68 Festvor- und -nachspiele für die Orgel ge- 
I IvllU V/I gäUU« sammelt und heraisgegeben von A. Jos. Monar, 
op. 15. 6.50 M. 

„Diese Sammlung längerer, feierlicher Orgelstücke, von lebenden, rühmlichst 
bekannten Kirchenkomponisten, gehört zum Besten, was die kath. Orgelliteratur 
besitzt . . . tt („Nord-Amerika.“) 

= Verzeichnis wertvoller Kirchenmusikalien = 

gratis und franko. 

Jnnlermaimsctie Bncbhandlnng, Paderborn. 


figt Die wirkungsvollsten Festspiele S3 

zur Auffahrung mit lebenden Bildern 
sind Domkapitular H. F. Müllers 

Oratorien und geistlichen Festspiele. 

jfG* Bereits in über 8000 Städten mit großartigem Erfolge aufgeführt. 

Klavierauszüge bereitwilligst znr Ansicht. 

Fulda. Alois Maier 

Königl. Hof - Musikverlagshandlung. 


In jedem Klause, wo gute Musik gepflegt wird, sollte auch eine 

= HAUS-ORGEL == 

(Harmonium, amerik. Saugsystem) zu finden sein. 

Herrlicher Orgelton. Prächtige Ausstattung. 

«— Preise von 78 Hark an. — 

Illustrierte Kataloge gratis. 

Alois Maler, königl. Hoflieferant, Fulda (Gegr. 1846). 

Prospekte auch über den neuen Harmonium-Spiel*Apparat (Preis mit N otenheft 
von 906 Stücken nur 80 Mk .), mit dem jedermann ohne Notenkenntnis sofort 4stimmig 

Harmonium spielen kann. 











Kostbare alte Musikwerke. 

In dem vor kurzem erschienenen Katalog 121: „Musik" finden Musikfreunde eine 
schOne Auswahl von Nenmenmanuskripten des 12. und ff. Jahrh., frühen Notendrücken 
hymnolog. Werken, kostbaren liturgischen Büchern, kirchl. und weltl. Liedern mit 
Musik, Werken deutscher Literatur mit Musikbellagen, Autographen, Manuskripten, 
darunter grossere Kompositionen, von: 

Mozart, Wagner, Liszt 

Viele sehr seltene nnd kostbare Stücke. n s Katolog frei und unberechnet. 

München, Hildegardstraße 14. 

Ludwig Rosenthal’s Antiquariat. 


Verlag von W. Sulzbach (Inh. Peter Limbach) Berlin W. 57. 

Missa Vestiva i Colli 

a 8 voci 

von Ruggiero Giovanelli (cc 1560—1625) 

für den praktischen Gebrauch 

herausgegeben von Herman-Walther Frey. 

—— Partitur 3 M, die 4 Stimmen (jede 30 <3() 1 Jl 20 -ij. ■ ■ ■ ■ » ■■ 

Dieses Meisterwerk Giovanellis, welches handschriftlich in einer Kopie aus dem Jahre 1786 
(Archiv der Sixtinischen Kapelle Cod. 122) überliefert ist, erscheint jetzt zum erstenmal im Druck 
und wird dadurch allen eimgermassen leistungsfähigen Kirchenchören zugänglich gemacht 

Zu beziehen durch alle Musikalien- und Buchhandlungen, sowie direkt von der Verlagshandlung. 


❖ ❖ ❖ Verlag von Friedrich Pustet in Regensburg, •> 

zu beziehen durch alle Buchhandlungen: 


Die heilige Cäcilia, 

Jungfrau und Märtyrerin. 
Verfaßt von Dr. P. A. Kirsch. 
:: Reich illustriert. :: Klein-4 0 . :: 
In feinem Leinwandband mit Gold* 
:: schnitt Mk. 6.—. :: 




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Dr. Franz Witt, 

Gründer und 1. Generalpräses des 
Cäcilien-Vereins. Ein Lebensbild. 
Von Dr. Anton Walter. Mit dem 
Bildnisse Dr. Witts. 2. Auflage. 8°. 
:: In Halbchagrinband Mk. 3.—. :: 


Choral-Wandtafeln 

zur Erlernung des vatikanischen 
Choralgesanges von P. Dom. 
Johner, O. S. B. 

Preis der drei Tafeln unaufgezogen 
zusammen Mk. 2.40; aufgezogen auf 
2 Leinwandtafeln mit Stäben (Format 
:: 100x98 cm.) zusammen Mk. 5.80. :: 

Eine Anleitung zum praktischen Ge¬ 
brauche derselben wird jeder Bestellung 
:: unberechnet beigefügt. :: 


Theoretisch-praktische 

Harmoniumschule 

für den kirchlichen Gebrauch mit über 
300 leichten Vorspielen etc. in allen Ton¬ 
arten und den Begleitungen zu den Meß- 
und Vesper-Responsorien, Präfationen, 
Pater noster, Psalmtönen, Asperges, Vidi 
aquam, O salutaris, Tantum ergo und 
Veni Creator. Von J. Singenberger. 
5., vermehrte und verbesserte Auflage. 
Hoch-4°. M. 6.—, in Leinwandbd. M. 8.—. 



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Verlag von Friedrich Pustet in Regensburg: 

£ Früher Mk. 20.— f In Originalleinwandband, f Jetzt Mk. 10.— f 

8« Deutsche Choral-Wiegendrucke *> 

von P. R. Molitor (0. S. B.). 

Ein Beitrag zur Geschichte des Chorals und des Notendruckes in Deutschland. 
Gr.-4 # . Mit 20 polychromen Tafeln, einer Photogravüre und 72 Seiten Text. 

Für das Studium der Inkunabeln und für die Geschichte des Chorals ist dieses Werk 
von großer Bedeutung. 

-- 


Von höchstem Interesse für alle Freunde klassischer Kirchenmusik 1 

sa Sammlung ss 

ausgezeichneter Kompositionen für die Kirche 

von Stephan Lück, Domkapitular. 

Neu herausgegeben von Michael Hermesdorff und Heinrich Oberhoffer. 

Vier Bände. Kl.-Quart in prachtvoller Ausstattung. 

Band I enthaltend 0 vierstimmige Messen. 160 & Mk. 2.40. 

„ 11 enthaltend 9 drek vier- und sechsstimmige Messen. 184 S. Mk. 2.40. 

„ UI enthaltend 44 drei-, vier-, fünf-, sechs-, acht- und neunstimmige Motetten. 192 S. Mk. 2.40. 

„ IV enthaltend 47 vier-, fünf- und sechsstimmige Motetten. 232 5. Mk. 2.40. 

Das ganze Werk in 2 Bände gebunden Mk. 12.—. & Jeder Band ist auch apart zu haben, ff 

Die ersten 2 Auflagen dieser herrlichen Sammlung waten in auffallend kurzer Zeit ver¬ 
griffen, wozu die warme Empfehlung vieler Hochw. Herren Bischöfe beigetragen hat. 


Von den früheren durch Herrn Dr. F. X. Haberl 
herausgegebenen, hochinteressanten Jahrgängen des 
Kirchenmusikalischen Jahrbuches sind noch vorhanden 
und werden zu den nachstehenden antiquarischen 
Preisen verkauft: 


Die Jahrgänge 

1876 bis 1883 und 

1885 

für Mk. 

5.50 

tt ft 

1886 „ 1889 


n 

n 

4.50 

tt rt 

1893 „ 1897 


ft 

rt 

6- 

ff ff 

1898 „ 1901 


v 

tt 

6.— 

ft ff 

1902 „ 1905 und 
- OHO —- 

1907 

tt 

rt 

7.50 


Die Jahrgänge 1908 (XXI. Jahrg.) und 1909 (XXII. Jahrg.), 
herausgegeben von Dr. K. Wein mann werden geneigter Ab¬ 
nahme empfohlen. 


Preis jeden Jahrganges Mk. 3.40, in Leinwandband Mk. 4.— 


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Neue römische Choralbücher 

(Editio Vaticana) 

und darauf bezügliche Literatur aus dem Verlage von 

Friedrich Pustet in Regensburg. 


Qraduale S. Roman« Ecclesia? SS. D. N. Pii X. Pont Max. 
jussu restitutum et editum. Edit. Ratisbon. juxta Vaticanam. 928 S. 
in 8°. ln solidem Halbfranzband mit Rotschnitt Mk. 6.— 

Kyriale seu Ordinarium Missae cum Missa pro Defunctis 
juxta ed. Vaticanam. Ed. VI. 8®. rv und 124 S. In Leinwandband 1.30 

Kyriale parvum sive Ordinarium Missae ex ed. Vaticana a SS. D. N. 

Pio PP. X. evulgata excerptum. 48 S. in 12°. In Leinwandband —.50 

Commune Sanctorum juxta ed. Vaticanam a SS. D. N. Pio PP. X. 
evulgatam. 82 Seiten in 8 °. In Leinwandband 0.90 

Missa pro Defunctis, Toni Communes Missae necnon Modus can- 
tandi Alleluja tempore Paschali secundum octo Tonos juxta ed. Vati¬ 
canam a SS. D. N. Pio PP. X. evulgatam. IV und 36 Seiten in 8*. 

In Leinwand kartoniert 0.45 

Organum comitans ad Kyriale seu Ordinarium Missae 
etad Missam pro Defunctis, quod juxta ed.Vaticanam harmon. omavit 
Dr. Fr. X. Mathias. 152 Seiten in Hoch-Quart. In Halbfranzband 6.30 

Organum comitans ad Commune Sanctorum, auctore 
Dr. Fr. X. Mathias. 124 S. in Hoch-Quart In Halbfranzband 4.70 

Gradualbuch. Auszug aus der Editio Vaticana mit Choralnoten, 
Violinschlüssel, geeigneter Transposition, Übersetzung der Texte und 
Rubriken, herausgegeben von Dr. K. Weinmann. IV und 658 Seiten 
in 8°. In Doppelleinwandband mit Rotschnitt 4.— 

In Halbchagrinband „ „ 4.60 

Epitome ex Editione Vaticana Gradualis Romani von 

Dr. Fr. X. Mathias. Ausgabe auf 5 Linien in moderner Notation. 

XXIV und 1098 Seiten in 12®. In Halbfranzband 5.60 

Kyriale seu Ordinarium Miss« et Missa pro Defunctis. (Mit 
moderner Notation.) Ed. VII. 140 Seiten. Von Dr. Fr. X. Mathias. 

In Leinwandband 1.10 

-Dasselbe. Komplette Volksausgabe. 248 Seiten in Taschen¬ 
format (32°). In Leinwand kartoniert —.50 

Officium pro Defunctis cum Missa et Absolutione nec non Exse- 
quiarum ördine. Ed. Ratisb. juxta Vatic. 96 S. in 8°. In Leinwandb. 1.- 

-Dasselbe. Ausgabe in moderner Notation von Dr. Fr. X. Mathias. 

In Leinwandband 1.— 

Johner P. Dom. O. S. B., Neue Schule des gregorianischen Choral¬ 
gesanges. 314 Seiten in 8°. In Leinwandband 2.65 

Französische, englische, italienische Ausgabe sum gleichen Preis. 

-Cantus Ecclesiastid juxta editionem Vaticanam. 

In Leinen kartoniert Mk. 0.80; in Original-Leinwandband 1.— 


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Ein neues Verlags-Unternehmen 

der Firma Friedrich Pustet in Regensburg: 

Sammlung „Kirchenmusik“ 

herausgegeben von Dr. Earl Weinmann. 

Die Sammlung „Kirchenmusik“ will bei der Überproduktion auf kompo¬ 
sitorischem Gebiete durch kurzgefaßte, billige Handbücher einfuhren in Theorie 
und Praxis der Kirchenmusik und so die hohen Ideale verwirklichen helfen, 
die Papst Pius X. in seinem Motu proprio vom 22. November 1903 vorgezeichnet 
hat Was man sonst nur mühsam und zerstreut findet, soll in der S. K. durch 
erprobte Fachmänner nach einheitlichem Plan zusammengestellt werden. Die 
8. IL wird demgemäß enthalten: Lehrbücher für Theorie und Praxis, Einführung 
in die Schönheit kirchlicher Liturgie und Kunst, Biographien hervorragender 
Kirchenmusiker zur Nachahmung und Begeisterung. 

Was die Eigenart der S. K. richtunggebend bestimmt, ist: praktisch¬ 
handlicher Charakter, wissenschaftliche, der neuesten Forschung entsprechende 
Korrektheit, prägnante Kürze und lebensvolle, populäre Darstellung. Jedes 
Bändchen ist in sich abgeschlossen: alle vereint sollen eine erschöpfende 
„Kirchenmusikalische Handbibliothek* 4 bilden. 


Bereits erschienen sind: 

Karl Proske, der Restaurator der klassischen Kirchenmusik. 
Vom Herausgeber. 

Mit diesem Bändchen eröffnet© der bekannte Regensburger Musikgelehrte 
Dr. Weinmann die vielversprechende Sammlung „Kirchenmusik“. Wir begrüßen 
es mit ganz besonderer Freude, daß gerade eine Aufzeichnung des so reich be¬ 
wegten Lebens des in den Annalen der Geschichte der Kirchenmusik epoche¬ 
machenden Kanonikus Dr. Proske (1794—1861) an der Spitze steht. Trotz der 
bereits veröffentlichten Biographien ist die vorliegende, von Meisterhand ge¬ 
schriebene und von jedem trockenen Gelehrten staub freie Arbeit keineswegs 
überflüssig. Die noble Ausstattung und die sehr fein ausgeführten Bilder und 
Faksimiles erhöhen den Wert des Ganzen. Vivant sequentes. 

K. Walter, Montabaur, im Gregoriusblatt, Düsseldorf. 

Elemente des Gregorianischen Gesanges. Zur Ein- 

führung in die Vatikanische Choralausgabe. Von Universitätspro¬ 
fessor Dr. Peter Wagner, Freiburg (Schweiz). 

In diesem billigen Büchlein gibt der bekannte Choralforscher und -Schrift¬ 
steller, Dr. Wagner, Professor an der katholischen Universität zu Freiburg in 
der Schweiz, in aller Kürze dem Lernbegierigen das Notwendige und Wissens¬ 
werte über den Gesang der Kirche zum Studium. Ich wüßte nichts Besseres 
und Kurzgefaßteres auf diesem Gebiete in solcher Vollständigkeit und Klarheit 
bei Vermeidung jeder Weitschweifigkeit, als diese „Elemente des gregorianischen 
Gesanges“. H. Tappert in Ohio Waisenfreund, Columbus, 1909. 

Cantus Ecclesiastici juxta editionem Vaticanam quod ad 
usum Clericorum collegit et illustravit P. Dom. John er 0. S. B. 
Monachus Beuronensis. 

Kompendium der Notenschriftkunde von Dr. phii. et 

' mus. Hugo Biemann t Prof. d. Musikwissenschaft a. d. Univer¬ 
sität Leipzig. Mit 20 Übungsbeispielen zum Übertragen. 
(Doppelb&ndchen, Preis geb. 2 Jt.) 

Preis eines Einzel-Bändchens gebunden 1 Mark. 

. Weitere Bändchen sind in Vorbereitung. 

Sie« MR *MlM t JUs«n*t>»n« 



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